Martin Graff spiegelt deutsche Phantasien in seinem Elsass-Bild

Dec 04, 2012 20:57

Skizzen aus Stosswihr
Martin Graff spiegelt deutsche Phantasien in seinem Elsass-Bild

Martin Graff kommt gar nicht aus: Wenn er über seine Heimat schreibt, das Elsass, dann geht es immer auch um die wechselnden Zugehörigkeiten und Einflüsse. Um deutsche, aber auch französische Übergriffe auf diesen Landstrich also, um Anbandelungsversuche der Elsässer andererseits, in beide Richtungen. Und daneben um die vielen Versuche, sich Eigenständigkeiten zu bewahren.

'Elsässischer Surrealismus', so nennt Graff seine ersten Lebensmonate. Weil es für ihn, das Kind französischer Eltern (dessen zwangsrekrutierter Vater in der Uniform eines Wehrmachtssoldaten fiel), gar nicht so einfach war herauszufinden, seit wann genau er de jure Franzose ist. Geboren ist Graff im Juni 1944 im Münstertal, das damals noch zum Deutschen Reich gehörte. Wurde er mit der Befreiung seines Heimatstädtchens Stosswihr im Februar 1945 französischer Staatsbürger? Oder am 8.Mai 1945, mit der Kapitulation Deutschlands? - Nein, früher bereits, erklärte ihm einmal ein Jurist: Durch die 'Ordonnance du 14. septembre 1944'. Paris war befreit, die französische Regierung erklärte per Dekret die deutschen Gesetze von 1940 für ungültig. 'Ich wurde also auf dem Papier als Franzose geführt, bevor ich es in Wirklichkeit war, da die Deutschen im September 1944 das Elsass noch fest im Griff hatten', schreibt Martin Graff, der ein gutes Gespür hat für die vielen Ironien, denen man im Elsass begegnen kann.

Es geht dem Autor, der evangelischer Pfarrer war und nun lange schon als Journalist und Filmemacher für deutsche Medien arbeitet, in 'Leben wie Gott im Elsass' nicht um alte, offene Rechnungen oder gar darum, sie zu begleichen, verbal zumindest. Sondern er braucht die historischen Rückgriffe, auch auf seine eigene Lebensgeschichte, um die bis heute komplizierte Gemengelage in seiner Heimat verständlich zu machen. Und er leitet daraus ab, welche Chancen diese Situation bietet, in einem längst friedlichen EU-Europa. Allerdings kann Graff sich manche Spitze nicht verkneifen. Schon der Untertitel des Buchs ist eine solche: Es geht explizit um 'Deutsche Fantasien' eines Lebens 'wie Gott im Elsass'. Die abgenudelte Phrase im Haupttitel bekommt dadurch eine milde Schärfe: Graff macht kenntlich, dass das Elsass nur in Gänze zu haben ist für einen, der sich auf diese Region einlässt.

So lernt der kontaktfreudige Graff immer wieder Deutsche kennen, die sich im Elsass niedergelassen haben, aber keine Veranlassung sehen, Französisch oder Elsässisch zu lernen. Diese Menschen seien inzwischen recht einsam; weil nämlich die Elsässer oft nur noch Französisch sprechen. Es gibt, zum Beispiel, kein deutsch-französisches Gymnasium in Straßburg, anders als in Freiburg und Saarbrücken. Andererseits gibt es inzwischen eine Vielzahl zweisprachig Aufgewachsener, Kinder aus deutsch-französischen Ehen, die mühelos zwischen den Sprachen und den Kulturen wechseln. Auf sie ist Graff, der Menschensammler, besonders neugierig. Weil er bei ihnen eine Mentalität ausmacht, die er für die prägende und zukunftsweisende des Elsass hält.

Als Leser nähert man sich dem Elsass bei Graff also über Biografien an und über Geisteshaltungen, was deutlich tiefer geht, als würde man sich die Region über ihre touristischen Sehenswürdigkeiten vertraut machen - mögen sie noch so sorgsam und abseits des Mainstreams ausgewählt sein. Gerade auch deshalb, weil die Menschen, die Martin Graff in kurzen Skizzen vorstellt, beinahe allesamt nicht im touristischen Gewerbe tätig sind. 'Leben wie Gott im Elsass' ist demnach kein Reisehandbuch, keine Art von Gebrauchsanweisung. Sondern ein Selbstporträt von jemandem, der die Gabe hat, immer wieder auch auf Distanz zu gehen zur eigenen Heimat - weil er oft rauskommt und weil er sich den Gästen, den Neuankömmlingen im Elsass zuwendet.

Und in dieser Selbstbeschreibung spiegelt sich dann eben, was die Deutschen, die regelmäßig ins Elsass reisen, die vielleicht sogar teilweise dort leben, in diese Landschaft projizieren. Da sind Geschichten von grotesken Missverständnissen darunter, aber weitaus mehr solche, die von Annäherungen und Bereicherungen erzählen. Eine recht skurrile ist die von den Weihnachtsmärkten: Diese deutsche Tradition hatten die Elsässer längst vergessen, und es bedurfte einer 'rumänischen Event-Besessenen', so Graff, die in den 1990er-Jahren in Straßburg erstmals wieder einen Weihnachtsmarkt aufzog. Inzwischen nennt die Stadt sich 'Capitale de Noõl', die Besucherzahlen gehen in die Millionen. Überwiegend sind es übrigens Franzosen, die im Advent deswegen ins Elsass reisen. Auch für die Mehrheit von ihnen ist diese Region ein Zwitter, irgendwie französisch und doch wieder nicht. Das, so plädiert Martin Graff in seinem Buch, sei die Stärke des Elsass.

Martin Graff: Leben wie Gott im Elsass. Deutsche Fantasien. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2012. 296 Seiten, 22Euro.

Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 04. Dezember 2012, Seite 64

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