Aug 05, 2024 13:01
Kaspar Hausers DNA widerlegt eine 200 Jahre alte Verschwörungstheorie
Forensische Genetik Findelkind Kaspar Hauser: Seine DNA widerlegt eine 200 Jahre alte Verschwörungstheorie
von Nora Saager
Als Findelkind, das allein in einem Verlies aufwuchs, wurde Kaspar Hauser schon zu Lebzeiten berühmt. War er in Wahrheit der Erbprinz von Baden, das Opfer eines politischen Ränkespiels? Eine Untersuchung seines Erbguts räumt endgültig mit diesem Mythos auf
Kaum ein Fall in der deutschen Geschichte ist so rätselhaft wie der des Kaspar Hauser. Am Pfingstmontag, dem 26. Mai 1828, trat der schwächliche junge Mann erstmals in Erscheinung. In schäbiger Kleidung stolperte er durch die Straßen von Nürnberg, kaum fähig zu gehen oder zu sprechen. Er trug zwei Briefe bei sich. Ein anonymes Schreiben, dessen Verfasser erklärte, er habe den Jungen 1812 auf seiner Türschwelle gefunden und abgeschottet großgezogen. Und, angeblich, einen Brief der Mutter, die berichtete, Kaspars verstorbener Vater sei bei der Kavallerie gewesen; sie selbst sei nur ein "armes Mägdlein" und habe das Kind allein nicht ernähren können.
Kaspar selbst erzählte später, er sei in einem kleinen, dunklen Verlies aufwachsen und habe nie einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen. Während er schlief, habe ihm jemand Brot und Wasser gebracht, seine Haare und Fingernägel geschnitten. Kurz vor seiner Freilassung sei ein Mann erschienen, habe ihm das Gehen und einige Sätze beigebracht und ihn gelehrt, "Kaspar Hauser" zu schreiben. Dann habe er den Jugendlichen nach Nürnberg gebracht und sich selbst überlassen.
Kaspars Fall erregte Aufsehen. Ärzte untersuchten ihn, Neugierige beäugten ihn, Zeitungen berichteten über ihn. Zweifler warfen ihm Betrug vor. Kein Kind, so argumentierten sie, könne solch eine lange Isolation körperlich weitgehend unbeschadet überstehen.
Andere witterten eine Verschwörung. Sie glaubten, Kaspar sei von adeliger Geburt: das leibliche Kind von Karl, Großherzog von Baden, und seiner Frau Stéphanie de Beauharnais. Der Sohn des Paars war 1812 nur zweieinhalb Wochen nach der Geburt gestorben. Als Karl selbst wenige Jahre darauf ohne männlichen Erben verschied, ging der Titel des Großherzogs an seinen Onkel aus der zweiten, nicht standesgemäßen Ehe seines Großvaters mit der Hofdame Luise Karoline von Hochberg. Sie galt als Strippenzieherin des Kaspar-Hauser-Komplotts. Man warf ihr vor, den kerngesunden Urenkel ihres Gatten entführt und gegen den sterbenden Sohn einer Bediensteten ausgetauscht zu haben.
Befeuert wurde diese Theorie durch die seltsamen Ereignisse der folgenden Jahre. Hauser kam in die Obhut des Lehrers und Philosophen Georg Friedrich Daumer. Doch anderthalb Jahre nach seinem Erscheinen fand man ihn mit einer Kopfwunde im Keller des Hauses. Ein Mordanschlag, sagten die einen, eine selbst zugefügte Verletzung die anderen. Der bayerische König Ludwig I. stellte Kaspar Hauser unter Polizeischutz, was die Spekulationen um seine adelige Herkunft weiter befeuerte. Hauser zog nach Ansbach, wo er am 14. Dezember 1833 mit einer Stichwunde in der Brust von einem Besuch im Hofgarten zurückkehrte. Drei Tage später erlag er seinen Verletzungen. Vor seinem Tod erzählte er, ein bärtiger Mann habe ihn mit einem Messer niedergestochen.
Bis heute ist die Frage seiner Herkunft ungelöst. Doch die moderne Genetik bietet neue Möglichkeiten, dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Denn von Hauser existieren Erbgutspuren. So prangt auf der Unterhose, die er beim Angriff im Hofgarten trug, ein Blutfleck. Auch sein Hut und weitere Kleider vom Tag des Attentats sind in einem Museum in Ansbach ausgestellt. Außerdem wurden ihm zu Lebzeiten und nach seinem Tod Haarsträhnen abgeschnitten.
Bereits in der Vergangenheit widmeten sich zwei Untersuchungen der Frage, ob Hauser mit den lebenden Nachkommen des Großherzogs von Baden verwandt ist. Das Institut für Rechtsmedizin der Ludwig Maximilians Universität München, das 1998 das Blut auf der Unterhose untersuchte, fand keine Belege dafür. Eine Haaranalyse des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster stellte die Ergebnisse der ersten Untersuchung jedoch in Frage. Unklar war bislang auch, ob das untersuchte Material verunreinigt war. So wurde gemunkelt, der Blutfleck auf der Unterhose sei zu Ausstellungszwecken hin und wieder "aufgefrischt" worden.
Nun haben Fachleute auf dem Gebiet der forensischen Genetik die Proben erneut untersucht. Sie nutzten dazu moderne Methoden der Erbgutanalyse, die es ermöglichen, auch kleine, degradierte DNA-Fragmente zuverlässig auszulesen. Das Autorenteam der aktuellen Studie hat Erfahrung mit spektakulären Fällen. Turi King von der University of Bath identifizierte ein Skelett, das 2012 unter einem Parkplatz in Leicester ausgegraben wurde, anhand seiner DNA als englischen König Richard III. Walther Parson von der Medizinischen Universität Innsbruck wies 2008 nach, dass in Jekaterinburg entdeckte Gebeine von Alexei und Maria Romanow stammten, den Kinder des letzten russischen Zaren. Die beiden waren nach der Ermordung der Zarenfamilie getrennt beigesetzt worden; ihre sterblichen Überreste galten deshalb nahezu ein Jahrhundert lang als verschollen.
Um den Fall des Kaspar Hauser zu untersuchen, konzentrierte sich das Forschungsteam auf mitochondriale DNA. Sie stand auch bei den vorherigen zwei Analysen im Fokus. Dieses Erbgut liegt nicht im Zellkern, sondern in den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle. Es wird nur über die mütterliche Linie weitergegeben. Bestimmte Abschnitte darin verändern sich im Lauf der Evolution stark; die Wahrscheinlichkeit, dass nicht verwandte Menschen dieselbe Variante in sich tragen, ist deshalb gering. King, Parson und Kolleg*innen analysierten Haarproben Hausers in zwei getrennten Laboren und mit unterschiedlichen Methoden der Sequenzierung. Während der Analyse wussten die Mitarbeitenden des Labors außerdem nicht, ob sie das echte genetische Material oder eine Kontrollprobe untersuchten. Verglichen wurden die Ergebnisse mit einem Abstrich der Mundschleimhaut, den eine Nachfahrin von Stéphanie de Beauharnais bereitstellte.
Die Ergebnisse zeigen zweierlei. Erstens: Haar- und Blutproben von Hauser wiesen dieselben genetischen Merkmale auf, sind also mit hoher Wahrscheinlichkeit authentisch. Zweitens: Die mitochondriale DNA in Hausers Proben stimmt nicht mit dem Erbgut der drei bislang untersuchten Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais überein. Der Erbprinz von Baden war Kaspar Hauser mit 99,9994-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht. "Anhand seiner mitochondrialen DNA können wir sagen, dass er mütterlicherseits von westeurasischer Abstammung ist", sagt Turi King in einem Beitrag auf ihrem Youtube-Kanal. "Wir können es aber nicht auf eine bestimmte Region eingrenzen." Genauso wenig sei die Forschungsarbeit Beleg dafür, dass Kaspar Hauser ein Betrüger war. "Wir können nicht ausschließen, dass er als Kind misshandelt oder entführt wurde", sagt King. Das Rätsel seiner Herkunft bleibt fürs Erste ungelöst.
Geo 2.8.2024
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