Ein Südsee-Atoll schwärmt von der „guten alten“ nuklearen Zeit In Französisch-Polynesien hinterließ

Jan 05, 2025 14:32

Ein Südsee-Atoll schwärmt von der „guten alten“ nuklearen Zeit

In Französisch-Polynesien hinterließen Hunderte Nukleartests ihre Spuren. Doch viele Einheimische denken mit Nostalgie an diese Zeit zurück.

Michael Merten, Redakteur

Es war eine ziemliche Sauerei, die das französische Militär in einem „Paradies“ anrichtete. Als die Zeit der nuklearen Tests 1996 in der Südsee endete, wurden die nuklearen Abfälle einfach in der Lagune des Hao-Atolls auf Mā‘ohi Nui (Französisch-Polynesien) entsorgt. Man dürfte annehmen, dass die Einheimischen mit Entrüstung auf die drei Jahrzehnte der Nukleartests zurückblicken, die - entgegen den Versprechungen des Militärs - auch Auswirkungen auf die bewohnten Inseln hatte, wo in geringen Mengen nukleare Strahlung niederging. Doch dem ist nicht überall so.

So war denn auch die luxemburgische Anthropologin Lis Kayser überrascht, als sie 2019 und 2021 insgesamt sechs Monate Feldforschung in Französisch-Polynesien betrieb. Für ihre Doktorarbeit sprach sie dort mit zahlreichen früheren Angestellten des „Centre d‘Expérimentation du Pacifique“ (CEP), Landbesitzern, älteren Frauen und Vertretern der jüngeren Generation. Zwar gebe es sowohl auf lokaler Ebene als auch weltweit Kritik am französischen Atomtestprogramm, so Kayser.

Auf dem Hao-Atoll zeigte sich ein auffälliger Kontrast: Viele Einwohner, insbesondere diejenigen, die direkt von den wirtschaftlichen Möglichkeiten und der Infrastruktur des CEP profitiert haben, brächten „ein Gefühl der Nostalgie für diese Zeit zum Ausdruck“. Das Hao-Atoll war bis in die frühen 1960er Jahre ein verschlafenes Inselnest. Dann kam das CEP, das größte militärische Zentrum in ganz Französisch-Polynesien. Hao diente als Basis für die rund 500 Kilometer entfernt stattfindenden Atomtests.

In den drei Jahrzehnten gab es 193 atomare und thermonukleare Detonationen, 46 davon über Erde. „Der radioaktive Fallout dieser Tests setzte die Menschen in ganz Französisch-Polynesien, auch auf dem Hao-Atoll, einer mehr oder weniger starken Kontamination aus, obwohl sie weit von den Detonationsorten entfernt waren“, so Kayser. Dies bedeutete eine erhöhte Strahlenbelastung und ein gestiegenes Krebsrisiko. Andere Begleiterscheinungen der militärischen Präsenz seien sexuelle Ausbeutung, die Schaffung von sozioökonomischen Abhängigkeiten sowie der Zwang zum Verkauf von Land durch einheimische Familien gewesen. Kayser spricht von Missbräuchen.

Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite: Es entstanden massenhaft Arbeitsplätze. Spitäler, Kinos, Restaurants - Errungenschaften der modernen Zivilisation, die es bislang im Südpazifik so nicht gab. Kurzum: „Über Generationen hinweg wird die Zeit der Atomtests allgemein als Haos ‚âge d‘or‘, das goldene Zeitalter, angesehen“, resümiert Kayser. Nach dem Abzug des CEP im Jahr 2000 verödet die Infrastruktur, viele Menschen werden arbeitslos.

Lokale Familien ziehen in die frei werdenden militärischen Gebäude ein. Dabei stehen diese unter Verdacht, mit Asbest kontaminiert zu sein. Kayser sprach mit 20 Bewohnern dieser Häuser. Sie seien sich der gesundheitlichen Risiken bewusst, doch sähen sie „diese verfallenden Gebäude nicht als giftige Ruinen ihrer nuklearen kolonialen Vergangenheit oder als Restmüll - im Gegensatz zu den militärischen Abfällen, die im Boden der Insel vergraben sind, sondern vielmehr als ‚kulturelles Erbe‘, als letzte ‚authentische‘ Überreste der CEP, die Erhaltung verdienen.“

Bei ihrer zweiten Forschungsreise in die Südsee wurde Lis Kayser von ihrem Partner, dem luxemburgischen Fotografen Laurent Sturm, der auch für das „Luxemburger Wort“ arbeitet, begleitet. „Meine fotografische Herausforderung bestand darin, diese Dualität einzufangen: die außergewöhnlichen Landschaften einerseits und die Spuren der militärischen Geschichte andererseits“, sagt Sturm. Zusammen haben die beiden nun einen Bildband herausgegeben, der sowohl auf die strukturellen Probleme eingeht als auch viele Einheimische von Französisch-Polynesien vorstellt. „Dieses Projekt ist ein visuelles Zeugnis der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart - und ein Beitrag zur Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses“, sagt Sturm.

Eine der außergewöhnlichsten Personen, die in dem Bildband vorkommen, ist „Mamie Blue“, die nicht nur an die wirtschaftlichen Vorteile der Atomtestphase zurückdenkt. Sie ist eine „Raerae“, eine polynesische nicht-binäre Person, die zwar als Mann geboren wurde, sich aber als Frau identifiziert und kleidet. Sie betrieb die beliebte Bar „Mamie Blue International“ und habe damit „einen einzigartigen sozialen Raum, in dem sich Kolonisatoren und Kolonisierte frei mischten“, geschaffen. So habe die Ankunft der Franzosen ihr „persönliches Empowerment und neu gewonnene Freiheit“ gebracht. „Mamie Blue verkörpert das komplexe Zusammenspiel von Ermächtigung und Unterwerfung, in dem wirtschaftliche und sexuelle Handlungsfähigkeit mit der unterdrückenden Realität des nuklearen Kolonialismus koexistieren“, folgert Kayser.

Viel negativere Erfahrungen hat hingegen Coco gemacht. Der 57-Jährige, ein auf Tahiti ausgebildeter Konditor, lebt auf Hao auf dem Land der Familie seiner Frau, wo er verschiedene Früchte und Gemüse anbaut und verkauft. Besorgt über verseuchte Erde, musste er frische Erde aus Tahiti importieren. Trotz aller Bemühungen, das Land zu dekontaminieren, sagt er: „Wir leben immer noch auf einem verseuchten Atoll.“

Der Bildband „Nuclear Paradise“
Der englischsprachige Bildband „Nuclear Paradise von Autorin Lis Kayser und Fotograf Laurent Sturm ist für 39 Euro in den Buchhandlungen Ernster und Diderich erhältlich. Das Buch ist mit Unterstützung des Centre National de l’Audiovisuel (CNA) Luxembourg entstanden.“ Mā‘ohi Nui oder Französisch-Polynesien liegt im Südpazifik und besteht aus fünf Archipelen mit 118 Inseln, die sich über fast fünf Millionen Quadratkilometer verteilen.

Luxemburger Wort 5.1.2025

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