Mar 26, 2024 12:59
5 Mythen über China, die du kennen solltest
Zum Beispiel: das berühmt-berüchtigte Sozialkreditsystem, mit dem die gesamte Bevölkerung überwacht wird? Existiert nicht.
Der junge Mann aus Shanghai im bunt gemusterten Pullover schüttelt den Kopf. „Ein Bewertungssystem, das auf sozialem Verhalten basiert?“ Er überlegt kurz. „Nein, ich glaube nicht, dass das existiert.“
Auch der nächste Interviewte, Typ Student mit einer Atemmaske vor dem Mund, weiß nicht, was das sogenannte Sozialkreditsystem sein soll.
Jeder, den das YouTube Format „Asian Boss“ nach seinen Erfahrungen mit dem Überwachungstool fragt, ist sich sicher: Davon habe ich noch nie gehört.
Wie ist das möglich? Weil es ein Mythos ist, dass Chinas gesamte Bevölkerung damit kontrolliert wird. Ein Mythos von vielen. Trotzdem ist das Erste, was vielen einfällt, wenn wir an China denken: das Sozialkreditsystem.
Kann mir doch egal sein, denkst du jetzt vielleicht. Das ist doch normal, dass man nicht alles weiß über ein Land auf der anderen Seite der Welt! Aber: Es ist wichtig, zu wissen, was über China falsch und was richtig ist. Ob uns die Wahrheit gefällt oder nicht. Denn aus welchem Land importiert Deutschland seine meisten Güter? China. Und wer stellt sich gerade an die Seite Russlands in einem neu aufziehenden Kalten Krieg? China.
Ich habe Sinologie studiert und währenddessen zwei Jahre in China gelebt und gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen: Vieles von dem, was wir über China zu wissen meinen, basiert auf Halbwissen oder Gerüchten, die ins Reich der Legenden gehören. Und das, obwohl viele Menschen ernsthaftes Interesse haben zu erfahren, wie es in China wirklich ist.
Wie sollen wir mit einer neuen Weltordnung umgehen können, wenn wir ständig auf Schlagzeilen reinfallen, die so einfach nicht stimmen? Deswegen habe ich mir fünf Mythen über China herausgesucht, denen du mindestens schon begegnet bist - und die dich wahrscheinlich auch in die Irre geführt haben. Es geht darum, was wir mit chinesischer Propaganda zu tun haben. Es geht um angebliche Wünsche: Wünsche der Partei, die USA abzulösen, und Hoffnungen der Bevölkerung auf Demokratie. Und die Frage: Ist dieses Land eigentlich noch kommunistisch?
Mythos Nr. 1: Mit dem Sozialkreditsystem kontrolliert die Kommunistische Partei Chinas die gesamte Gesellschaft
Manchmal kommt Sci-Fi der Realität unheimlich nahe. So schien es 2014, als Netflix eine Folge der Sci-Fi Serie „Black Mirror“ veröffentlichte. Darin benoten sich Menschen auf einer Skala von 1 bis 5. Von dieser Wertung hängt ab, wo jemand arbeiten, welche Schule er besuchen und in welcher Wohnung er wohnen darf. Gleichzeitig kamen die ersten Berichte aus China, die Regierung wolle mit einem Sozialkreditsystem fortan seine Bürger:innen auf Schritt und Tritt beobachten.
Jeder Mensch in China erhalte, so hieß es in den Berichten, verpflichtend ein Punkte-Konto, das Infos über Finanzen, Familienstand und vergangene Delikte sammelt. Wer bei Rot über die Straße läuft, ein Leihfahrrad nicht zurückgibt oder gar die Partei beleidigt, bekommt Punkte abgezogen. Die Folge? Man kann Zugreisen oder Flugtickets nicht mehr buchen oder darf bestimmte Versicherungen nicht mehr abschließen. Andersrum bekommt man mit gutem Punktestand bessere Chancen auf einen Parteibeitritt, oder immerhin auf Dating-Apps. China: Auf dem Weg in die IT-Diktatur.
„Diese Vorstellung hat mehr mit Fiktion als mit der Realität zu tun“, sagt Katharin Tai, die in Politikwissenschaften promoviert und sich unter anderem auf Chinas Cyberdiplomatie spezialisiert hat. „Es gibt kein landesweit übergreifendes System, das das Sozialverhalten der chinesischen Bevölkerung kontrolliert und mit Punkten bewertet.“
Aber woher kommen dann die Berichte? Der Entwurf für die Entwicklung eines Sozialkreditsystems stammt aus dem Jahr 2014. Dieses sollte kitten, was in den letzten Jahren immer brüchiger geworden war: Vertrauen in chinesische Behörden und Unternehmen. Denn nach der Öffnung des Landes lag die Priorität in der Wirtschaft auf Wachstum: so schnell und so viel wie möglich. „Deshalb war China lange ein Markt, in dem quasi alles ging.“ erklärt Katharin Tai. „Dann machen Firmen eben alles, was für Wachstum sorgt.“ Und vernachlässigten die Sicherheit der Produkte, die sie verkaufen. So folgte Anfang der 2000er Jahre in China ein Lebensmittelskandal auf den nächsten.
Der größte war der Milchskandal von 2008, bei dem sechs Babys an mit Melamin gepanschtem Milchpulver starben. 300.000 weitere erkrankten an Nierensteinen oder Nierenversagen. Nur ein Jahr nach Bekanntwerden des Skandals ließ die Regierung zwei Angeklagte hinrichten. Doch da war es schon zu spät: Das Vertrauen von 1,4 Milliarden potenziellen Konsument:innen in Chinas Verbrauchermarkt lag am Boden. Der Kommunistischen Partei (KPCh) wurde klar: Wenn wir China auf Wachstumskurs halten wollen, müssen wir jetzt handeln.
„Eine Idee hinter dem Sozialkreditsystem war, für Transparenz zu sorgen: Kann ich dieser Firma trauen? Oder haben Beschäftigte dieser Firma in der Vergangenheit gegen Regeln verstoßen?“ erklärt Katharin Tai. Das heißt: Eigentlich geht es beim Sozialkreditsystem weniger um die Bewertung von Individuen, und mehr um die Vertrauenswürdigkeit chinesischer Unternehmen.
Im selben Zuge konnte die chinesische Regierung auch eine Bewertung der Kreditfähigkeit der Bürger:innen einrichten. Denn in China gab es bis zu den Plänen für das Sozialkreditsystem keine Institution wie die Schufa, die Informationen über die Bonität der chinesischen Bevölkerung geben konnte. Denn so hatte man nicht nur 1,4 Milliarden skeptische Konsument:innen. Sondern auch 1,4 Milliarden Menschen ohne Zugang zu Krediten. Aber: Kredite gleich Konsum, und Konsum gleich Power-Boost für die lahmende chinesische Wirtschaft.
So sollte das Sozialkreditsystem zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits das zerrüttete Vertrauen in den chinesischen Verbrauchermarkt wiederherstellen. Andererseits der Bevölkerung ermöglichen, Kredite aufzunehmen, die fehlende Investitionen aus dem Ausland auffangen sollten.
Was ist aus diesem System geworden? Der Entwurf von 2014 sah eine Planungsphase bis 2020 vor. Einige Stadtregierungen haben Pilotprojekte begonnen, wie beispielsweise das freiwillige Projekt „Ehrliches Shanghai“, in dem Nutzer:innen ihr Verhalten in „sehr gut“, „gut“ oder „schlecht“ einteilen lassen können. Wer gut abschneidet, bekommt beispielsweise eine kostenlose Karte in der öffentlichen Bibliothek. Negative Konsequenzen gibt es keine.
Katharin Tai erklärt: „Projekte, die als besonders innovativ oder wichtig gelten, werden von Lokalregierungen der chinesischen Provinzen gerne übernommen. Ähnlich wie in Deutschland. Sie heben das Ansehen einer Stadt, und vielleicht bekommt man noch Fördergelder dafür.“
So etikettieren Beamte neue Projekte gerne mit dem Begriff „Sozialkreditsystem“. Aber nicht überall, wo „Sozialkreditsystem“ drauf steht, ist auch „umfassende 24/7 Totalkontrolle jedes Individuums“ drin. So ähnlich, wie die Plakette „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ oft nur genau das ist: eine nette Plakette.
Ein Sozialkreditsystem braucht die chinesische Regierung zur Überwachung ohnehin nicht - sie hat andere Methoden entwickelt. Zum Beispiel in Xinjiang, wo die chinesische Regierung ein bisher beispielloses System einsetzt, um die muslimischen Uiguren zu überwachen.
Mythos Nr. 2: Dass die chinesische Bevölkerung so gebrainwashed ist, ist allein Schuld der Kommunistischen Partei
Was passiert, wenn einem das Gehirn gewaschen wird? Etwa das, was die Journalistin Connie Mei Pickart über ein gemeinsames Abendessen mit chinesischen Freund:innen schreibt. Als Pickart die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang anspricht, sagen ihre Freund:innen:
„Was weißt du schon über Xinjiang?“
„Westliche Medien verstehen China einfach nicht!“
„Wenn sie keine bessere Lösung für das Xinjiang-Problem haben, sollen sie einfach den Mund halten!“
Warum streiten so viele Menschen in China diese und andere Vorwürfe vehement ab? Oder wissen gar nicht erst davon? Die einfache Antwort wäre: Sie sind halt brainwashed. Die komplizierte Antwort ist… nun, etwas komplizierter. Sie besteht aus zwei Teilen.
Der erste Teil liegt auf der Hand: Die chinesische Regierung leugnet und vertuscht die Vorwürfe. Ihr Lügengebilde wird vom größten Zensurprogramm der Welt gestützt, der Great Firewall. In China ist ein Parallel-Internet hinter dieser Zensurwand entstanden. Wer zum Beispiel auf Douyin, dem chinesischen Tiktok, nach „Xinjiang“ sucht, findet Travel-Influencer. Sie schwärmen von der schönen Landschaft, von dem guten Essen und filmen glückliche Kinder.
Kurz und knapp: Nutzer:innen des chinesischen Internets ist es nicht möglich, sich unabhängig über die Welt, in der sie leben, zu informieren.
Der zweite Teil hat mit uns und unserer Berichterstattung über China zu tun.
Stell dir vor, du wohnst in einem Land namens Ankalor. In Ankalor bricht ein Virus aus, das sich rasch über die ganze Welt ausbreitet. Ebenso rasant breiten sich Berichte aus, die von einem „gefährlichen Ankalor-Virus“ sprechen. In Talkshows diskutiert man darüber, ob Gaststudierende aus Ankalor eine Bedrohung für die lokale Bevölkerung darstellen. Und irgendwer gräbt ein Video aus, in dem angeblich eine Frau aus Ankalor eine Fledermaus verspeist - eine Flut rassistischen Hasses ergießt sich über Menschen aus Ankalor. Sie sollen mit ihren unzivilisierten Essgewohnheiten ganz allein für die Pandemie verantwortlich sein, die über den Planeten fegt.
Würdest du der Berichterstattung aus diesen Ländern noch trauen?
Nein? Das ist der Punkt: Trotz der Firewall bekommt man es in China genau mit, wie in Europa und Amerika über China berichtet wird. Und neben der Zensur verstärken zugespitzte oder übertriebene Berichte über China das Misstrauen von Chines:innen gegenüber dem Westen.
Wo wir gerade beim Sozialkreditsystem waren: Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, spotteten chinesische Nutzer:innen über die Berichte, alle Chines:innen würden Tag und Nacht überwacht: „Klar, und so sieht das aus: 726 Punkte: Bürger zweiter Klasse, unter Beobachtung; 0 Punkte: Bewerbung für Kriminalitäts-Stop Programm; - 287 Punkte: unverzügliche Exekution“, schreibt zum Beispiel einer.
Und als das Wall Street Journal einen Artikel mit „China Is The Real Sick Man Of Asia“ betitelte, brach im chinesischen Internet ein Sturm der Empörung los. Denn China wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von jener Kolonialmacht als der „kranke Mann Asiens“ verhöhnt, die das Land in seine größte Krise stürzte: Großbritannien.
Shitstorms in China über europäische oder amerikanische Berichterstattung haben oft einen nationalistischen Unterton und werden auch von der chinesischen Regierung selbst forciert. Dennoch stehen sie für ein echtes Gefühl: Der Westen will und kann uns nicht verstehen. Wenn man dann noch einberechnet, dass Europa und Amerika es selbst mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen (siehe europäische Außengrenzen oder George Floyd) kommt natürlich das dabei raus, was Connie Mei Pickart über ihre Freunde schreibt: Was wollt ihr uns schon sagen? Kümmert euch besser um eure eigenen Probleme!
Schlechte Berichterstattung über China macht es nicht legitimer, Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang zu leugnen. Aber es macht nachvollziehbarer, warum die Berichte darüber von vielen Chines:innen sofort angezweifelt werden.
In dieser Straßenumfrage zum US-Boykott der Olympischen Winterspiele in Beijing findest du viele der Reaktionen, die ich oben beschrieben habe: „Die USA sollen sich um ihre eigenen Probleme kümmern“, „den USA geht es nur um Verleumdung Chinas“, und „die Berichte sind nicht wahr oder übertrieben.“
Mythos Nr. 3: China will die USA ablösen
China hat schon einmal die Welt beherrscht.
Naja, nicht ganz. Aber das chinesische Kaiserreich war jahrtausendelang - ja, zwei Jahrtausende lang - beinahe durchgängig der Dreh- und Angelpunkt der Macht in Asien.
Anfang des 20. Jahrhunderts war von diesem Glanz nichts mehr übrig. Nach dem 1. Opiumkrieg zwangen die Briten China 1843, mehrere Häfen für den Handel zu öffnen und Hongkong an Großbritannien abzutreten. Ein Schock für das Kaiserreich, in dem die Vorherrschaft über andere Länder so sicher galt wie die Schwerkraft. Und das immer selbst seinen Handelspartnern jegliche Bedingungen diktiert hatte. Die Welt in China stand plötzlich Kopf.
1912 starb das chinesische Kaiserreich seinen quälend langsamen Tod. Im Machtvakuum, das es hinterließ, folgte ein Albtraum auf den nächsten: Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten, anarchische Gewalt in der Bevölkerung, eine brutale Invasion Japans während des Zweiten Weltkriegs. Kurz: China, das sich einst als das prunkvollste Reich der Erde verstand, lag in Scherben.
„Das ist ein historisches Trauma, das heute noch sehr stark wirkt“, sagt Nis Grünberg, der am MERICS Institut unter anderem zur Kommunistischen Partei Chinas forscht. „Vor 300 Jahren war China mehr oder weniger autark. Dahin will die Führung das Land zurückbringen.“ Dabei soll China zu einem Gegenentwurf des Westens werden: „Xi Jinping spricht von einer chinesischen Zivilisationsmacht, die ihre Sprache, Schrift und Kultur selbst entwickelt und gestaltet hat,“ erklärt Nis Grünberg.
Wir werden China immer falsch verstehen, wenn wir einfach die Schablone „westlicher Imperialismus“ auf das Land legen. Auch wenn Xi Jinping auf die - notfalls gewaltvolle - Vereinigung mit Taiwan hinarbeitet: China will nicht, wie die USA, Weltpolizei spielen. China plant auch nicht, morgen in die Mongolei und übermorgen in Finnland einzufallen. Stattdessen soll niemand mehr - egal ob der Westen, Japan oder eine andere geopolitische Macht - China derart demütigen können, wie Großbritannien und Japan es getan haben.
Xi Jinping ist ein bisschen wie Trump: Xis Ziel ist die Wiedergeburt der chinesischen Nation, oder übersetzt: Make China Great Again. Mach China wieder zu einer unabhängigen, autarken und angesehenen Nation.
Mythos Nr. 4: Die Bevölkerung sehnt sich nach Demokratie
Ich habe nie so viel über chinesische Perspektiven auf Demokratien gelernt wie in einem überfüllten Bus, der zu meinem Arbeitsplatz in einer Shanghaier Vorstadt tuckerte. Das Coronavirus war gerade auch in Europa angekommen, und vor einigen Monaten hatte die Polizei die Proteste in Hongkong mit Gewalt niedergeschlagen. Mein Sitznachbar fing ein Gespräch mit mir an:
„Was denkt ihr in Europa so über unsere Regierung?“ Ich schluckte etwas.
„Nun ja…“ stotterte ich. „Viele denken an Überwachung und Kontrolle. Ich glaube, die meisten halten nicht viel von der Kommunistischen Partei.“
Der Mann neben mir war nicht besonders überrascht. „Und warum glaubt ihr, euer System ist besser?“ fragte er.
„Naja.. in einer Demokratie ist man frei. Man kann man machen, was man will.“ versuchte ich zu erklären.
„You call it democracy.“ erwiderte er unbeeindruckt. „We call it demoCRAZY.“
Warum hatte mein Sitznachbar für die Demokratien der Welt nichts weiter als ein müdes Lächeln übrig? Wenn er aus China in die Demokratien der Welt blickt, sieht er Chaos, Gewalt und Unsicherheit. Chinesische Staatsmedien berichten genüsslich über Waffengewalt und Amokläufe in Amerika, über Terroranschläge und eine Flüchtlingskrise nach der nächsten in Europa. Für die KPChist klar: In einem Staat wie China darf so etwas nicht vorkommen. Denn es bedroht den Gesellschaftsvertrag, den die KPCh mit der Bevölkerung abgeschlossen hat: Ihr verzichtet auf euer Recht auf politische Beteiligung. Dafür sorgen wir für Wohlstand, Harmonie und Ordnung. Das funktioniert im Großen und Ganzen ziemlich gut: Viele Chines:innen leben heute in einer finanziellen und persönlichen Sicherheit, die vor 30, 40 Jahren nicht denkbar gewesen wäre.
Und so lange sich die Demokratien der Welt abmühen mit Finanzkrisen, politischer Spaltung und gewaltvollen Protesten, wie dem Sturm auf das Kapitol 2021, können chinesische Staatsmedien fortlaufend behaupten: Chinas System ist effizienter und resilienter. Politische Beteiligung der Bürger:innen, das Recht auf Streik oder Protest, parlamentarische Prozesse? Brauchen wir nicht.
Natürlich gibt es auch in China Menschen, die mit dem System unzufrieden sind: Menschen wie Li Ying, Unterstützer der Proteste gegen die chinesischen Coronamaßnahmen. Er musste mittlerweile das Land verlassen. Oder Li Eryang, der eine Hippie-WG namens „The Republic“ mitten in Beijing gründete. Und die vielen jungen Erwachsenen, die sich im „Flachliegen“ Trend auf Social Media der kapitalistischen Leistungsgesellschaft entziehen.
Systemkritik in China hat also viele Gesichter. Nicht alle von ihnen wollen gleich das ganze System stürzen.
Mythos Nr. 5: China ist ein kommunistisches Land!
In diesem Raum segnet der Volkskongress die Entscheidungen der Kommunistischen Partei ab:
Wie aus dem Lehrbuch, oder? Aber nicht nur dem Anschein nach ist China heute noch kommunistisch. Noch heute kontrolliert die Kommunistische Partei den Bankensektor und die wichtigen Energie- und Schwerindustrien. Und wenn ihr in der Wirtschaft etwas nicht passt, interveniert sie gerne mal - das hat zuletzt der Unternehmer Jack Ma zu spüren bekommen.
Um die gerechte Verteilung des Wohlstandes sicherzustellen, fördert die Regierung durch verschiedene Programme die Bildung und Gesundheit der Bürger:innen. Zum Beispiel erhalten Schüler:innen einer ethnischen Minderheit Bonuspunkte in ihrer zentralen Abschlussprüfung, die ihre Chancen auf ein Studium erhöhen sollen.
Sogar Präsident Xi Jinping sagte kürzlich, China sei auf dem besten Weg, die nächste Stufe der sozialistischen Modernisierung des Landes anzutreten.
Wenn du dich etwas mit China auskennst, dann hast du hoffentlich spätestens jetzt die Augenbrauen gehoben. Und wenn dir nicht aufgefallen ist, dass ich bei den letzten zwei Absätzen die Wahrheit ziemlich verzerrt habe, bist du gerade auf astreine Propaganda der kommunistischen Partei reingefallen. Denn nicht nur westliche Medien sind ziemlich gut darin, Mythen über China zu erfinden. China selbst ist es auch.
Kommunistisch ist an China nichts mehr.
Mit Mao Zedong starb 1976 auch die Zeit radikaler sozialistischer Experimente in China. Seitdem ist der Wohlstand in China gewachsen: So wuchs zum Beispiel der Anteil Chinas am globalen Bruttoinlandsprodukt von 2 Prozent im Jahre 1980 auf heute 18 Prozent. Doch dieser Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Das zwingt die arme Landbevölkerung, als Wanderarbeiter:innen in die Städte zu migrieren, wo sie sich als Essenslieferanten oder Taxifahrer:innen verdingen müssen. Wenn du schon in Deutschland manchmal das Gefühl hast, die Straßen bestünden nur noch aus Deliveroo-Radlern: In Chinas Großstädten sitzt auf jedem zweiten Motorrad ein völlig überarbeiteter Lieferkurier. Und nicht nur deren Arbeitsrechte sind kaum bis gar nicht geschützt. Die Gründung unabhängiger Gewerkschaften ist in China ist verboten. Einen Mindestlohn gibt es zwar, aber er ist lachhaft niedrig - in Shanghai, einer der teuersten Städte der Welt, liegt er bei umgerechnet knapp 400 Euro im Monat.
Und dann wäre da noch Hukou, ein Registrierungssystem, das zu Mao Zedongs Zeiten Essen, Bildung und Arbeit an dem Ort garantieren sollte, an dem ein:e Bürger:in sich registrierte. Und praktischerweise auch noch verhinderte, dass die Landbevölkerung massenhaft in die Städte abwanderte. Heute sorgt es dafür, dass Millionen Wanderarbeiter:innen in den Städten keinen Anspruch auf Schulplätze, soziale Versorgung oder subventionierten Wohnraum haben - obwohl sie ohnehin zu den ärmsten Menschen der Stadtbevölkerung gehören.
Xi Jinping mag das „Sozialismus mit chinesischen Charakter“ nennen. Das ändert aber nichts daran, was es eigentlich ist: ein elitärer, autoritärer Staatskapitalismus.
Es ist einfach, sich über fremde und ferne Diktaturen aufzuregen. Das tut gut, und man fühlt sich danach besser, irgendwie überlegen. Aber damit gehen wir den Autokraten in die Falle. Denn für absurde Schlagzeilen zu sorgen, ist ihr Ablenkungsmanöver.
„China ist ein radikaler Überwachungsstaat“ ist eben leichter zu verdauen als „China ist fragmentierter Staat voller Widersprüche, in dem viele policys nicht so funktionieren wie die KPCh das gerne hätte, auch wenn sie Profi darin ist, das nach außen anders aussehen zu lassen“. Deswegen erfindet die KPCh selbst ständig Mythen über ihr Land.
Wir sollten ihr nicht den Job abnehmen.
Emily Kossak
Krautreporter 20.3.2024
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