InterviewEng Fro, eng Äntwert Was ist nur aus Frankreich geworden? Schon wieder braucht das Nachba

Dec 07, 2024 08:53

InterviewEng Fro, eng Äntwert

Was ist nur aus Frankreich geworden?

Schon wieder braucht das Nachbarland eine neue Regierung. Der Autor Gaston Carré erklärt, welche Entwicklungen zu dieser Situation geführt haben.

Jörg Tschürtz, Redakteur

Frankreich braucht nach dem Regierungssturz ein neues Kabinett. Wie konnte das Land nur in eine derartige politische Krise geraten, Gaston Carré?

Um zu verstehen, wie Frankreich an diesen Punkt gekommen ist, lohnt es sich, in einer etwas längeren Perspektive zurückzuschauen. Der heutige Zustand lässt sich nicht allein auf eine Regierungsperiode oder einzelne Ereignisse reduzieren, doch die Präsidentschaft Emmanuel Macrons, beginnend 2017, ist ein zentraler Orientierungspunkt.

Frankreich war schon immer ein Land der „Râleurs“, der Nörgler. Der Spruch „Rien ne va“ - nichts funktioniert - prägt den Alltag der Franzosen: Mal geht es um die Lebenshaltungskosten, ein anderes Mal um die sinkende Kaufkraft oder den Streik der Eisenbahner. Diese Unzufriedenheit hat fast schon rituellen Charakter. Doch hinter diesem „typisch französischen“ Unmut steckt etwas Tieferes, das seit Jahren brodelt und zuletzt in den „Gilets jaunes“-Protesten von 2018 fast zur offenen Revolte geführt hat.

Die heutige Situation ist wesentlich komplexer und ambivalenter als andere geschichtliche Episoden wie etwa die Studentenunruhen 1968. Der „Malaise français“ wurzelt in drei großen Entwicklungen:

1. Eine Welt voller Krieg:
Die geopolitischen Erschütterungen - der Ukraine-Krieg, der Konflikt in Gaza - beeinflussen auch Frankreich. Die Rückkehr der Barbarei, wie sie etwa in den Gräueltaten der Hamas oder den israelischen Reaktionen zu sehen ist, versetzt die Menschen in Unruhe. Der Ukraine-Krieg, der Europa direkt betrifft, erzeugt eine tiefe, unterschwellige Unsicherheit. Hinzu kommt, dass solche Konflikte gesellschaftliche Risse in Frankreich verstärken, sei es durch antisemitische Tendenzen oder durch ein Erstarken von Vorurteilen gegenüber Einwanderern.

2. Der Verlust ideologischer Orientierung:
Frankreichs politische Landschaft war einst klar in links und rechts geteilt. Macron hat diese Konfliktlinie bewusst aufgebrochen und durch eine Haltung der Ambivalenz ersetzt. Das Aufheben der starren Schwarz-Weiß-Muster, das Versprechen von Komplexität, die Bereitschaft, Widersprüche auszuhalten, war etwas, was ich anfangs an Macron bewundert habe.

Seine berühmte - und oft karikierte - Phrase „en même temps“ ist Ausdruck seines politischen Prinzips. Diese Ambivalenz mag auf den ersten Blick modern erscheinen, führte jedoch bei vielen Franzosen im Laufe der vergangenen Jahre zu einem Gefühl des Verlorenseins und Entfremdung.

3. Tiefe soziale und kulturelle Spaltungen:
Man kann auf einen Begriff aus der Psychologie zurückgreifen. Frankreich ist heute in einem Zustand der Bipolarität: gespalten zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, den „Modernes“ und den „Anciens“, der traditionellen „France profonde“ und den Eliten, zwischen Pro-Palästinensern und Pro-Israelis, zwischen Macronisten und der extremen Rechten.

Rund 5,5 Millionen Muslime leben mittlerweile im Land, doch eine wirkliche Integration wurde nie erreicht. Die daraus resultierenden Spannungen äußern sich in der „Krise der Banlieues“, die längst keine Randphänomene mehr sind, sondern die ganze Gesellschaft durchziehen. Die wachsende Armut und die Identitätskrise vieler Franzosen verstärken diese Dynamik noch.

All dies wird durch Macrons betont elitäres Auftreten verschärft. Sein Stil wird von vielen als arrogant und weltfremd empfunden. Unbeabsichtigt hat er den Weg für Marine Le Pen und den Rechtspopulismus geebnet. Die Gefahr einer möglichen Präsidentschaft von Le Pen bleibt präsent.

Die linken Parteien müssen sich neu erfinden, wobei ein moderner sozialdemokratischer Ansatz wie der von Raphaël Glucksmann vielversprechend sein könnte. Die Frage ist jetzt, ob und wie Frankreich diesen bipolaren Zustand überwinden kann, ohne weiter in die Extreme abzudriften. Es braucht jedenfalls eine Politik, die weniger auf Spaltung setzt.

Zur Person
Gaston Carré, 1955 im Elsass als Sohn eines Franzosen und einer Deutschen geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Carré absolvierte ein Doktorstudium in klinischer Psychologie und Psychopathologie in Straßburg. Seit 1983 ist er in Luxemburg ansässig. Zunächst als Psychologe in der Marketingabteilung von Ferrero tätig, schlug er 1989 eine Karriere als Journalist ein, mit Stationen beim „Lëtzebuerger Journal“ und „Voix du Luxembourg“. 2005 wechselte er zum „Luxemburger Wort“ und leitete dort das Kulturressort. Später übernahm er eine prägende Rolle in der Außenpolitik-Redaktion.
In seinem Ruhestand schreibt er weiterhin wöchentliche Feuilletons im „Wort“. Im Sommer erschien im Verlag Phi eine Sammlung seiner Chroniken mit dem Titel „Les Caractériels“. Carrés Texte in französischer Sprache zeichnen sich durch stilistische Präzision und Ironie aus. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit internationaler Politik, allen voran den Entwicklungen in seiner Heimat Frankreich.
Carré ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Killing fields, les champs de l‘obscène“ über den Kosovokrieg. Derzeit arbeitet er an einem neuen Roman über Diversität und Vielsprachigkeit. Seine musikalische Leidenschaft gilt den Rolling Stones, die ihn auch literarisch inspirieren, wie seine Bücher „Retour à Jajouka“ (2012) und „Satisfaction“ (2023) zeigen.

Luxemburger Wort 6.12.2024

politik, relativismus, luxembourg, wort, frankreich

Previous post Next post
Up