Dec 25, 2024 19:30
Eine Pistole in der „Wort“-Druckerei
Wie der deutsche Autor Stefan Heym in Luxemburg als US-Propagandasoldat „den Feind demoralisierte“.
Von Tom Rüdell, Redakteur
Eine paradoxe Szene spielt sich Mitte Dezember 1944 in der Druckerei des „Luxemburger Wort“ ab, damals noch in der rue Sigefried, der heutigen Rue Origer gelegen: Ein US-Soldat droht mit entsicherter Waffe dem Setzer, einem erfahrenen Angestellten der Sankt-Paulus-Druckerei. Dabei hat seine Armee Luxemburg, und damit auch die Zeitung, vor wenigen Wochen erst befreit. Sollte der Setzer da nicht froh sein, keine deutsche Propaganda mehr drucken zu müssen? Und der Soldat nicht eigentlich ohne Waffe auskommen?
Doch seit kurzem ist der Krieg zurück in Luxemburg. Die Deutschen sind auf dem Weg nach Belgien - Hitlers Ardennenoffensive hat die US-Armee am Tag zuvor kalt erwischt. „Der Metteur erschrickt jedesmal, wenn das Glas in den Fenstern klirrt beim Einschlag der Geschosse nahebei“, so wird es der Soldat später aufschreiben: „Dann lässt sich das Rumpeln der Panzer vernehmen, die in vielleicht zwei Kilometern Entfernung durch die nördlichen Vororte westwärts rollen.“
Der Soldat heißt Stefan Heym, er ist 31 Jahre alt. Mit Zeitungen und Druckerpressen kennt er sich aus, denn im Zivilberuf ist er Journalist und Schriftsteller. Und er hat Grund, nervös zu sein, denn er ist deutscher Jude aus Chemnitz. Bereits 1933 ist er aus Deutschland geflohen.
Die Nazis hatten seinen Vater kurz vorher verhaftet, aber eigentlich wollten sie ihn, der schon als Schüler kritische und antimilitaristische Gedichte schrieb. Heyms Vater Daniel Flieg ist durch die Lagerhaft gebrochen. Er nimmt sich 1935 das Leben, da ist sein Sohn bereits via Prag in den USA. Er schlägt sich mit einem Stipendium für eine Doktorarbeit in Germanistik und als Redakteur deutschsprachiger Zeitungen durch, mehr schlecht als recht. Erst kurz vor seiner Einberufung im Januar 1943 bessert sich seine finanzielle Situation: Sein Debutroman „Hostages“ wird von der Kritik gelobt und macht Heym zum arrivierten Autoren. Beim Warten auf den D-Day in Südengland musste er sogar schon Bücher für Kameraden signieren, nachdem diese „Hostages“ im Schaufenster entdeckt hatten.
Doch jetzt steht der promovierte Germanist in Luxemburg. In Hörweite der Wehrmacht: „Er weiß, was das für ihn hieße, wenn ein paar von den Panzern abdrehten und die Nazis ihn hier zu fassen bekämen, neben der fast fertigen Ausgabe dieser Zeitung.“ Denn Heym veröffentlicht noch immer gegen die Nazis - nur mittlerweile im großen Stil: Er ist Sergeant bei der „Second Mobile Radio Broadcasting Company“. Sein Job ist Information.
Stefan Heym ist ein „Ritchie Boy“, so genannt nach dem Ausbildungslager Camp Ritchie in Maryland, wo er und viele andere in einem harten Drill die Tricks und Kniffe der psychologischen Kriegsführung gelernt haben. Sie sollen zum Beispiel Kriegsgefangene und Zivilisten auf Deutsch befragen oder deutsche Radiosender hören - und daraus Informationen gewinnen, die die Army konkret taktisch nutzen kann. Der Ausbildung in Camp Ritchie schloss sich ein weiterer Lehrgang in Camp Sharpe bei Gettysburg an. Hier lernten sie, wie man Zeitungen und Radiosendungen macht, unter der Leitung von Leutnant Hans Habe, einem ungarischen Emigranten.
Schon kurz nach der ersten Welle am D-Day gehen die Ritchie Boys in Omaha Beach an Land, gleich zu Beginn der Invasion verhören sie deutsche Gefangene, um Erkenntnisse für den Vormarsch nach Osten zu gewinnen. Und auf dem Weg nach Deutschland macht Heym in befreiten Druckereien Blätter wie die „Frontpost“, die aus Flugzeugen über den Stellungen der Wehrmacht abgeworfen wird - es war seine Idee, und seine Vorgesetzten hatten zugestimmt. Oder die „Mitteilungen“, die erste deutschsprachige Zeitung für die Zivilbevölkerung von Nazideutschland, die nicht vom Hitler-Regime gleichgeschaltet ist. Außerdem drucken die Amerikaner noch die „Feldpost“, eine kleinformatige Zeitung, die in Mörsergranaten gestopft über der Front abgeschossen wird, und zahlreiche Flugblätter. Es ist großer Aufwand für Propaganda in riesiger Auflage: Allein die Luxemburger Rotationspresse schafft bis zu einer halben Million Exemplare.
Auch ohne Panzer im Hintergrund hat Heym wenig Zeit: Seit September 1944 ist Luxemburg das Zentrum des alliierten „Kriegs der Ideen“ (wie er es später nennt). Neben den Drucksachen muss er als stellvertretender Redaktionsleiter unter Habes Kommando Radiosendungen in der Villa Louvigny produzieren. Die Sendemasten des stärksten Langwellensenders Europas in Junglinster und damit die Möglichkeit weit „ins Reich“ hineinzusenden, waren eines der Hauptziele der Alliierten im Großherzogtum. Seit September machen die Ritchie Boys im Stadtpark täglich bis spät in die Nacht deutschsprachiges Programm für Radio Luxemburg.
Hans Habe kommt, wie Heym, aus der journalistischen Praxis: 1930 deckte er in einem Artikel der „Wiener Sonn- und Montagspost“ auf, dass Hitler eigentlich Schicklgruber hieß. Churchill nutzte das später als rhetorische Figur, wenn er vom „Gefreiten Schicklgruber“ sprach. In Luxemburg ist Habe nun verantwortlich für das, was die Deutschen jetzt und in Zukunft zu lesen bekommen sollen. Auch diese historische Entscheidung fällt in der Villa Louvigny: Habe und sein britischer Gegenpart Richard Crossman zeichnen hier in Heyms Büro in einen alten Atlas ein, welche Zeitungen es in Deutschland künftig wo geben soll - und fragen Heym nach Namensvorschlägen.
Gründlicher ist Habe allerdings, wenn es um die journalistische Arbeit geht. Er schickt sein Team an die Front oder in die kürzlich befreiten Gebiete, damit ihre Reportagen das tatsächliche Geschehen abbilden: „Immer die Wahrheit, auch wenn sie im Moment gegen uns spricht!“ Das Ziel: Den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung schwächen, der Wehrmacht die militärische Ausweglosigkeit vor Augen führen, Soldaten dazu bringen, sich kampflos zu ergeben. Und dabei: „Glaubwürdig bleiben. Denn morgen ist die Wahrheit wieder auf unserer Seite und dann werden wir diese Glaubwürdigkeit brauchen.“
Und so muss auch Heym immer wieder raus aus der Sicherheit der Villa Louvigny, und das im eigentlich zu niedrigen Rang eines Sergeants: Weil er schon vor 1933 gute Gründe für sein antifaschistisches Engagement hatte (und nicht erst nach Pearl Harbor im Dezember 1941) ist er für die Amerikaner zu verdächtig für eine Offizierslaufbahn. Erst gegen Ende seines Dienstes wird er zum Second Lieutenant befördert.
Später wird er in die DDR gehen und deren bekanntester Autor werden - streitbar und kritisch den Obrigkeiten gegenüber und beobachtet von der Stasi. Und fast genau 50 Jahre nach jener Nacht in der „Wort“-Druckerei wird er als parteiloser Alterspräsident den 13. Deutschen Bundestag mit einer optimistischen Rede eröffnen, in der er an die Vernunft appelliert. Und für die die CDU-Fraktion unter Helmut Kohl dem kritischen Kommunisten den Applaus verweigern wird.
Doch 1944 fährt noch der Sergeant Heym für seine Reportagen von Luxemburg aus über Land. In Hayange gerät er zwischen die Fronten. In Bäsweiler im heutigen Nordrhein-Westfalen soll er bei einem bereits befreiten Bergwerk zeigen, „dass schon bald nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen wieder gearbeitet wird, damit die Menschen ihr Auskommen haben.“ Doch er ist früh dran: Das amerikanische Artilleriegeschütz auf dem Zechengelände kassiert einen Volltreffer, während Heym und sein Fotograf drinnen arbeiten, er verlässt die Szene vorbei an den toten Artilleristen.
Er fährt nach Aachen, wo die US-Truppen dem Stadtkommandanten ein Ultimatum zur Kapitulation setzen, das Heyms Sender mit einem Countdown begleitet („Noch zwei Stunden.“ - „Noch eine Stunde…“). Er fährt nach Ensdorf im Saargebiet, wo die Zivilbevölkerung sich entgegen den Befehlen der örtlichen Nazigrößen in einem Bergwerksstollen versteckt, anstatt ins Landesinnere zu fliehen. Und er fährt nach Nancy, wo er von der Erschießung dreier Spione der Wehrmacht berichtet, die man in US-Uniformen gefangengenommen hatte: „Der Gefangene ist durchs Herz getroffen und bricht zusammen.“ Die Nachricht an die Deutschen: Es ist vorbei. Gebt auf!
Doch es ist eben noch nicht vorbei: Die Ritchie Boys stoßen in ihren Befragungen deutscher Überläufer an der Front im Hürtgenwald bei Aachen auf immer mehr Anzeichen für einen geplanten deutschen Gegenschlag (zu dem die in falsche Uniform gekleideten Soldaten gehören). Sie erfahren von Truppenansammlungen und informieren ihre Vorgesetzten. Doch sie werden weggeschickt - die Rundstedt-Offensive kann vom Überraschungseffekt profitieren.
An jenem Dezemberabend in der Druckerei hält Sergeant Heym sich dennoch strikt an Habes Credo, „immer die Wahrheit“. Und so titelt er seine Frontpost mit „Deutsche Gegenoffensive“, schreibt von 80 Kilometer Breite und zitiert Rundstedt: „Es geht ums Ganze.“ Denn das ist Heym sehr bewusst. Aber: „Er weiß auch, was es bedeutet, wenn das Blatt morgen wie immer herauskommt: Wir sind da, nach wie vor, wir haben den längeren Atem, trotz Rundstedts Offensive, und wir werden siegen.“ Und die Pistole? Die zeigt er, weil er den Zeitdruck spürt, dem Setzer „für den Fall, Meister, dass Sie, mit oder ohne Absicht, die Form fallen lassen auf dem Weg zur Presse und so verhindern, dass das Blatt rechtzeitig erscheint. Und jetzt, Marsch.“ Der Setzer fügt sich und stolpert nicht, das Blatt kommt planmäßig heraus.
Doch der Sender Radio Luxemburg wird für vier Tage stillgelegt, sicherheitshalber evakuiert.
Ein Fehler, wie nicht nur Heym findet, denn als die wichtigste Stimme der Alliierten verstummt, schießen die Spekulationen ins Kraut. BBC meldet bereits, der Sender sei gefallen, auch die Luxemburger Bevölkerung wird unruhig. Als der Vormarsch der Deutschen dann doch zum Erliegen kommt, sendet Radio Luxemburg wieder. Am Tag vor Heiligabend erklingt zum Auftakt der ersten Sendung das „Star Spangled Banner“ - gespielt vom Luxemburger Militärorchester. Und einige Wochen später erhält Sergeant Heym im Hof der Villa Louvigny die „Bronze Star Medal“ für seine Leistung: Trotz „direkter Bedrohung durch den Feind“ erschienen die Zeitungen „genau nach Plan und trugen direkt zur Demoralisierung des Feindes bei“, heißt es zur Begründung.
Im April 1945 zieht die Second Mobile Radio Broadcasting Division weiter nach Bad Nauheim, wo Heym das Kriegsende erlebt. Habe holt ihn nach München zur „Neuen Zeitung“, doch die beiden überwerfen sich über ihre politischen Ansichten. Heym, der glühende Antifaschist, ist nicht einverstanden mit der Distanzierung der USA von der Sowjetunion, dem ehemaligen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen das Hitlerregime - der aufkommende Kalte Krieg hat bereits den Redaktionstisch erreicht. Er geht noch 1945 zurück in die USA und gibt später seine US-Staatsbürgerschaft auf. 1950 erscheint Heyms Roman „Crusaders“, zu Deutsch „Der bittere Lorbeer“, in dem er seine Erfahrungen in der Endphase des Krieges verarbeitet - auch das Luxemburger Kapitel. 1952 siedelt er in die DDR über, 1988 erscheint seine lesenswerte Autobiografie „Nachruf“. 2001 stirbt Stefan Heym im Alter von 88 Jahren während einer Lesereise in Israel.
Literatur
Stefan Heym: Nachruf (1988)
Stefan Heym: Bitterer Lorbeer / Crusaders (1950)
Christian Bauer, Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst. (2005)
Guy Stern: Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys. (2023)
Luxemburger Wort 18.12.2024
politik,
ddr,
krieg,
literatur,
luxembourg