Aug 10, 2023 15:49
Der Feind im Westen
Moritz Rudolph
Dekadent, machtbesessen, seelenlos - ehrenrührige Klischees vom Westen zirkulieren weltweit. Ein Blick auf ihre historischen Vorläufer zeigt ihre Sprengkraft.
Zu den Lernzielen eines geistes- oder sozialwissenschaftlichen Studiums gehört ein kritisches Verhältnis zum „Orientalismus“. Der Begriff geht auf den palästinensisch-amerikanischen Literaturtheoretiker Edward Said zurück und bezeichnet einen herabwürdigenden Blick auf den exotischen Fremden, der gemäß der globalen Hierarchie im Osten verortet wird, aber eigentlich den gesamten globalen Süden meint. Dieser Blick, so Said, ist keine Privatschrulle, die sich ein paar ungehobelte, selbsternannte Herrenmenschen erlauben, sondern ein Herrschaftskonstrukt, das tief in die DNA des Westens eingeschrieben ist. Dieser konnte sein neuzeitliches Eroberungs- und Ausbeutungsprogramm nur deshalb starten, weil er sich selbst für überlegen und den asiatisch-amerikanisch-afrikanischen Anderen für unterlegen, aber auch irgendwie interessant hielt, sodass er einen Grund hatte, ihn zu unterwerfen. So brachte er ihm die Segnungen seiner Zivilisation und schreckte dabei auch vor rabiaten Mitteln nicht zurück, zu denen er recht häufig griff, da sich der Orientale in seiner Exotik stets davonstahl und immer wieder zur Räson gerufen werden musste. Mystisch, unheimlich und archaisch stand er für das schwer zu Bändigende, ein Stück wilder Natur, der man mit Planungseifer zu Leibe rücken müsse, was dem Westen den ultimativen Herrschaftsauftrag verschaffte.
Nur wenig Aufmerksamkeit wurde indes einem Spiegelphänomen zuteil, das immer deutlicher unsere Gegenwart bestimmt: Neben den Orientalismus, der sich filmisch, politisch und alltagssprachlich weiterhin höchst lebendig zeigt, ist ein Okzidentalismus getreten, der die Verzerrung umkehrt: Nicht nur der Westen hat ein schiefes Bild vom Osten, sondern auch der Osten vom Westen.
Dies zeigt sich etwa in Putins geopolitischen Reden über den schrecklichen Westen, dessen Liberalismus zur Verschwulung der Welt beigetragen habe. Entmännlichung, Transverwirrung, Drogensucht, Korruption und Niedergang seien die Folgen, die er sich mit einem Krieg gegen die westlich-verweichlichte Ukraine vom Hals halten will. Geführt wird er mit dem Z-Symbol, das für Sapad, Westen, steht und den eigentlichen Gegner markiert. Etwas konzilianter im Ton, aber ebenfalls voller Klischees, sind die Reden Xi Jinpings, in denen der Westen arrogant, machtgierig, aggressiv, besserwisserisch, polternd, laut und ungehobelt auftritt, als expansive Krake, der man Grenzen setzen müsse. Einen etwas anderen Okzidentalismus pflegen Islamisten, die den Westen als oberflächliche, entfremdete Glitzerwelt verdammen, die kein Gespür für Echtheit, Sinn und Ewigkeit hat, Hierarchien zerstört und alles Heilige durch atheistische Spöttelei entweiht.
Dekadent, machtbesessen, gierig, oberflächlich und seelenlos - das Bild, das man sich anderswo vom Westen macht, ist kaum schmeichelhafter als die alten Orientalismus-Klischees. Vergleichbar verheerend, werden nun postkolonial Geschulte einwenden, sind die trotzdem nicht, da die Abwertung nach oben weniger schlimm sei als die nach unten. Und der Westen befinde sich oben. Aber stimmt das denn noch? Oder ist das längst vorbei? Wird nicht gerade Wirklichkeit, wovon West-Kritiker seit Jahrzehnten träumen? Der Anteil des Westens an der Weltproduktion schrumpft, sein Einfluss in internationalen Gremien und auf anderen Kontinenten geht zurück, weshalb neue Mächte Fuß fassen und sich als die eigentlichen Imperialisten zu erkennen geben, während Europäer und US-Amerikaner beinahe zurückhaltend auftreten. Der Westen ist nur noch ein Akteur unter vielen, und nicht einmal der schlimmste.
Gerade das macht den Okzidentalismus so gefährlich: Er nimmt sich einen Gegner vor, der nicht mehr so stark und fies ist, wie er einmal war. Das Bild hat sich aber festgesetzt und liefert die Erlaubnis zur Grausamkeit. Schließlich sieht man sich als Opfer und befindet sich im Widerstand, obwohl man längst zum Subjekt der Weltpolitik aufgestiegen ist. Diese Verbindung von Ressentiment und Macht bewirkt eine eigentümliche Opfer-Täter-Umkehr mit gewaltiger Sprengkraft, die sich im Ukraine-Krieg entlädt, den chinesisch-amerikanischen Gegensatz bestimmt und als Damoklesschwert über dem Nahen Osten hängt, wo das iranische Mullah-Regime Israel ins Meer und die Amerikaner über den Ozean treiben will.
Allen Okzidentalisten ist gemeinsam, dass sie den Westen als heimtückische, expansive Macht bezeichnen, die ihrem Glück im Wege steht. Wenn es den Westen nicht gäbe, könnten sie endlich frei sein. Diese Figur, darauf hat Pankaj Mishra hingewiesen, tauchte zum ersten Mal im Widerstand der Deutschen gegen Napoleon auf, der Frankreich als oberflächlich-zivilisiertes Maschinenvolk zeichnete, die Deutschen hingegen als die Ehrlichen, Tiefsinnigen, Gottesfürchtigen, die in den „heiligen Krieg“ zogen. Wer den Dschihad verstehen will, müsse daher Fichte lesen, der seine Studenten auf einen Kampf gegen die Besatzer einschwor, in dem sie entweder die Freiheit oder den Tod finden. Beim Blick auf Putins Russland fallen ebenfalls einige antiwestliche Vordenker auf, die selbst aus dem (heutigen) Westen stammen. Martin Heidegger zum Beispiel, der Lieblingsphilosoph des eurasischen Expansionstheoretikers Alexander Dugin. Oder Richard Wagner, der Prigoschins Schlächtertruppe den Namen gab, und Carl Schmitt. Letzterer ist auch in China ein Star, von dem man sich Impulse für eine Revolte gegen die US-geführte „Einheit der Welt“ erhofft. Die ideologische Frontstellung eines solchen Konflikts kann man beim preußischen Historiker Werner Sombart nachlesen, der den Ersten Weltkrieg als Kampf der „Helden“ gegen die „Händler“ deutete, der aufrichtigen Schwärmer aus Deutschland gegen die Krämerseelen des Westens, also Frankreich und England.
Japanische Shinto-Faschisten dachten wenig später ähnlich, wie eine Konferenz in Kyoto im Jahr 1941 zeigt. Japan war gerade in den Krieg gegen die USA eingetreten, und Wissenschaftler, Intellektuelle und Schriftsteller kamen aus dem ganzen Land zusammen, um die Frage zu diskutieren: „Wie lässt sich die Moderne überwinden?“ Der Westen - der ja im Fall Japans aus dem Osten kam - meinte hier keine Himmelsrichtung, sondern eine zur Gesellschaft geronnene Idee, die man bekämpfte. Entfremdung, Gier und seelenlose Städte - all das wurde dem Westen zugeschrieben, obwohl es in Japan selbst aufkam (und ironischerweise die Grundlage der eigenen Kampfkraft bildete). Der Krieg galt also auch dem inneren Westen, dem Anderen im Eigenen, weshalb er mit besonderer ideologischer Schärfe geführt werden musste. Es ging ja um einen Selbstexorzismus, der von Vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Mit dieser Beobachtung beginnt Ian Burumas und Avishai Margalits Studie zum Okzidentalismus aus dem Jahr 2004, eine kleine Kulturgeschichte des Westhasses von der Romantik bis Al-Qaida. Damals drehte sich noch alles um den Islamismus, eine überschaubare Sekte religiöser Eiferer, deren Machtmittel nie ausreichten, um den Westen so zuzurichten, wie sie es gern getan hätte. Heute sind wir schon eine Stufe weiter, weil der Okzidentalismus die Staatsspitze erreicht hat und in vielen Ländern identitätsstiftend wirkt. Auch ist er nicht mehr den Radikalen vorbehalten, sondern ganz normalen besorgten Bürgern, die finden, dass es so nicht weitergehen kann und deshalb den westlichen Teufel, der hinter allem steckt (globale Ungerechtigkeiten, Krisen, Kriege, Konsumismus, Kapitalismus, Atheismus, Umweltzerstörung, fragile Identitäten und gefährliche Technologien), beim Namen nennen und zur fröhlichen Jagd auf ihn blasen. Zunächst nur in Gestalt der Liberalen im eigenen Land. Doch bald vielleicht auch als Weltkrieg, der wieder einmal in Europa stattfinden könnte, das Islamisten stellvertretend für alle Okzidentalisten als „weichen Bauch des Westens“ identifiziert haben.
Philosophie magazin 7.8.2023
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