Apr 15, 2024 17:33
50 Jahre Lucy. Was wir von Lucy, dem berühmtesten Fossil der Welt, lernen können
1974 wurde sie in Äthiopien entdeckt und bald zum Superstar der Anthropologie. Lucy war gemacht für den aufrechten Gang und schrieb die Menschheitsgeschichte neu. Wie hat sie unser Bild davon verändert?
Julia Sica
Die Beatles schrieben sich nicht nur in die Musikgeschichte ein. Einer ihrer Songs sorgte sieben Jahre nach seinem Erscheinen dafür, dass die Wissenschaft der Paläoanthropologie nicht mehr dieselbe war: "Lucy in the Sky with Diamonds" erschallte 1974 in der Afar-Region in Äthiopien aus einem Kassettenrekorder. Das Forschungsteam feierte in Hadar einen Sensationsfund, nämlich das bis dahin älteste und erstaunlich gut erhaltene Skelett eines menschenähnlichen Primaten. Die Spezies war längst ausgestorben und ähnelt heute lebenden Menschen in manchen Eigenschaften auf verblüffende Weise.
Wer genau anfing, den Fund "Lucy" zu nennen, ist nicht überliefert. Vielleicht war die Party dafür zu feuchtfröhlich. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte man ein solch weltbewegendes Fundstück auch "Helga" nennen können. Der Name Lucy trug aber dazu bei, dass diese entfernte Menschenverwandte unter Laiinnen und Laien so populär wurde.
Davon ist zumindest der britische Anthropologe Richard Wood überzeugt. Während eines Symposiums zum 50. Jahrestag von Lucys Entdeckung am vergangenen Wochenende behauptete er bei seinem launigen Vortrag: Alles wäre anders gelaufen, wenn das Skelett etwa den Beinamen "Basil" bekommen hätte. "Ich finde, das hat nicht den gleichen Klang wie Lucy."
Ihre Entdeckung war revolutionär. Lucy gehört zur Art Australopithecus afarensis und lebte vor knapp 3,2 Millionen Jahren. Das vermutlich weibliche Skelett ist zu 40 Prozent erhalten und war mit nicht einmal 110 Zentimetern Körpergröße viel kleiner als ein ausgewachsener Mensch. Die Beine zeigten: Sie dürfte daran gewöhnt gewesen sein, aufrecht zu gehen - wie wir. Im Gegensatz dazu sind die Beine und Becken anderer Menschenaffen wie Schimpansen nicht an den aufrechten Gang angepasst.
Gleichzeitig hatte diese Spezies ein relativ kleines, affenartiges Gehirn. Die kräftigen Arme und gebogenen Finger lassen vermuten, dass sie ebenfalls gut in Bäumen klettern konnte. Das erzählen uns hunderte Vertreterinnen und Vertreter der Art, die bisher in Ostafrika gefunden wurden - eine reiche Ausbeute für den US-amerikanischen Paläoanthropologen Donald Johanson und seine Kollegen und Kolleginnen.
Johanson war 31, als er Lucy in Hadar entdeckte. Die 70er-Jahre seien das goldene Zeitalter seines Fachs gewesen, sagte er bei dem Jubiläumssymposium, das an der Arizona State University in Tempe stattfand - zu ihr gehört das von Johanson gegründete Institute of Human Origins. Man kann von einer Zeit vor Lucy und nach Lucy sprechen, in der Forschung hat sich seitdem einiges verändert: "Heute beschäftigen wir uns zum Glück intensiver mit der Rolle der Frauen in den Ursprüngen des Menschen. Das ist eine große Veränderung gegenüber der Zeit vor Lucy, die sehr männerzentriert war."
Manche Fachleute vermuten, dass Lucy quasi die "Urmutter der Menschheit" war. Dann müssten sich die frühen Homo-Formen also aus Australopithecus afarensis oder anderen Arten dazwischen entwickelt haben. Davon geht auch Finder Don Johanson aus. Andere sehen in ihr eher eine entfernte Tante, weil es so viele Zweige im Stammbaum - oder, besser, Stammbusch - gibt.
Genau lässt sich das nicht sagen. Und es ist fraglich, ob dies je beantwortet wird. Immerhin halten es Fachleute für unwahrscheinlich, dass etwa alte DNA unter warmen Bedingungen wie in Äthiopien so viel Zeit überdauert. Womöglich liefern aber künftige Analysen der widerstandsfähigeren Proteine neue Einblicke.
Mit der Zeit ist der Wissensstand zur Evolution der Menschenaffen komplexer geworden. Einst hatte man von der jetzigen Situation auf der Erde darauf geschlossen, dass es nie mehrere menschliche Spezies oder Typen gleichzeitig gab. Dies hat sich geändert. Als vor zwei Millionen Jahren längst der Homo habilis existierte, wandelten noch sehr robuste Primaten wie Paranthropus boisei und andere Hominiden über den Kontinent. Und vor rund 60.000 Jahren gab es neben dem modernen Menschen, Neandertalern und Denisova-Menschen etwa den Homo floresiensis, den kleinen "Hobbit".
Weitere Annahmen wurden ebenfalls entkräftet, wie die kanadische Anthropologin Tracy Kivell vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig unterstrich: Es war nicht nur die Gattung Homo, die Werkzeuge nutzte. Das demonstrierte prominent die Primatenforscherin Jane Goodall. Sie beobachtete Schimpansen dabei, wie sie mit Stöckchen nach schmackhaften Termiten angelten. Nicht einmal auf Steinwerkzeuge trifft die Regel zu: Makaken knacken Nüsse mit Steinen. Dabei entstehen sogar Steinsplitter, die frühen Artefakten ähneln, die Menschen zugeordnet wurden.
Für Lucy dürfte dies jedenfalls auch kein Problem gewesen sein. Und eine weitere populäre Annahme schickten Fachleute in die Wüste, nämlich die Savannenhypothese. Diese besagt, dass unsere Urahnen von Wäldern in baumarme Graslandsavannen zogen. Im hohen Gras sei es von Vorteil gewesen, Raubtiere aus der Ferne zu erkennen, weshalb sich der aufrechte Gang entwickelte. Lucy, ihre Artgenossen und deren Vorfahren lebten aber keineswegs in einer Steppenlandschaft, sondern hatten viel Wald um sich, wie die Anthropologin Kaye Reed in ihrem Vortrag deutlich machte.
Auf Lucys Verhalten zu schließen ist basierend auf Fossilien aber schwierig. War sie wirklich hauptsächlich auf zwei Beinen unterwegs? Oder auch in Bäumen? Allein die Kletterfähigkeit laut Körperbau bedeutet nicht, dass sie sich wirklich auf Bäume hangelte. Es wäre aber wohl nützlich gewesen, die Nächte dort oben zu verbringen, geschützt vor Raubtieren.
Einen Hinweis darauf, dass sie Zeit in Bäumen verbrachte, wollte eine Forschungsgruppe vor acht Jahren gefunden haben. Sie vermutete, dass Lucy im Alter von etwa 25 Jahren von einem Baum fiel und dabei starb. Das folgerten die Fachleute aus Lucys Knochenbrüchen. Andere Expertinnen und Experten, die in der Afar-Region forschten, entgegneten, dass derartige Brüche auch bei Spezies wie Nashörnern und Elefanten vorkommen - Arten, die wohl kaum aus Bäumen stürzten.
Die Knochen könnten erst nach dem Tod durch Veränderungen in der Erde gebrochen sein. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass sich ihre Überreste so gut erhalten haben und offenbar kaum von Fleischfressern auseinandergenommen wurden, sagte die US-Paläobiologin Anna Behrensmeyer. Sie befasst sich mit den Vorgängen, die nach dem Tod eines Organismus geschehen - und damit auch mit Versteinerungen.
Was man über Lucys Fundumgebung weiß: In den Sedimenten über ihrem Skelett fanden sich Reste von Wasserlebewesen. Die Nähe zu Wasser liegt also nahe. Zudem wurden die Knochen wohl relativ schnell von Sedimenten bedeckt, die kaum in Bewegung waren, also eher im Uferschlamm eines Teichs als in einem Fluss. "Das gehörte zu Lucys Glück", sagt Behrensmeyer - oder dem Glück der Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die sie drei Millionen Jahre später erforschen können. Die Todesursache lässt sich kaum klären. Aber womöglich machte sich währenddessen oder danach ein Tier an ihren Händen und Füßen zu schaffen, denn hier fehlt ein Großteil der Knochen.
Nicht einmal die Tatsache, dass ein Großteil von Lucys Schädel fehlt, hinderte sie daran, eine Ikone der Anthropologie zu werden. Ähnlich ikonisch wie die Beatles für die Musik. Wissenschaftsjournalistin Ann Gibbons, deren Artikel Lucy zum 50. "Geburtstag" auf das Cover des "Science"-Magazins brachte, hält den Sensationsfund noch immer für eine bedeutsame Influencerin mit Wiedererkennungswert. Vielleicht sogar die zeitgereiste Taylor Swift des Pliozäns? Gibbons tendiert eher zum Vergleich mit Joni Mitchell: "Sie ist ein Oldie. Aber ein guter."
Standard (Julia Sica, 14.4.2024)
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