Rekonstruierte Stammbäume: Steinzeitclan brachte seinen toten "Stammvater" aus der Fremde mit
DNA-Analysen von Toten einer riesigen neolithischen Begräbnisstätte in Frankreich geben verblüffende Details aus dem Leben früher europäischer Bauern preis
Thomas Bergmayr
Als einige Menschen vor rund 12.000 Jahren im Nahen Osten dahinterkamen, dass man pflanzliche Nahrungsmittel auch selbst anbauen kann, anstatt sie sich mühsam in der Natur zusammenzusuchen, begann eine der größten Umwälzungen der gesamten Menschheitsgeschichte. Die Neolithische Revolution war tatsächlich revolutionär und beeinflusste vermutlich alle Bereiche der damaligen Existenz. Allmählich konnte man mehr Nahrungsmittel herstellen, als man unmittelbar benötigte. Man konnte sie aufsparen, es entstand so etwas wie Wohlstand, und daraus ging auch eine neue Form der sozialen Hierarchie hervor, die bis in die Gegenwart fortwirkt.
Der Umbruch vollzog sich zunächst wohl langsam, die neue Erfindung namens Ackerbau breitete sich nur allmählich aus und erreichte die Regionen Westeuropas wahrscheinlich vor etwa 7.000 Jahren. Im Zuge dessen wurden auch dort die sesshaft gewordenen Gesellschaften zunehmend komplexer, was sich unter anderem auch in den Bestattungen widerspiegelt. Eines der größten bekannten neolithischen Gräberfelder Westeuropas entstand vermutlich kurz nachdem dort der Ackerbau Einzug gehalten hatte: Die Ausgrabungsstätte Les Noisats bei Gurgy rund 140 Kilometer südöstlich von Paris enthält weit über 100 Beisetzungen unterschiedlichster Art.
Die Frage, wer diese Menschen waren, die hier um etwa 4800 v. Chr. lebten, und in welcher Beziehung sie zueinander standen, lässt sich allein anhand archäologischer Funde nur schwer klären. Daher suchte eine internationale Forschungsgruppe in den noch vorhandenen genetischen Spuren dieser frühen Bauern nach Antworten. Und tatsächlich gelang es dem Team nach der Entnahme von Proben von nahezu jedem Individuum des jungsteinzeitlichen Friedhofs mithilfe neuer Methoden zur Gewinnung und Analyse alter DNA-Daten, die Stammbäume dieser Menschen zu rekonstruieren: Es zeigte sich, dass die Mitglieder der prähistorischen Gemeinschaft offenbar zumindest zwei Familien angehört hatten.
"Nur dank der großen Fortschritte, die wir in den letzten Jahren auf unserem Gebiet gemacht haben, und der vollständigen Integration von Kontextdaten war es möglich, eine solche außergewöhnliche Studie durchzuführen", sagte Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Hauptautor der Studie. "Sie ist ein wahrgewordener Traum für jeden Anthropologen und Archäologen und eröffnet einen neuen Weg für die Erforschung der menschlichen Vergangenheit."
In ihrer nun im Fachjournal "Nature" veröffentlichten Studie analysierten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter Erbinformationen von 94 in Gurgy bestatteten Personen, kombiniert mit Strontium-Isotopen-Verhältniswerten, mitochondrialer DNA, die auf mütterliche Abstammungslinien hinweisen, sowie Y-Chromosom-Daten für die väterlichen Abstammungslinien. Das Ergebnis waren zwei Stammbäume: Der erste verbindet 64 Individuen über sieben Generationen hinweg miteinander, was ihn zum bisher größten aus prähistorischer DNA rekonstruierten Stammbaum macht. Der zweite umfasst zwölf Individuen aus fünf Generationen.
"Seit Beginn der Ausgrabung fanden wir Hinweise darauf, dass der Bestattungsplatz von der damaligen Bevölkerung gepflegt und kontrolliert worden war", sagte Stéphane Rottier von der Universität Bordeaux. Der Archäoanthropologe war an den Ausgrabungen des Stätte zwischen 2004 und 2007 maßgeblich beteiligt und fand zahlreiche genetische und räumliche Korrelationen, die zeigten, dass die Verstorbenen wahrscheinlich in der Nähe eines Verwandten begraben wurden. Dies erweckte den Eindruck, dass der Friedhof von einer Gruppe eng miteinander verbundener Personen verwaltet wurde, oder zumindest von Personen, die genau wussten, wer wo begraben war.
Die Rekonstruktion der beiden Stammbäume ergab ein dominierendes patrilineares Muster, bei dem jede Generation fast ausschließlich über den biologischen Vater mit der vorangegangenen Generation verbunden ist. Zugleich legen Abstammungslinien aus mitochondrialem Erbgut und Untersuchungen der Strontium-Isotope nahe, dass die meisten Frauen nicht aus dieser Gegend kamen. Mit anderen Worten: Die Söhne blieben, wo sie geboren wurden, und hatten Nachkommen mit Frauen von außerhalb. Die Forschung bezeichnet diese Praxis als Virilokalität.
Passend dazu fehlen auf dem Friedhof von Gurgy die meisten erwachsenen Töchter des Stammbaums, was auf weibliche Exogamie schließen lässt - eine Tradition, bei der nur außerhalb des eigenen sozialen Verbandes geheiratet wurde. Die Forschenden schließen daraus auf ein System des gegenseitigen Austauschs mit anderen Gemeinschaften. Interessanterweise waren weibliche Individuen von außerhalb kaum untereinander verwandt, was bedeutet, dass sie nicht nur aus einer einzigen nahe gelegenen Gruppe stammten, sondern aus unterschiedlichen Gemeinschaften. All das spricht für die Existenz eines breiten und potenziell flexiblen Netzwerks von Kontakten zwischen mehreren Gruppen oder Gemeinschaften.
"Wir beobachten hier eine große Anzahl von Geschwistern, die das Erwachsenenalter erreicht haben. Dies und die beträchtliche Anzahl von verstorbenen Säuglingen deutet auf recht große Familien, eine hohe Fruchtbarkeitsrate und allgemein stabile Gesundheits- und Ernährungsbedingungen hin", sagte Maïté Rivollat (Universität Gent, Belgien), ebenfalls Hauptautorin der Studie. "Für diese frühe Ära ist das schon recht auffällig." Ein weiteres verblüffendes Merkmal in Gurgy ist das Fehlen von Halbgeschwistern. Polygamie war demnach in dieser Gemeinschaft offenbar kein Thema.
Schließlich gelang es dem Team sogar, die größere der beiden Familien auf ein einziges männliches Individuum zurückzuführen, von dem alle späteren Mitglieder dieser Herkunftslinie abstammten. Die Bestattung dieses "Gründungsvaters" erwies sich für die lokalen Verhältnisse als einzigartig: Seine sterblichen Überreste waren offenbar aus einem anderen Grab geholt und in die Beisetzungsgrube einer Frau zur Ruhe gebettet worden. Die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Frau konnten leider nicht festgestellt werden, da sich von ihr kein geeignetes Genmaterial bergen ließ. Woher dieser "Stammvater" und damit die gesamte Gruppe ursprünglich kam, bleibt unklar.
"Da er nach einer Erstbestattung an einem anderen Ort dorthin gebracht wurde, muss er für die Bevölkerung von Gurgy eine Person von großer Bedeutung gewesen sein", sagte Marie-France Deguilloux, Co-Autorin der Studie von der Universität Bordeaux. Obwohl sich der Hauptast des Stammbaums über sieben Generationen erstreckt, deutet das demografische Profil der Gemeinschaft darauf hin, dass sich eine große Familiengruppe an diesem Ort niedergelassen hatte.
Sehr lange war dieser Clan in Gurgy jedoch nicht ansässig. Das schließen die Forschenden daraus, dass aus den ersten Generationen fast keine Kinder und aus den letzten Generationen keine erwachsenen Personen hier bestattet worden waren. Wahrscheinlich hatte diese Gruppe ihr vorangegangenes Zuhause verlassen und dort alle bereits verstorbenen Kinder zurückgelassen. Einzig die Gebeine ihres Stammvaters haben diese Menschen mitgebracht.
Nur wenige Generationen später wiederholte sich die Geschichte: Die Erwachsenen der letzten Generationen von Gurgy zogen weiter und ließen ihre verstorbenen und beigesetzten Kinder dort zurück. Damit lebten in Gurgy wahrscheinlich nur drei bis vier Generationen des Clans, was etwa der Dauer eines Jahrhunderts entspricht. Was die Menschen dazu gezwungen hatte, ihre neue Heimat wieder zu verlassen - diesmal ohne die Gebeine ihres "Stammvaters" -, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben müssen. (Thomas Bergmayr, 26.7.2023)
Studie
Nature: "Extensive pedigrees reveal the social organisation of a Neolithic community."
https://www.nature.com/articles/s41586-023-06350-8 Standard 26.7.2023
Neolithische Familie: Männer blieben daheim, Frauen zogen fort
Erstmals haben Fachleute Familienstammbäume der europäischen Jungsteinzeit über mehrere Generationen rekonstruieren können. Die Daten zeugen von Frauentausch und Monogamie.
von Karin Schlott
Im 6. Jahrtausend v. Chr. erreichten die ersten Bauern Westeuropa. Wer waren diese Menschen, wie lebten sie zusammen und wie sah ihre Familienstruktur aus? Diese Fragen konnten nun Gen- und Isotopenanalysen kombiniert mit archäologischen Beobachtungen beantworten. Aus den Überresten von fast 100 Toten, die zwischen 4850 und 4500 v. Chr. auf dem Gräberfeld Gurgy »Les Noisats« in Mittelfrankreich bestattet wurden, rekonstruierte ein Forscherteam zwei mehrere Generationen umfassende Familienstammbäume. Wie das Team um Maïté Rivollat von der Universität Gent und Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachjournal »Nature« schreibt, erbrachten die naturwissenschaftlichen Daten zahlreiche neue Erkenntnisse: Die Männer jener Familien lebten und heirateten an ihrem Heimatort, während die Frauen von auswärtigen Gemeinschaften in die Familie kamen - offenbar im Austausch mit Frauen aus Gurgy, die anderswo hinzogen.
Für ihre Studie analysierte die Arbeitsgruppe die Knochen der Toten. Sie gewann so Informationen zum Erbgut im Zellkern, zur mitochondrialen DNA, zu den Isotopenwerten, die Rückschlüsse auf den Geburts- und Lebensort erlauben, und sie erhielt 14C-Datierungen.
Aus den Erbgutdaten konnten die Forschenden zwei Stammbäume zusammenpuzzeln: Der eine, dem mindestens 20 Frauen und 44 Männer angehörten, erstreckte sich über sieben Generationen. Zwölf Menschen konnten die Fachleute einem anderen kleineren Stammbaum zuordnen, bestehend aus sieben Frauen und fünf Männern. Weitere Menschen, deren Überreste im neolithischen Friedhof von Gurgy lagen, waren weiter entfernt oder gar nicht mit den beiden Familien verwandt.
Bei der Untersuchung zeigte sich, dass von keiner erwachsenen Frau und Mutter die Eltern auf dem Gräberfeld von Gurgy bestattet lagen. Auch sonst waren die verstorbenen Frauen nur selten mit Angehörigen eines Stammbaums verwandt; ebenso fehlten die erwachsenen Töchter. Was bedeutet das? »Dieses allgemeine Muster deutet auf weibliche Exogamie und ein virilokales Wohnsystem hin, bei dem die Frauen von ihrem Geburtsort zum Wohnsitz ihres männlichen Fortpflanzungspartners einwandern«, erklärt die Forschergruppe in »Nature«.
Woher die Frauen kamen, dazu entdeckten die Fachleute um Rivollat und Haak Hinweise in den Erbgutdaten. Denn einige Frauen waren entfernt untereinander verwandt. Vermutlich stammten sie aus derselben auswärtigen Gemeinschaft, mit der die Familien von Gurgy eine Art Austauschbündnis gepflegt haben könnten.
In Gurgy angekommen scheinen die Frauen monogame Ehen eingegangen zu sein. Das heißt: Weder Männer noch Frauen hatten mehrere Lebenspartner oder -partnerinnen. Auch das legen die Genanalysen nahe: Unter den untersuchten Toten stießen Rivollat und Haak auf zahlreiche Geschwister, keine davon waren jedoch Halbgeschwister.
Unter den Bestatteten fiel ein Verstorbener besonders auf. Seine Knochen waren laut den Archäologen einst nach Gurgy umgebettet worden - kein ganzes Skelett, sondern nur die Langknochen lagen im Boden. Neben ihm war eine Frau beigesetzt worden, aus deren Überresten die Forschergruppe jedoch keine DNA-Informationen extrahieren konnte. Anders beim Umgebetteten: Er stellte sich als Stammvater der großen Familie mit mindestens 66 Nachfahren heraus. Offenbar hatten die Menschen seine Überreste von einem anderen Ort, möglicherweise ihrer vorherigen Heimatstätte, mitgebracht.
Nicht nur die Gendaten verrieten Details über die beiden neolithischen Familien, auch die Lage der Gräber im Friedhof schien nicht zufällig gewählt worden zu sein. So waren oftmals Väter neben ihren Söhnen beigesetzt, Geschwister nebeneinander. Die Menschen wussten also, wer wo bestattet lag - vermutlich, so schreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, standen über den Gräbern Markierungen, ähnlich heutigen Grabsteinen.
Dass die Frauen und späteren Mütter von anderswo in die Familien von Gurgy kamen, zeichnete sich ebenfalls in der Belegung des Friedhofs ab. Deutlich weniger erwachsene Frauen lagen dort begraben. Vielleicht galten für sie andere Regeln und Sitten, mutmaßen die Studienautorinnen und -autoren.
In Gurgy »Les Noisats« vermisste das Forscherteam allerdings zwei Altersgruppen. So fehlten auf dem Friedhof Kinder aus der ersten Generation und Erwachsene der jüngsten Generation. Eine mögliche Erklärung: Die Gemeinde war von einem Ort fortgezogen, ihre frühzeitig verstorbenen Kinder lagen dort begraben, und kam dann in die Nähe von Gurgy. Dort wiederholte sich ungefähr 100 Jahre später dasselbe Prinzip. Die Gruppe zog wieder an einen neuen Ort. Woher und wohin genau, ist unbekannt. Siedlungen, die mit der Nekropole in Verbindung standen, kennen die Forschenden noch nicht. Die Toten von Gurgy müssen zudem längst nicht alle am selben Ort gelebt haben. Jede Generation und Kernfamilie könnte einen eigenen Weiler errichtet haben. Dass sie aber nur vergleichsweise kurz an einer Stelle siedelten, deckt sich mit bisherigen Erkenntnissen aus der Archäologie. Neolithische Dörfer blieben nicht lange bewohnt, möglicherweise weil Böden erschöpft waren und Wälder abgeholzt wurden.
Ob die sozialen Sitten von Gurgy auch für andere neolithische Gemeinschaften in Westeuropa galten, ist nicht sicher. Der Friedhof von Gurgy »Les Noisats« ist verglichen mit monumentalen Grabanlagen derselben Zeit deutlich schlichter gestaltet. In Fleury-sur-Orne in der Normandie etwa legten Archäologen Grabhügel frei, die offenbar für hochstehende Personen errichtet wurden. Gurgy scheint dagegen der Begräbnisplatz der einfachen Bevölkerung gewesen zu sein.
Hingegen kennen Fachleute das Phänomen, dass Frauen migrierten und Männer an ihrem Geburtsort mit den Zugezogenen Familien gründeten, inzwischen auch aus anderen Epochen der Vorgeschichte. Über ein ähnliches Szenario berichteten Expertinnen und Experten 2017 in Deutschland. Im Lechtal bei Augsburg stießen sie auf Gräber, in denen ab 2500 v. Chr. Frauen bestattet wurden, die ursprünglich aus der Region des heutigen Sachsen-Anhalt stammten. Ähnliches ergaben Untersuchungen am Fundplatz Links of Noltland auf der schottischen Orkney-Insel Westray. Die Frauen kamen in der Zeit von 2300 bis 1500 v. Chr. von der britischen Hauptinsel auf die Orkney-Inseln. Die Sitte scheint sogar noch weiter zurückzureichen, etwa 54 000 Jahre: In die Sippen von Neandertalern im Altai-Gebirge waren die Frauen ebenfalls von anderswo zugewandert, wie Genanalysen ergaben.
Gemeinschaften, die untereinander heirateten, könnten sich dadurch enger gebunden haben. Wenn der Mann einer Gruppe zum Großvater der Kinder eines Mannes aus einer anderen Gemeinschaft wurde, schloss die familiäre Bindung diese Menschen womöglich enger zusammen. Vielleicht sollte so ein friedlicheres Zusammenleben garantiert bleiben.
Karin Schlott
ist Redakteurin für Archäologie, Geschichte und Anthropologie bei Spektrum der Wissenschaft.
Spektrum 27.7.2023