Apr 17, 2014 19:17
So leben wir
Max Weber, vor 150 Jahren geboren, ist weltweit einer der einflussreichsten deutschen Denker. Seine Begriffe werden bis heute zur Erklärung der modernen Gesellschaft gebraucht.
Die Gesellschaft der Gegenwart erklären, wie sie entstand und wie sie funktioniert - dabei kommt keiner ohne Max Weber aus. Weber schrieb selbst über „Soziologische Grundbegriffe“, doch seine wirksamen Begriffe und Theorien erstrecken sich über sein gesamtes, voluminöses Werk. Am Ostermontag jährt sich Webers Geburtstag zum 150. Mal. Zum Jubiläum folgt hier eine Auswahl an Wörtern und Gedanken, die ganze Bibliotheken an Forschungsliteratur angeregt haben - und die bis heute so beliebt wie aktuell sind.
Charisma
Das Charisma ist der Begriff, dessen Karriere im 20. Jahrhundert ohne die „drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ von Weber weniger glanzvoll verlaufen wäre. Er kommt aus der spätantiken Religionsgeschichte und meint die göttliche Begabung - „Gnadengabe“ - des Offenbarungsträgers, des Propheten. Von dort aus erweitert Weber den Begriff auf Krieg und Politik. Doch so kühl die definitorische Sachlichkeit des Herrschaftssoziologen daherkommt, so sehr beginnen seine Formulierungen auf einmal zu singen: „Das ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene und die emotionale Hingenommenheit dadurch sind hier Quellen persönlicher Hingebung. Der Herrschaftsverband ist die Vergemeinschaftung in der Gemeinde oder Gefolgschaft. Der Typus des Befehlenden ist der Führer. Der Typus des Gehorchenden ist der „,Jünger‘“.
Nicht das Ewiggestrige überlieferter Sitte und nicht Gesetze und Verfahren begründen hier Herrschaft, sondern Hingabe und Vertrauen für einen besonderen Menschen. Das Wort „Begabung“ hat hier einen Vollklang, der es weit über bloßes Talent oder Professionalität hinaushebt. Charismatische Redner haben das zündende Wort, so wie charismatische Heerführer den rechten Moment in der Schlacht erkennen. Der Rockstar und der DJ brauchen Charisma als Berufsqualifikation.
Das Schlüsselwort ist „außerwerktäglich“: Hier kann es keine Routine, kein Debattieren und schon gar nicht den Verweis darauf geben, das habe man schon immer so gemacht. Unterm Charismatiker wird nicht gewählt, sondern enthusiastisch zugestimmt. Politik wird zu einer Kette großer Auftritte und überraschender Volten. Perikles, Napoleon, Bismarck - die großen Eroberer und Redner sind es, die Weber vor Augen stehen, aber natürlich auch Jesus oder Mohammed. Das Pathos kann sich bis zu Wut und Raserei, ja zum „Berserkertum“ steigern.
All das formulierte Weber, bevor irgendjemand den Namen Hitlers gehört hatte, aber schon bei Weber ist etwas vom Grellen, Aufgeputschten zu spüren, an das charismatische Herrschaft ihr Publikum gewöhnt. Doch der Führer ist, so gewaltig er sich bläht, auch eine schwache Figur: Immerzu muss er sich „beweisen“. Jeder Misserfolg kann zu stöhnender Abwendung führen. Weber hat mit divinatorischer Sicherheit ein Schlüsselwort seines Jahrhunderts gefunden, das viele Bedürfnisse ansprach: die Not der Verängstigten und den Ekel vor der Mittelmäßigkeit. Dass man „ein Gesicht nicht mehr sehen kann“, ist eine Formulierung, die bis heute zeigt, wie charismabedürftig selbst ausgenüchterte Demokraten geblieben sind. Gustav Seibt
Beruf
Es dürfte schwer fallen, täglich seiner Arbeit nachzugehen, ohne sie sittlich zu qualifizieren, ihr einen Nutzen für andere und sich zuzusprechen. Doch reicht das, um von einem „Beruf“ zu reden? Es klinge in diesem Wort, schreibt Max Weber, eine „religiöse Vorstellung“ mit: „die einer von Gott gestellten Aufgabe“. Im heutigen Sinn stamme es aus den Bibelübersetzungen. Wer Gott wohlgefällig leben will, hat nur den Weg, die innerweltlichen Pflichten zu erfüllen, die sich aus seiner Lebensstellung ergeben. Eben dadurch wird sie sein „Beruf“. Dieses Wort hat für Weber entscheidende Bedeutung. Bemerkungen über „Luthers Berufskonzeption“ führen ihn zur Klärung der Aufgabe seiner Untersuchung über „Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“. Seine beiden berühmtesten Vorträge tragen das Wort im Titel: „Wissenschaft als Beruf“ (1917) und „Politik als Beruf“ (1919).
Webers Luther bleibt in der Berufsfrage unentschieden, „traditionalistisch gebunden“. Dass der Beruf das sei, „was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen habe“ übertöne den anderen Gedanken: dass Berufsarbeit „die von Gott gestellte Aufgabe sei“.
Webers fulminanter Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ scheint ähnlich unentschieden: fasziniert vom System amerikanischer Universitäten mit den unbestreitbaren Vorzügen bürokratisierter Betriebe, und doch „traditionalistisch gebunden“ an die deutschen Verhältnisse und an ein geistesaristokratisches Verständnis von Wissenschaft. Der Vortrag eignet sich bestens, jedem Anfänger die Lust auf eine akademische Laufbahn auszutreiben: Wer seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen muss, ist hier falsch, die Karriere „einfach Hazard“. Jahrelang sieht man „Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit“ an sich vorbeiziehen. Das verdirbt und verbittert die meisten. Der Standardantwort auf solche realistischen Befunde - macht nichts, ich lebe nur meinem „Beruf“ - misstraut Weber, aber er schildert dann den „inneren Beruf“ zur Wissenschaft in einem so strahlenden Grau, dass jeder glauben muss, hier Held werden zu können, in Hingabe an den Gott der Wissenschaft. Zwar führt sie nicht zu Wahrheit und Freiheit und frustriert all jene, die Lebensprobleme behandelt sehen wollen, aber sie erlaubt es, ein heroisches Ethos auszubilden und ihm zu folgen. Man tut etwas, um seiner selbst willen. Ob ein „Job“ sich lange ertragen lässt, wenn solche Berufsvorstellungen nicht wenigstens mitklingen? Jens Bisky
Bürokratie
Jeder, der in einer Behörde schon einmal scheinbar endlos gewartet hat, um schließlich zwei Sekunden an einem tristen grauen Schreibtisch zu sitzen, eine Unterschrift zu leisten und wieder zum Warten rausgeschickt zu werden - jeder, der das kennt, ballt beim Thema Bürokratie die Faust in der Tasche. Eine gutes Gegengift ist - wie bei so manchen vertrackten Fragen, die die moderne Massendemokratie aufwirft - die Lektüre von Max Webers Herrschafts-Analyse in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Gegenüber traditionaler und charismatischer Herrschaft skizziert er die professionalisierte Verwaltung dort als „reinsten Typus“ der legalen Herrschaft (Bürokratismus attestiert Weber übrigens auch kapitalistischen Privatunternehmen, und zwar desto mehr, je größer sie sind). In Rechtsfragen herrschten dann nicht Willkür, Gnade und Gunst. Vielmehr stehe hinter „jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung“ ein System rational diskutabler Gründe, weil ausgebildete und fachkundige Beamte bei ihrer Amtsführung feststehenden Regeln und Normen folgten.
Man darf diese Ausführungen nicht, wie es gelegentlich der Fall ist, als Apologie missverstehen. Der große „Verlustebilanzierer“ (Jürgen Kaube) Weber hatte ein feines Gespür für die Probleme bürokratischer Herrschaft. In den politischen Schriften ist das unübersehbar, wenn er von der Bürokratie als „Maschinerie“ spricht und fordert, „einen Rest des Menschtums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale“. Aber auch schon in „Wirtschaft und Gesellschaft“ steht außer Frage, dass die Tatsache, dass eine „einmal voll durchgeführte Bürokratie“ zu den „am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden“ gehört, eine dunkle Kehrseite hat: „Die objektive Unentbehrlichkeit des einmal bestehenden Apparats in Verbindung mit der ihm eigenen ,Unpersönlichkeit‘ bringt es (...) mit sich, daß er - im Gegensatz zu den feudalen, auf persönlicher Pietät ruhenden Ordnungen - sich sehr leicht bereit findet, für jeden zu arbeiten, der sich der Herrschaft über ihn einmal zu bemächtigen gewußt hat.“ Keine zwei Jahrzehnte, nachdem diese Sätze notiert worden waren, bewies die straff verwaltete Nazi-Herrschaft ihre bittere Wahrheit. Jens-Christian Rabe
Verantwortung
Bemisst sich der moralische Wert einer Handlungsweise allein daran, welche Folgen sie hat? Oder kommt es vor allem auf die Motive an, die ihr zugrunde liegen? Die Unterscheidung zwischen der teleologischen Ethik auf der einen und der deontologischen auf der anderen Seite geht zwar nicht auf Max Weber zurück, aber dieser hat für deren Gegensatz das weniger sperrige Begriffspaar Verantwortungsethik versus Gesinnungsethik geprägt.
Ein entschiedener Vertreter der Gesinnungsethik war Immanuel Kant, von dem das Diktum überliefert ist, selbst wenn die Gesellschaft, in der er damals lebte, schon morgen nicht mehr existierte, müsste vorher noch jeder verurteilte Mörder hingerichtet werden. Problematisch an dieser Denkschule erscheint aber nicht nur ihr geradezu inhumaner Rigorismus, sondern auch dessen Begründung. Ist der Pflichtenkatalog nämlich nicht religiös und damit autoritativ fundiert, beruht er auf einem rationalistischen Glasperlenspiel. So hatte Kant moralische Prinzipien in Analogie zu den Axiomen der Mathematik entworfen. Demnach mache sich jeder, der ein auch von ihm grundsätzlich anerkanntes Gebot verletze, eines Selbstwiderspruchs schuldig. Ein Straftäter hätte folglich nur irgendwie unlogisch gehandelt.
Der Verantwortungsethiker ist da geschmeidiger. Er argumentiert nicht formal, sondern materiell. Doch auch diese Position hat ihre Tücken. Zum einen kann sie universelle Werte wie etwa die Menschenwürde nicht aus sich selbst heraus begründen - schließlich heiligt ja für den Teleologen stets der Zweck die Mittel. Zudem erfüllt sich dieser Zweck erst in einer antizipierten Zukunft, weshalb sich diese Moralauffassung von extrem volatilen Faktoren abhängig macht. Wenn also der gewünschte Effekt ausbleibt, hat man gewissermaßen doppelt unmoralisch gehandelt: weder prinzipientreu noch erfolgreich. Verantwortungsethik ist stets eine Wette auf das Eintreten eines Sachverhalts, zudem unterwirft sie das Handeln komplett dem Nützlichkeitsdenken.
Aus diesen Gründen gibt es außer einigen Fanatikern kaum Vertreter der jeweils reinen Lehre, aber verschiedene Formen einer materiell erweiterten Pflichtethik. Auch Max Weber plädierte für eine Synthese. In seiner Rede „Politik als Beruf“ heißt es, die beiden Typen von Ethik seien „nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“. Überhaupt ist es sein begründetes Plädoyer für Kompromisse, das Max Weber bis heute für viele, die über Politik nachdenken, so attraktiv macht - nicht zuletzt für die Politiker selbst. Christopher Schmidt
Askese
Auch den Katholiken war es längst aufgefallen: Der moderne Kapitalismus war eine Sache der Protestanten. Unter Betriebsleitern wie beim Kapitalbesitz lagen sie weit vor den Katholiken. Was qualifizierte sie dazu? Das Schlüsselwort ist für Max Weber Askese. Die strengeren Formen des Protestantismus, Calvinismus, Puritanismus, Täufertum, auch Pietismus, sehen durch die Bequemlichkeit das Seelenheil gefährdet. Der Christ, auch der wohlhabende, der seinen Lebensunterhalt aus dem Vermögen bestreiten könnte, hat unablässig zu arbeiten. Der Beruf ist der Ort, auf den Gott ihn stellt, um sich zu bewähren, durch harte, ständige und - besonders wichtig - systematische Arbeit. Askese ist die religiöse Form der Rationalität: „Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist das von Gott Verlangte.“ Zur Rationalität gehören Spezialisierung und Arbeitsteilung. Der protestantische Geist bringt den modernen „Fachmenschen“ hervor.
Der protestantische Christ ist streng gegen sich in der Arbeit, aber nicht weniger im Verbrauch. Auch wer reich ist, soll sich mäßigen, der Genuss des Besitzes bedeutet sittliche Gefahr. Freuden dürfen nichts kosten, das wäre Verschwendung der durch Gottes Gnade erlangten Güter. Sport oder Jagd sind nicht Ausdruck der Lebensfreude, sondern dienen der Wiederherstellung der Arbeitskraft. Durch Arbeitsamkeit wird Vermögen erworben, durch Sparsamkeit erhalten - die Askese stärkt den Kapitalaufbau von zwei Seiten. Aber solche Kapitalbildung ist auch ein Problem, wie schon die puritanischen Prediger sahen, auf deren verbreitete seelsorgerliche Schriften sich Weber stützt: Der Reichtum gefährdet die religiöse Zucht und damit auch den wirtschaftlichen Erfolg.
Früh schon hat man gegen Weber eingewendet, ob nicht der Luxus mindestens ebenso wichtig gewesen sei wie die Askese. Zumindest fällt auf, dass aufwendige Produkte wie Seide oder exotische Gewürze eine große Rolle im Frühkapitalismus spielen. Aber Askese ist für Max Weber mehr als die Voraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens. Sie ist die Existenzform des verantwortlichen Menschen der Moderne, des Wissenschaftlers, der sich entsagungsbereit über seine Spezialfrage beugt, wie des Politikers. Dessen Größe, wenn er sie hat, besteht in innerer Sammlung, Distanz, sie ist die „leidenschaftliche Hingabe an eine ,Sache‘“. Auch das ist Askese. Stephan Speicher
Börse
Mehrmals schrieb Max Weber über die Börse, zwischen den Jahren 1893 und 1896. Zum Teil ging es dabei weniger um Fortschritte der Wissenschaft als um Volksaufklärung: In zwei Heften der „Göttinger Arbeiterbibliothek“ erklärte Weber, damals Professor für Nationalökonomie an der Universität Freiburg, was sich der einfache Mensch unter einer Börse vorzustellen habe. Er präsentiert das Personal, vergleicht die nationalen Börsen, beschreibt die Prozeduren und hat auch eine Botschaft: Was an der Börse geschehe, sei „unentbehrlich“ und diene dem wirtschaftlichen Fortschritt. Der Widerstand gegen die Spekulation, komme er von den Konservativen mit ihren agrarischen Idealen oder von Seiten der Arbeiter mit ihrem Misstrauen gegen das Kapital, gründe auf dem Aberglauben, die Börse sei „eine Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes“. Dagegen sei klarzustellen, dass an der Börse tatsächlich ausschließlich der „größere Geldbeutel“ herrsche, dem nur durch „Ehrlichkeit“ zu begegnen sei - im Interesse einer unausweichlichen Moderne, im Interesse aber auch einer Nation, die sich kämpfend zu behaupten habe.
Mit der offensiven Sachlichkeit, die Max Weber in der Börse repräsentiert sehen wollte, hat es indessen eine eigene Bewandtnis - denn sie ist auch eine rhetorische Figur. Es gibt sie zum einen, weil Weber diese Aufsätze für den Theologen, Politiker und intellektuellen Gefährten Friedrich Naumann schreibt, einen entschlossenen Moralisten. Max Weber braucht dessen Pathos, um sich davon als Figur der radikalen Nüchternheit abzusetzen. Es gibt sie zum anderen, weil Weber es nicht bleiben lassen kann, die Freiheit von allen moralischen Illusionen, die er sich selbst zuschreibt, als Heroismus der Wertfreiheit zu stilisieren: „Eine starke Börse kann eben kein Club für ,ethische Kultur‘ sein“, schrieb er in der „Arbeiterbibliothek“, „und die Kapitalien der großen Banken sind so wenig ,Wohlfahrtseinrichtungen‘, wie Flinten und Kanonen es sind. Für eine Volkswirtschaftspolitik, welche diesseitige Ziele erstrebt, können sie nur eins sein: Machtmittel in jenem ökonomischen Kampf“. Man muss schon sehr vom Privileg der eigenen Illusionslosigkeit überzeugt sein, um diesen Satz so stehen zu lassen. THOMAS STEINFELD
Lebensführung
Eine gesellschaftliche Ordnung ist, befand Max Weber, danach zu bewerten, „welchem menschlichen Typus sie (...) die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden“. Deshalb ist die Lebensführung auch nie reine Privatsache, keine Angelegenheit einfach nur des persönlichen Geschmacks. Im Begriff der Führung des Lebens steckt ein methodisches In-den-Griff-Bekommen, zu dem uns die moderne Individualisierung und Arbeitsteilung Raum lässt, zugleich aber auch zwingt. Das Leben soll Sinn und Struktur haben, daran muss man selber arbeiten; aber die Prägungen und die ökonomischen Vorgaben liegen nicht in der Hand des Einzelnen. Und im Unterschied zum Lebenslauf ist die Lebensführung keine Abfolge von Phasen, sondern eine aktive Bewältigung und Ausfüllung von Anforderungen und Möglichkeiten, die gleichzeitig da sind.
Von den Weltreligionen her, die Weber im historischen Kulturvergleich untersuchte, kommt es zu „verschiedenen Arten ethischer Rationalisierung der Lebensführung“. Diese sind zunächst recht spezifisch, doch letztlich wird die Rationalisierung für Weber zur kulturübergreifenden, welthistorischen Macht. Die Dynamik und das Ethos verselbstständigen sich.
Ob aber der Kapitalismus dann die Lebensführung nur noch gnadenlos vorschreibt, dazu verhält sich Max Weber schwankend. Schon in seiner eigenen Biografie herrscht die Spannung: Er lebt in jedenfalls äußerlich behaglichen großbürgerlichen Verhältnissen, erfährt aber Lebenskrisen und beschreibt kühl eine viel größere Unfreiheit, als er sie selbst hat. Einerseits führt die Moderne ins berühmte „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“, andererseits spenden die Berufs-Ethiken einen gewissen Trost in der Alternativlosigkeit.
„Max Webers Fragestellung“ - so heißt ein einschlägiges Buch von Wilhelm Hennis - ist noch die unsere, unter zum Teil veränderten Bedingungen. Gesellschaftstheoretiker wie Pierre Bourdieu haben sie auf ihre Weise weitergeführt; Webers Lebensführung berührt sich heute mit der ökonomischen Glücksforschung ebenso wie mit der kapitalismuskritischen Soziologie von Alain Ehrenberg bis Hartmut Rosa. Protestantische Buchführung mündet in neuen Techniken der Selbstoptimierung wie der digitalen Fitness-Überwachung, während auch die Philosophie wieder über „Kritik von Lebensformen“ (Rahel Jaeggi) diskutiert. Immer wieder gibt es zivilisationsmüde Ausbruchsversuche wie zu Webers Zeiten - am Ende aber geht es ihm zufolge nur darum, dass „jeder seinen Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“ Johan Schloemann
Entzauberung
Die Entzauberung sieht auf den ersten Blick aus, als sei sie nichts als das perspektivische Gegenüber der Rationalisierung, Säkularisierung und Bürokratisierung - ein Begriff, der bezeichnet, was in der Moderne notwendig verloren geht: das magische Verhältnis zur Welt. Aber so, wie Max Weber diesen Begriff ins Spiel bringt, ist die Sache vertrackter. Denn zwar ist die „intellektualistische Rationalisierung“ eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Siegeszuges von Wissenschaft und Technik, aber der moderne Großstadtbewohner hat dem „Wilden“ wenig voraus. Ja, der „Wilde“ hat sogar mehr Kenntnis von seinen Lebensbedingungen, er weiß von seinen Werkzeugen mehr als der eilige Passant, der in die Straßenbahn einsteigt, ohne zu wissen, wie sie funktioniert, der einen Scheck ausstellt, ohne die Frage beantworten zu können, warum Geld und Kredit leisten können, was sie leisten.
Entzauberung heißt zunächst nur, dass der moderne Mensch auf magische Praktiken verzichten kann, weil er im Prinzip weiß, dass seine Lebensbedingungen sich erklären und berechnen lassen. Niklas Luhmann wird dieses Weltverhältnis „Systemvertrauen“ nennen. Es kommt aber etwas Zweites, Wichtigeres hinzu. Rationalisierung, Säkularisierung und Bürokratisierung vernichten nicht rückstandlos den magischen Zauber, den sie auflösen. Nicht die Diagnose der entgötterten Welt, sondern die Frage, was aus den alten Göttern wird, steht im Zentrum von Max Webers Begriff der Entzauberung. „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“
Nicht zufällig unterhält in Passagen wie diesen die Wissenschaftssprache Max Webers mindestens so gute Beziehungen zur Literatursprache wie zur Sozialwissenschaft. Bei Friedrich Schiller musste die polytheistische griechische Götterwelt untergehen, um auf ewig im Gesang überleben zu können. Eine neue Pointe fügte Heinrich Heine hinzu. Seine „Götter im Exil“ leben nicht nur in der Poesie fort, sie haben sich unerkannt in den bürgerlichen Alltag geflüchtet. Wie bei Heine leben also in der entzauberten Welt Max Webers die alten Götter in verwandelter Gestalt fort - oder besser: Es nisten sich moderne Gespenster und Dämonen in die Leerstellen ein, die durch das Verblassen der alten Götterwelt und der alten Propheten entstehen.
Der Begriff Entzauberung meint nicht die Entsorgung der Dämonen, er bringt -wie die Verneinung bei Freud - ins Spiel, was er negiert. Und weil in der entzauberten Welt überall die Auguren der Heilsversprechen und die „Kathederpropheten“ ihr Unwesen treiben, muss Max Weber selber zum strengen Propheten der Moderne werden. Wenn er über die Würde des Menschen im stahlharten Gehäuse spricht, bietet er den Zauber der poetischen Prosa auf, um sein Publikum instand zu setzen, sich dem Alltag in der entzauberten Welt gewachsen zu zeigen. Lothar Müller
Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, den 17. April 2014, Seite 9
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