Feb 13, 2024 11:27
Ursprung der Normannen Vom Piraten zum Fürsten: Wie der legendäre Wikingerführer Rollo die Normandie gründete
Über Jahrhunderte prägten die Normannen als Ritter und Könige die mittelalterliche Welt. Doch ihre glanzvolle Geschichte begannen sie als plündernde Piraten: Die Banden ihrer wikingischen Vorfahren machten lange die Küsten Europas unsicher, raubten und mordeten. Im Jahr 911 aber schloss der skandinavische Seeräuber Rollo ein wegweisendes Abkommen mit dem fränkischen König. Die Allianz ließ den Nordmann nicht nur zum Grafen von Rouen aufsteigen. Sie bedeutete auch: die Geburtsstunde der Normandie, der normannischen Urheimat
So könnte es gewesen sein: ein Herbsttag im Jahr 911, zwei Zeltlager, die sich an den Ufern des kleinen Flusses Epte, auf halbem Weg zwischen Paris und Rouen, gegenüberliegen. In den beiden Lagern: ungleiche Männer, die sich über das Wasser hinweg argwöhnische Blicke zuwerfen; Wikinger, räuberische Seekrieger aus Skandinavien, auf der einen Seite, auf der anderen westfränkische Adelige aus dem Gebiet des heutigen Frankreich.
Erst einige Wochen ist es her, dass sich diese Kämpfer vor der Stadt Chartres, südwestlich von Paris, eine Schlacht geliefert haben, in der Tausende umgekommen sind. Die Franken konnten die Wikinger dabei in die Flucht schlagen, doch es war klar, dass auch dieser Sieg keinen dauerhaften Frieden bringen würde. Zu oft haben die Nordmänner das Reich schon überrannt, zu oft ist niemand in der Lage gewesen, sie wirklich daran zu hindern, weiter und weiter ins Landesinnere vorzustoßen, zu rauben, zu morden, zu vergewaltigen. Der Sieg bei Chartres, der Moment der Stärke, aber eröffnet den Franken eine kostbare Möglichkeit: zu verhandeln.
Und so steht an dem einen Ufer der Epte an diesem Herbsttag der westfränkische König Karl aus dem Geschlecht der Karolinger und auf dem gegenüberliegenden: Rollo, ein ehrfurchtgebietender Skandinavier, Chef eines gefürchteten Wikingerverbands, der nun schon seit mehr als 30 Jahren im Reich der Westfranken wütet. Nachdem der Nordmann den Fluss überquert hat, beginnt die Unterredung.
Das Angebot, das der König vorlegt, ist spektakulär. Er will Rollo einen Teil seines Landes übertragen, ihm und seinen Nachfahren zum Eigentum, möchte ihm überdies seine Tochter zur Frau geben - beides würde dem Wikinger Zugang zu den höchsten Rängen des fränkischen Adels eröffnen. Dafür fordert Karl auch Gegenleistungen: Rollo muss den Raubzügen in seinem Reich abschwören und es gegen andere plündernde Wikinger verteidigen. Zudem soll er sich taufen lassen und dem König auch gegenüber weiteren Feinden militärischen Beistand leisten. Die Offerte, die Unterhändler des Herrschers schon in den Wochen zuvor mit dem Nordmann erörtert haben, ist zu verlockend: Rollo willigt ein. Und so besiegeln die beiden nach kurzer Zeit ihre denkwürdige Einigung.
Niemand weiß, ob sich das Treffen an der Epte genauso zugetragen hat. Der Kleriker Dudo von Saint-Quentin, der davon als einziger Chronist in seiner etwa 100 Jahre später geschriebenen Geschichte der Normannen berichtet, erzählt eher eine mit viel Fantasie gestaltete Legende, die Rollo und seine Nachfolger in bestem Licht erstrahlen lassen soll. Eines jedoch steht fest: Es muss ihn gegeben haben, jenen folgenreichen Moment der Übereinkunft.
Und es ist ein erstaunliches Abkommen, das den skandinavischen Piraten Rollo zum Grafen von Rouen werden lässt. Noch erstaunlicher aber ist, was aus seiner Grafschaft bald hervorgeht. Denn das Bündnis zwischen Monarch und Nordmann, mutmaßlich vereinbart nahe dem kleinen Ort Saint-Clair-sur-Epte, legt den Grundstein für einen weitaus größeren, beispiellosen Wandel: Innerhalb von nur einigen Jahrzehnten werden in jenem den Wikingern vermachten Territorium nördlich von Paris aus marodierenden heidnischen Horden gute Christen, die nach fränkischer Sitte leben. Werden aus brutalen Invasoren Stützen des Reiches, aus fremden Räubern einheimische Ritter. Zugleich aus früheren Leidtragenden treue Untertanen, die gemeinsam mit den neuen Herren ein aufblühendes Gemeinwesen erschaffen. Das Bündnis zwischen Rollo und Karl markiert nicht weniger als die Geburtsstunde der Normandie.
Generationenlang haben die Wikinger nichts erschaffen, sondern nur zerstört. So zumindest sehen es die Bewohner an den europäischen Küsten, die von ihnen heimgesucht werden. Anfangs noch kennen die Menschen dieser Gestade die Männer aus dem Norden vor allem als friedliche Händler, die auf ihren Schiffen während der Sommermonate anlanden, Felle, Holz und getrockneten Fisch mitbringen und am Ende der warmen Jahreszeit mit Wein, Glas, Getreide und Waffen wieder nach Hause zurückkehren.
Bald jedoch ändert sich das. Denn gegen Ende des 8. Jahrhunderts verlassen immer mehr skandinavische Männer für solche Fahrten ihre Heimat, gründen in der Fremde bald auch erste Stützpunkte, zunächst auf den Schottland vorgelagerten Inseln wie den Orkneys. Schon jetzt zögern die Wikinger nicht, gewaltsam zu plündern, wenn sich ihnen keine Möglichkeit zum Handel bietet.
Doch erst der brutale Überfall auf das Kloster Lindisfarne auf einer Insel vor Nordostengland im Jahr 793 bringt die Männer aus dem Norden schlagartig in das Bewusstsein der europäischen Christenheit. Die Gräueltaten entsetzen die Gläubigen und mahnen ihre Herrscher, sich gegen die neue Gefahr zu wappnen. Zu Recht: Bald tauchen die Wikinger auch weiter im Süden auf, etwa an der friesischen Küste in den heutigen Niederlanden, einem Gebiet, das damals zum Frankenreich Karls des Großen gehört, plündern, bringen Tod und Zerstörung.
Was die Skandinavier genau antreibt, ist bis heute ein Rätsel. Ist es die Kargheit ihrer Heimat, der Hunger nach jenen Reichtümern, die viele von ihnen auf ihren Handelsreisen in fremden Städten zu Gesicht bekommen haben? Oder sind gerade die ersten brutalen Überfälle auf das Fränkische Reich eher eine Reaktion auf andere Gewalt, auf das Streben Karls des Großen, das Christentum nach Norden zu tragen - mit oft nicht weniger brutalen Mitteln?
Wie dem auch sei: Die größte Stärke der Nordmänner ist bald schon die Schwäche des Frankenreiches. Zu Beginn der Überfälle gebietet Karl der Große zwar noch fest über das gewaltige Imperium, das sich von der Nordsee bis zum Mittelmeer, von der Donau bis zu den Pyrenäen erstreckt. Und der Herrscher reagiert schnell, lässt Schiffe bauen und Wachposten entlang der Küsten errichten. Noch unter seinem einzigen Sohn Ludwig dem Frommen können die Maßnahmen zum Schutz der Meeres- und Flussufer Schlimmeres verhindern.
Aber in den 830er Jahren verstricken sich Ludwig und seine Söhne in einen erbitterten Machtkampf, unter dem auch die Verteidigung des Reiches leidet. Die Wikinger nutzen die Chancen, die sich für sie ergeben - und aus gelegentlichen Überfällen werden regelmäßige Beutefahrten. Jeden Sommer attackieren sie fortan die fränkischen Küsten, dringen entlang der Flüsse in immer größeren Flottenverbänden immer tiefer ins Land, plündern etwa Rouen an der Seine, überfallen Städte an Loire und Garonne, weiter im Osten auch Hamburg. Später werden sie weit den Rhein hinauffahren und unter anderem Köln und Bonn heimsuchen.
Ihr Trumpf dabei sind ihre Schiffe, schlank und doch ungeheuer stabil, mit Segeln und Ruderreihen bestückt, von einer Schnelligkeit, der die Gefährte der Franken kaum etwas entgegenzusetzen haben. In ihrer von Küsten, Inseln und Sunden geprägten Heimat haben die Wikinger ihre Schiffstechnik über Jahrhunderte perfektioniert. An den Ufern der fremden Flüsse verlassen die Nordmänner aber auch vielfach ihre Fahrzeuge, rauben Pferde, auf denen sie weiter übers Land jagen. Zu Hunderten, mitunter wohl auch zu Tausenden unternehmen sie ihre Raubzüge. Jeder Krieger führt meist mehrere Waffen mit sich: Schwert, Axt, Messer, oft einen Speer. Schilde, womöglich auch Lederpanzer oder Kettenhemden schützen den Körper im Gefecht.
Wo aber die Kämpfe stattfinden, wann die Wikinger als Nächstes zuschlagen, kommt für die Gegner meist überraschend, ohne jegliche Vorankündigung. Die Plünderer bevorzugen Orte abseits der befestigten Städte. Klöster mit ihren Schätzen gehören zu den bevorzugten Zielen: Die Männer tauchen plötzlich nachts vor deren Toren auf oder greifen zu religiösen Festtagen an, wenn alle zum Gottesdienst versammelt sind.
Chronist Dudo beschreibt später das Grauen, das sich den Franken wieder und wieder ins Gedächtnis brennt: Die Angreifer schneiden ihren "unglücklichen Opfern mit dem Schwert die Kehle durch. Die Geistlichen werden gepeinigt und erleiden einen schrecklichen Tod. Die Frauen werden, nachdem sie von vielen von ihnen entehrt wurden, weinend in die Fremde verschleppt."
Um 850 kehren die brutalen Räuber aus dem Norden am Ende des Sommers teils gar nicht mehr nach Skandinavien zurück, sondern überwintern stattdessen auf fränkischem Boden, zunächst meist auf vorgelagerten Inseln. Von diesen Stützpunkten, bald auch von permanenten Siedlungen aus können sie immer leichter größere Armeen zusammenziehen.
Inzwischen haben die drei noch lebenden Söhne des verstorbenen Kaisers Ludwig das Reich unter sich aufgeteilt. Ihre Machtposition gegenüber den Wikingern hat das nicht verbessert: Meist sehen die Herrscher keine andere Möglichkeit, als die Plünderer durch hohe Tributzahlungen zum Abzug zu bewegen. Doch gibt es noch einen weiteren Weg, den Eindringlingen zu begegnen.
Denn die Suche nach Land, auf dem sie sich dauerhaft niederlassen können, scheint für die Nordmänner nun immer wichtiger zu werden. Um 865 fallen Heerscharen von Skandinaviern über England her und erobern große Gebiete im Norden und Osten des Inselreichs, wo sich in der Folge viele Dänen ansiedeln. Mehrfach versuchen fränkische Herrscher daher, Bündnisse mit Wikingern zu schließen, indem sie ihnen Gebiete abtreten, etwa in Friesland, um sie zu befrieden und darüber hinaus zur Landesverteidigung zu verpflichten. Die Allianzen scheitern aber allesamt nach kurzer Zeit; die betreffenden Wikingerführer erweisen sich als treulose Partner oder sind selbst zu schwach, um sich gegen Konkurrenten zu behaupten.
Geo 9.2.2024
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