Sep 26, 2023 17:46
„In China gibt es mehr Leser von Kant und Nietzsche als in Deutschland“
Der Künstler Chen Hongjie befasst sich mit Kant, Nietzsche und Max Weber. Chinas Interesse an den deutschen Geistesgrößen erklärt den Aufstieg des Landes.
Michael Maier
Die Ausstellung des Kalligrafen und Wissenschaftlers Chen Hongjie von der Peking-Universität zeigt am Konfuzius-Institut der Freien Universität Berlin eine Zusammenführung chinesischer Kalligrafie mit der deutschen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Chen befasst sich mit wichtigen Begriffen und Konzepten von Philosophen, Dichtern und Wissenschaftlern. Die Ausstellung wurde vom Künstler anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und China konzipiert.
Chen Hongjie ist Professor für Bildungs- und Hochschulforschung an der Peking-Universität. Er erlernte bereits als Kind die chinesische Schreibkunst. Seitdem ist die Kalligrafie fester Teil seines Lebens. Seine Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen in China, Deutschland, Österreich, Italien, Japan und Kanada präsentiert.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Ausstellung mit fünf deutschen Persönlichkeiten. Welche sind das?
Es handelt sich um Kant, Goethe, Wilhelm Humboldt, Nietzsche und Max Weber. Das sind große Denker der neuen deutschen Geschichte. Diese fünf Personen sind in China sehr bekannt, werden sehr viel gelesen. Ich behaupte, in China gibt es mehr Leser dieser fünf Personen als in Deutschland.
Seit wann ist das so?
Seit den 1980er-Jahren. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es bereits ein Goethe-Fieber. Humboldt und Nietzsche sind erst seit 1980 vielfach gedruckt worden und werden seither gelesen.
Was gefällt den Chinesen an Kant? Die Ethik?
Ja, die „Kritik der reinen Vernunft“. Aber vor allem seine Ästhetik, die „Kritik der Urteilskraft“. Kant ist ein einzigartiger Kenner der Ästhetik der Vergangenheit und der Moderne. Kant ist schwer zu verstehen, aber viele Chinesen machen sich die Mühe und versuchen es.
Hat Kant Ähnlichkeiten mit der chinesischen Philosophie?
Nein, die chinesische Philosophie geht einen völlig anderen Weg. In der chinesischen Philosophie hat jeder Begriff umfassende Bedeutungen, und die werden analysiert. Aber der Begriff ist auch ein Bild, daher ist die chinesische Philosophie auch eine Frage des Gefühls, nicht so streng rational wie die deutsche.
Ist Kant so interessant, weil er so anders ist, oder gibt es ein gemeinsames Ziel, das auf unterschiedlichem Weg erreicht werden kann?
Ja, man kann ein gemeinsames Ziel erkennen. Kant hat zum Beispiel gesagt: Der Mensch ist der Zweck. So ähnlich sieht es Konfuzius auch.
Und Nietzsche?
Nietzsche ist besonders. Er spricht vor allem die Stimmung von jungen Chinesen an. Die gesamte Haltung zu Tradition und Konventionen - viele wollen etwas Neues probieren und wagen, da kann man mit Nietzsche viel anfangen.
Also Gott ist tot, und nach der Zerstörung kommt ein Neuanfang?
Auch die Zerstörung ist eine Aufgabe der jungen Generation. Sie haben das Ziel, die vorhandene Ordnung zu zerstören. Es ist der kämpferische Protest der Jugend gegen die herrschenden Zustände.
Ist der Protest jetzt wieder stärker?
Der Protest ist jetzt weniger. In den 1990er-Jahren gab es ein regelrechtes Nietzsche-Fieber, da wurde alles gelesen. Jetzt ist alles etwas nüchterner geworden. Das hat auch mit der Veränderung des gesamten politischen Klimas zu tun. Und doch ist es so, wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, da gibt es immer noch eine ganze Abteilung mit Nietzsche.
Was fasziniert an Max Weber?
Er ist ein großer Meister für uns. Er hat nicht nur die protestantische Ethik des Kapitalismus im Westen dargestellt, sondern auch die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Dazu gehören auch der Konfuzianismus und der Taoismus. Seine Studien werden in China sehr stark rezipiert. Er hat die Entwicklung der Moderne mit einem sehr scharfen Blick beschrieben, etwa den Prozess der Rationalisierung. Denn das betrifft auch die Entwicklungen in China.
Goethe?
Goethe ist ein Genie. Er kennt Kunst, Natur und Naturwissenschaften. Wir haben im Studium alles gelesen, auch die Gedichte. Besonders bekannt und beliebt sind in China „Die Leiden des jungen Werther“.
Das ist allerdings ein sehr individualistisches Buch, während in China der Kollektivismus als Ideal gilt …
Genau deswegen wollten die Jungen das Buch lesen, sie wollten den Individualismus. In der chinesischen Tradition wird das Individuum geringgeschätzt. Die Jungen wollten dagegen individualistische Persönlichkeiten kennenlernen.
Ist das immer noch so, dass Werther gern gelesen wird?
Leider wird heute insgesamt viel weniger klassische Literatur gelesen.
Humboldt?
Ist in unserem Bereich - der Universitäten und der Bildung - sehr wichtig. Ich habe meine Dissertation über Humboldt geschrieben und auch selbst übersetzt. Ich mag seine Begriffe wie Freiheit und Einsamkeit sehr. Wenn man die deutschen Universitäten verstehen will, ist Humboldt ganz zentral, wichtiger als Kant oder Schleiermacher.
Gilt das auch für die moderne deutsche Universität?
Die deutsche Universität bietet heute ein ganz anderes Bild als noch in den 1970er-Jahren. Die Tradition Humboldts in der Form von damals gibt es kaum noch. Das finde ich schade. Der Universitätsbetrieb ist sehr bürokratisch geworden, es gibt viele Regelungen, Evaluierungen. Das ist etwas anderes als die von Humboldt beschriebene umfassende Freiheit.
Ist das an chinesischen Universitäten anders?
Wir haben ähnliche Entwicklungen. Es ist ein weltweiter Trend. Die Idee vom freien Denken und Forschen wird überall zurückgedrängt zugunsten der Ausbildung von Spezialisten. Natürlich braucht die Welt Spezialisten. Aber die Art und Weise, wie wir heute Menschen ausbilden, ist völlig anders als bei Humboldt. Die Bildungspolitik orientiert sich zu stark an Nachfrage und Nützlichkeit. Das ist an sich kein Problem. Doch wenn man in der Bildung den Menschen vergisst, wird das Ganze zu funktional. Das ist eine weltweite Entwicklung, die ich bedaure. Denn der Kern von Humboldt ist ganz wichtig für die Wissenschaft und die Bildung. Daher wird Humboldt in China immer noch gelesen. Und natürlich gibt es eine Gruppe von Leuten an den Universitäten, die hoffen, dass der Trend wieder zu Humboldt gehen wird.
Ist Ihren deutschen Kollegen das Problem auch bewusst?
Mit unseren deutschen Kollegen sprechen wir eher über gegenwärtige Probleme, wie etwa Elite-Universitäten oder Fachhochschulen, Fragen der Finanzierung.
Warum haben Sie eigentlich Germanistik studiert?
Das war reiner Zufall. Bei der Auswahl einer Fremdsprache wurde mir Deutsch zugeteilt. Ich habe es nie bereut.
Können Sie in China Einfluss auf Bildungspolitik nehmen, wenn etwas aus Ihrer Sicht in die falsche Richtung läuft?
Das machen wir. Die Peking-Universität ist eine Elite-Universität. Wir arbeiten sehr eng mit der Regierung zusammen, denn die Regierung braucht Ratschläge und Thinktanks. Wir können unsere Forschungsergebnisse weitergeben. Wir versuchen, die Politik zu beeinflussen. Aber es gibt Grenzen. Das Ministerium denkt anders als die Universitäten. Man muss Idealist und Realist sein, um zu wissen, was möglich ist.
Sie schicken auch Studenten nach Deutschland?
Ja, wir haben ein Zentrum für Deutschlandstudien gegründet und finanzieren ein Austauschprogramm. Seit mehr als 20 Jahren schicken wir jedes Jahr 20 Studenten nach Berlin.
Wie finden die Studenten Deutschland?
Die meisten wissen, was sie von Deutschland lernen wollen. Früher wurde Deutschland zu 100 Prozent geschätzt. Das ist heute weniger.
Warum?
Die Jungen sagen, dass beim Zugang zum Internet und bei der Geschwindigkeit China besser ist als Deutschland. Viele sehen, dass der Vorsprung Deutschlands nicht mehr so ist wie früher. Nehmen Sie die Autoindustrie, das Elektroauto. In vielen Bereichen sind wir auf gleicher Höhe.
Wie finden es die Studenten, wenn die deutsche Außenministerin ihren Staatspräsidenten einen Diktator nennt?
Die Studenten neigen dazu, ihr Land und ihre Regierung zu verteidigen. Das ist anders als bei früheren Generationen. Die jüngere Generation empfindet Stolz auf ihr Land.
Berliner Zeitung 25.9.2023
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