Wenn die Intelligenz von Maschinen die der Menschen übersteigt, kann der Mensch die Grenzen seines K

Oct 05, 2012 10:48

Der Tod ist nur eine Option
Wenn die Intelligenz von Maschinen die der Menschen übersteigt, kann der Mensch die Grenzen seines Körpers und die Beschränktheit seines Geistes überwinden, sagt der Zukunftsforscher Ray Kurzweil voraus. Doch es gibt Wissenschaftler, die seine Prognosen albern finden
Von Jörg Häntzschel

Als der Zukunftsforscher Ray Kurzweil im April in die Messehalle des texanischen Austin Convention Center einlief, ging ein Raunen durch die 5000 Zuhörer. Die Social-Media-Szene und die Start-up-Branche trifft sich dort einmal im Jahr zum Festival South by Southwest, und jemand wie Kurzweil ist in dieser Szene ein Star. Kurzweil, 64, ist Bewunderung gewohnt. Wo immer er auftritt, wird der unscheinbare Mann empfangen wie ein Prophet. Wie jemand, der aus den Tiefen des Kapitalismus hinaufführen kann in neue Höhen. Die Augen leuchten, die Smartphones flackern auf, wenn die Gemeinde seine Powerpoint-Botschaft empfängt.

Es ist nicht verwunderlich, dass Kurzweil so gefeiert wird. Alle Utopien sind verschlissen; die Gegenwart überfordert die Menschen, und die Zukunft ist kaum anders denkbar denn als heilloses Schlamassel. Und hier kommt einer, der die Chuzpe hat, schier undenkbare Umwälzungen noch zu unseren Lebzeiten zu versprechen, und zwar positive: 'Alle Dinge, die Ihnen heute Freude machen, werden in der Zukunft noch schöner, noch intensiver sein. Wir werden intelligenter, kreativer und liebevoller sein, Musik noch mehr genießen können, mehr Humor haben und gesünder sein. Und die Probleme lösen, mit denen wir heute kämpfen.'

Das ist eine Botschaft, seine Botschaft.

Zugrunde liegt dieser sonnigen Aussicht das, was Kurzweil und andere die 'Singularity' nennen. Gemeint ist mit dem opaken Begriff der Zeitpunkt, da die Maschinenintelligenz die Intelligenz der Menschen erstmals übersteigt. Wenn es soweit ist, werden die superintelligenten Maschinen die Entwicklung noch leistungsfähigerer Maschinen übernehmen und eine Art Kettenreaktion sich selbst beschleunigender technologischer Innovation entfesseln, die unser Leben irreversibel und in nicht absehbarem Ausmaß verändern wird.

Am fundamentalsten werden dabei zwei Aspekte sein: die Verschmelzung des menschlichen Gehirns mit der zu immer irrwitzigerer Leistung fähigen Maschinenintelligenz und das Ende des körperlichen Verfalls dank der mikroskopischen Nanoroboter, die unsere Körper von innen laufend regenerieren sollen. Drei bislang noch getrennte Technologiefelder - die Genetik, die Nanotechnologie und die künstliche Intelligenz - werden in ein Zusammenspiel eintreten. Und das hat dramatische Folgen, schreibt Kurzweil.

Die großen Mauern, die der Mensch auch in jahrtausendelangen Bemühungen bestenfalls zentimeterweise verschieben konnte - die Grenzen seines Körpers, die Beschränktheit seines Geistes und die Unausweichlichkeit seines Todes -, sie sollen fallen. Und zwar schon viel früher, als die meisten von uns es sich vorstellen können. Schon 2045 wird es so weit sein, hat Raymond Kurzweil in seinem 2005 erschienenen Hauptwerk 'The Singularity is Near' recht kühn hochgerechnet. Seitdem steht 'twenty-fortyfive' unter den Kurzweil-Fans als eine Art Code für die Geburt des Menschen 2.0.

Kurzweil entwirft nicht nur spektakuläre Sci-Fi-Visionen von virtuellen Welten, in denen wir ohne lästige Anreise Urlaub machen, von phantastischen Entwürfen für neue Körper, von ungeahnten Empfindungen, derer wir plötzlich fähig sein werden, ganz zu schweigen vom Tod als bloße Option für alle, denen ewiges Leben zu lange dauert. Er prophezeit auch, was selbst die überzeugtesten Fortschrittsoptimisten sich heute kaum mehr zu versprechen trauen: Technik, die all die Probleme lösen wird, die uns die Technik eingebrockt hat. 'Viele unserer Schwierigkeiten rühren von der ersten industriellen Revolution her, vor allem vom Gebrauch fossiler Brennstoffe. Doch die Technologien, von denen wir hier sprechen, sind sehr umweltfreundlich.' Energie wird es dank spottbilliger Solaranlagen im Überfluss geben, Fleisch wird industriell gezüchtet, und Nanoroboter befreien die Welt von den schmutzigen Resten des Kohle- und Ölzeitalters.

Kurzweils Theorie basiert auf der Annahme, dass die Geschwindigkeit technologischer Innovation nicht linear, sondern vielmehr exponentiell zunimmt. Bei den Computerchips ist das Phänomen als 'Moore"s Law' bekannt: Deren Rechenleistung verdoppelt sich alle ein bis zwei Jahre. Es fällt der menschlichen Vorstellungskraft nicht ganz leicht, sich auszumalen, was das bedeutet, vor allem da exponentielle Prozesse sich anfangs von linearen kaum unterscheiden. Deshalb verblüfft Kurzweil seine Zuhörer regelmäßig, wenn er vorrechnet: 'Wenn Sie 1, 2, 3, 4 und so weiter zählen, sind Sie nach 30 Schritten bei 30. Zählen Sie exponentiell, also 1, 2, 4, 8, sind Sie nach 30 Schritten bei einer Milliarde.'

Deswegen ist das Smartphone, das Kurzweil an diesem Punkt seines Vortrags immer aus der Tasche zieht, dem riesigen Supercomputer an Rechenleistung weit überlegen, mit dem er sein Diplom machte, und es kostet einen Bruchteil der früheren Supermaschinen. Deswegen brauchte das 'Human Genome Project' 13 Jahre, um das menschliche Erbgut zu entschlüsseln, während heute dafür ein paar Tage ausreichen. Dieselbe Steigerungsquote gilt auch für die technologische Entwicklung der Menschheit überhaupt, meint Kurzweil, der Theoretiker der neuen Zeit. Die Kurve beginnt zur Zeit der Jäger und Sammler in der Horizontalen, steigt mit der Entwicklung des Ackerbaus langsam an, hebt sich dann mit der Ankunft des Industriezeitalters und führt von da an immer steiler nach oben. Jedes Werkzeug, das der Mensch sich selbst in die Hand gibt, erlaubt es ihm, noch schneller noch kühnere Erfindungen zu machen. Bis mit der letzten, dem seinem Schöpfer überlegenen Computer, auch das Erfinden selbst von der Maschine erledigt wird.

Kurzweil, der als 17-Jähriger im Fernsehen ein vom Computer komponiertes Musikstück spielte, der den Scanner erfand und täglich 150 Pillen schluckt, 'um seine Biochemie umzuprogrammieren', ist nicht nur ein genialer Erfinder, sondern auch ein begabter Showman und Geschichtenerzähler. Die technologische Apotheose des Menschen genau zu datieren, ist kaum weniger absurd als die Fertigung von präzis terminierten Weltuntergangsszenarien religiöser Eiferer; doch das Datum nützt ihm, einen historischen Sprung von gänzlich neuer Qualität zu behaupten. Seine wissenschaftlich verbrämten Berichte von dem Schlaraffenland, das uns hinter dem Regenbogen erwartet, bedienen offenkundig kollektive Sehnsüchte. Nicht nur die uralte Sehnsucht nach dem Hinauswachsen des Menschen über sich selbst, sondern auch die nach einer Lösung für all die Plagen, mit denen die Menschheit heute kämpft: Klimawandel, Armut, Überbevölkerung. Nach 2045, so verspricht er, werden wir nur müde über diese Kleinigkeiten lächeln können.

Kurzweils Utopie von der Singularity ist eine Erlösungsphantasie, der nur noch der Messias fehlt.

Doch bloß naiv ist sein Optimismus nicht: 'Technologie hat uns immer geholfen, Probleme zu lösen und gleichzeitig neue geschaffen, denken Sie nur an die Atombombe.' Zumindest für das Leben des Einzelnen, so argumentiert er unwiderlegbar, überwiegen die positiven Aspekte. 'Vergleichen Sie unser Leben heute mit dem von 1800. Damals lag die Lebenserwartung bei 37 Jahren. Alleine das Abendessen zuzubereiten, bedeutete sechs Stunden harter Arbeit.'

Es verwundert kaum, dass die Größen der Hightech-Branche den Autor und brillanten Redner Kurzweil als ihren Guru umarmen. Er entwirft für ihre unaufhörliche Suche nach der nächsten, alles revolutionierenden Erfindung den Überbau; er markiert den Zielpunkt für ihr permanentes Wettrennen um schnellere Chips. Handys und Computer werden gerne mit dem rührigen Argument beworben, sie erlaubten uns, mehr wir selbst zu sein - unsere Kreativität auszuleben, mit der Familie zu chatten, mit Freunden zu feiern. Tatsächlich schwebt vielen Visionären im Silicon Valley Kühneres vor: eine Welt nämlich, wie Kurzweil sie beschreibt.

Gemeinsam mit nicht weniger optimistischen Technik-Euphorikern wie Larry Page, Gründer und Vorstandschef von Google, sowie dem Forscher und Unternehmer Peter Diamandis hat Kurzweil vor drei Jahren die 'Singularity University' gegründet. Jedes Jahr arbeiten dort Studenten und Jungforscher in einem sechswöchigen Workshop an radikalen Zukunftstechnologien; die übrige Zeit lassen sich Interessierte aus Wirtschaft und Medien gegen viel Geld über das aufklären, was Kurzweil für die Zukunft erwartet. Beim jährlichen 'Singularity Summit' sprechen Größen wie Doug Hofstadter, der ehemalige Pay-Pal-Vorstandschef Peter Thiel, einer der großen Investoren in Silicon Valley, oder Justin Rattner von Intel, der das dortige Forschungszentrum leitet.

Auch wenn nicht alle von ihnen Kurzweils Techno-Ideologie teilen, organisiert sich ein großer Teil des langfristigen Denkens der Branche mittlerweile um die Singularity-Idee. Das ist der Grundoptimismus, ja die Weltverbesserungsidee, die Konzerne wie Google auf Tempo hält. Es ist eine neue Gesellschaft, die da entstehen soll, und die weit entrückt ist von allem, was an Old Economy erinnert.

Nicht alle stimmen in Kurzweils vollmundigen Zukunftsoptimismus ein. Der Linguist und Psychologe Steven Pinker hält Kurzweils Prognosen für ähnlich albern wie die Unterwasserstädte und Atomautos, auf die wir ebenfalls noch warten: 'Rechenleistung allein wird nicht auf magische Weise alle unsere Probleme lösen.' Auch Paul Allen, der Microsoft-Mitgründer, gehört zu den Kritikern. Theoretisch, sagt er, erscheine es vielleicht möglich, das menschliche Gehirn mit winzigen Nano-Scannern abzubilden und auf diese Weise 'nachzubauen'. Doch damit sei man weit entfernt davon, zu verstehen wie es funktioniere. Es sei so, als wolle man die Software für den Vogelflug aus der Anatomie des Vogelkörpers herleiten.

Andere Kritiker weisen auf Anzeichen hin, dass sich der Fortschritt in Wahrheit verlangsame und dass trotz der Gültigkeit von 'Moore"s Law' die Computer nicht unbedingt schneller werden.

Jared Diamond, der sich mit dem Erfolg und Misserfolg von Gesellschaften beschäftigt hat, sagt voraus, dass die immer größere Komplexität, die mit dem Trend zur Singularity einhergehe, den Fortschritt bremsen oder sogar umkehren könne. Und der Microsoft-Berater und prominenter Kritiker der Web-Euphorie hält den religiösen Eifer der Singularity-Gemeinde sogar für gefährlich.

Am bösesten war wohl der Economist. In einer Infografik illustrierte die Wirtschaftswohnzeitschrift die Folgen von 'Moore"s Law' für die Entwicklung des Nassrasierers. Die Kurve beginnt 1900 mit einer Klinge. Beim Jahrtausendwechsel sind bereits fünf Klingen üblich. Und Ende dieses Jahrzehnts werden dank 14 Klingen endlich alle Rasurprobleme gelöst sein.

Süddeutsche Zeitung, Freitag, den 05. Oktober 2012, Seite 22

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