Jul 11, 2023 12:12
NOBELPREISTRÄGERTAGUNG LINDAU:„Es gibt einen Survivorship-Bias“
VON SIBYLLE ANDERL
In Lindau treffen sich jedes Jahr Nobelpreisträger - und viele hundert Nachwuchswissenschaftler. Vier der jungen Forscher erzählen von ihrer Arbeit und darüber, was sie bewegt.
Zweifel und Tiefs sind normal
Frau Op de Beeck, woran forschen Sie?
Ich mache als Biowissenschaftsingenieurin einen Postdoc an der Universität Antwerpen und forsche an Patienten, die an ob¬struk¬tiver Schlafapnoe leiden. Denen versuche ich mithilfe von Datenanalysen schneller zu einer optimalen Therapie zu verhelfen. Genauer gesagt schaue ich auf diagnostische Schlafstudien, um den Erfolg von Therapien vorauszusagen.
Mit welchen Erwartungen sind Sie nach Lindau gekommen?
Ich habe gehofft, Menschen aus anderen Disziplinen kennenzulernen. Und natürlich auch, mit Nobelpreisträgern zu interagieren, um einen Eindruck zu haben, wie deren Leben verlaufen ist und was sie hierhergebracht hat. Das hat wunderbar funktioniert.
Gab es schon eine entscheidende Einsicht?
Eine schwierige Frage. Gestern war ich bei einem Austausch mit Emmanuelle Charpentier. Sie war sehr offen hinsichtlich ihres Weges und auch der Kämpfe, die sie zu bewältigen hatte. Von ihr zu hören, dass Zweifel und Motivationstiefs normal sind, dass aber das Wichtigste ist, den Willen zu haben, zu forschen, das war eine wirklich schöne Einsicht.
Gibt es eine Generationenlücke zwischen Nachwuchswissenschaftlern und Laureaten?
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen unserer Generation und den vorherigen. Es gibt bereits einen Unterschied zwischen den jüngeren und den älteren Nobelpreisträgern. Entscheidende Kämpfe früherer Generationen haben sich weiterentwickelt, während unsere vor neuen steht.
Gibt es ein Thema, das im offiziellen Programm Ihrer Meinung nach zu kurz kam?
Work-Life-Balance könnte so ein Thema sein. Es wurde zwar schon etwas berührt, aber ich glaube, dass das etwas ist, mit dem viele junge Forscher zu kämpfen haben.
Ist das Thema denn heute wichtiger als früher?
Im Rückblick neigt man dazu, Opfer zu akzeptieren, weil man das Resultat der harten Arbeit sieht. Die Zeit meiner Doktorarbeit war zum Beispiel nicht einfach, aber rückblickend würde ich sagen: Es hat Spaß gemacht. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Aspekt. Andererseits hat sich die Welt massiv verändert. Sie ist viel mobiler geworden, jeder ist jederzeit erreichbar. Ich glaube schon, dass die jungen Wissenschaftler heute mit dem Thema stärker konfrontiert sind als frühere Generationen.
Sara Op de Beeck arbeitet in Antwerpen an der Diagnose und Therapierung von Schlafproblemen.
Es gibt einen Survivorship-Bias
Herr Upmeier zu Belzen, woran forschen Sie?
Ich bin Doktorand am Berlin Institute of Health in der Charité in der Gruppe von Roland Eils und arbeite daran, mithilfe von Machine Learning genetische Krankheitsrisiken aufzuklären. Anhand großer Datensätze trainieren wir neuronale Netzwerke darauf, für einzelne Personen das Risiko beispielsweise für Diabetes oder koronare Herzerkrankungen vorherzusagen. Damit könnte man dann etwa Interventionen wie häufigere Vorsorgeuntersuchungen oder eine andere Ernährung planen.
Sind Nobelpreisträger anders als andere Wissenschaftler?
Ich glaube schon. Sie verbringen teils viel Zeit auf Podien und in der Politikberatung. Insofern können sie zur größeren Perspektive auf die Wissenschaft mehr beitragen, als wenn ich in der Uni an die Tür eines Professors klopfe.
Motivieren Sie die Entdeckungsgeschichten der Forscher?
Ja, das sind phantastische Geschichten. Aber es gibt hier natürlich einen „Survivorship-Bias“: Es sind alles Leute mit wilden Ideen, bei denen es irgendwann funktioniert hat. Ich bin manchmal skeptisch, inwieweit man deren Geschichten auf den eigenen Alltag übertragen kann. Denn die Frage ist: Wie viele Leute, die sehr ähnlich angefangen haben, haben den Nobelpreis nicht bekommen und sind jetzt eben nicht hier?
Da spielt auch der Zufall eine wichtige Rolle . . .
Absolut. Das sagen ja auch viele: dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Menschen zusammengearbeitet haben. Aber es ist schon motivierend, dass das tatsächlich passieren kann. Für sich selbst muss man eine Balance finden zwischen den Risiken, die man eingehen möchte, und dem Punkt, an dem man sagt: Okay, das war es vielleicht nicht.
Wie haben Sie die Debatte um eine angebliche Diskriminierung von Männern in der heutigen Forschung erlebt?
Ich bin zutiefst beeindruckt von der Nachwuchswissenschaftlerin, die Professor Wüthrich - der die These vertreten hat, Männer würden heutzutage in der Forschung diskriminiert - in der Session konfrontiert hat. Ich kann mich ihr nur anschließen. Es gibt offensichtlich immer noch systematische Diskriminierung gegenüber Frauen und Minderheiten, und daran ändern auch herausragende Karrieren einzelner Nobelpreisträgerinnen nichts. Ich habe danach mit vielen hier über das Thema gesprochen und bin auf sehr viel Offenheit gestoßen. Deshalb bin ich optimistisch, dass die Diskussion über dieses wichtige Thema in Zukunft besser wird, vielleicht auch indem renommierte Soziologinnen und Politologinnen beteiligt werden.
Julius Upmeier zu Belzen entwickelt an der Berliner Charité KI für die genetische Risikobewertung.
Neugier auf die geheime Zutat
Frau Tugume, woran forschen Sie?
Ich bin Ärztin und arbeite am Institut für Infektionskrankheiten der Makerere-Universität in Uganda. In meiner Forschung geht es um Gehirninfektionen mit dem Schwerpunkt auf einer verbesserten Diagnostik. In Uganda stellen HIV und AIDS immer noch große Herausforderungen dar. Eine der häufigsten Todesursachen sind Infektionen des Zentralnervensystems wie Pilz-Meningitis oder tuberkulöse Meningitis. Die Diagnose letzterer erfordert in der Regel entweder molekulare Tests, die die Krankheit nicht sicher ausschließen können, oder eine Kultur, die viel Zeit und eine spezielle Infrastruktur erfordert. Ich versuche, einen sehr einfachen Wirtsmarker - ein c-reaktives Protein - zu verwenden, um die Diagnose zu verbessern. Dafür baue ich ihn zusammen mit anderen leicht erhältlichen Biomarkern in einen Algorithmus ein.
Wie kam es zu Ihrer Bewerbung in Lindau?
Mein Mentor ist Alumnus der African Academy of Science und durfte mögliche Lindau-Teilnehmer vorschlagen. Ich bewarb mich also und war erfolgreich. Ehrlich gesagt war mir das Treffen vorher gar kein Begriff.
Hatten Sie denn besondere Erwartungen?
Ich wusste, dass das Treffen stark auf Grundlagenforschung ausgerichtet ist. Also habe ich auch entsprechende Wissenschaftler hier erwartet, nicht so viele Ärzte. Ich habe mir erhofft, viel über die Grundlagen meiner Arbeit zu lernen. Und insofern bin ich sehr an den vielen Vorträgen zur Immunologie interessiert.
Und welche Erwartungen hatten Sie an die Nobelpreisträger?
Mich hat die Rolle von Glück bei der Verleihung des Preises interessiert. Auf jeden Fall ist harte Arbeit eine Voraussetzung, aber ich bin sicher, dass es noch etwas anderes erfordert, und ich war neugierig, diese geheime Zutat zu entdecken. Bisher ist mir das nicht gelungen. Aber auffällig ist die tiefe Neugier der Laureaten. Ich sage nicht, dass wir die nicht besitzen. Aber wir stehen gleichzeitig unter Druck, Stellen zu bekommen, Work-Life-Balance zu erreichen, all die Ablenkungen, die Teil unseres Lebens sind. Vor dem Hintergrund all dieses Drucks weiß ich nicht,wie viel Neugier uns noch motiviert.
Gibt es einen Laureaten, der Sie besonders interessiert?
Ja, Rolf Zinkernagel. Er hat in seinem Immunologie-Vortrag behauptet, es gebe in der Immunabwehr kein Gedächtnis. Darüber würde ich gern mehr hören, denn es ist für mich hoch relevant.
Lillian Tugume forscht in Uganda an verbesserter Diagnostik von Infektionen des Gehirns.
An den Weg vorwärts glauben
Herr Randriamanantsoa, woran forschen Sie?
Ich arbeite an der TU München in der Gruppe von Andreas Bausch an Organoiden - vereinfachte Miniaturversionen von Organen. Die Organoide, an denen ich arbeite, sind vom Bauchspeicheldrüsenkrebs abgeleitet. Wir versuchen, Ärzten oder Klinikern eine In-vitro-Plattform bereitzustellen, mithilfe der sie verstehen können, wie der Krebs wächst und was dessen erste Anzeichen sind, sodass die Diagnose und mögliche Eingriffe früher geschehen können. Meine Expertise liegt in der Echtzeit-Bildgebung und in der Analyse der Bewegung von Zellen und deren Interaktion mit ihrer Umgebung, welche Kräfte sie ausüben und wie das zu Selbstorganisation führt.
Machen Sie sich Sorgen über die Unsicherheit einer Forscherkarriere?
Wenn man auf die Karriereseiten der großen Journale wie „Nature“ oder „Science“ schaut, findet man jede Woche eine andere schlimme Geschichte: depressive Doktoranden, Postdocs, die keine Stelle finden, keine offenen Tenure-Stellen. Das ist sicher teilweise korrekt und durch Daten belegt. Aber ich denke, es ist auch wichtig, dass wir als junge Wissenschaftler daran glauben, dass es einen Weg voran gibt. Und dass wir uns daran erinnern, dass unsere Forschung der Gesellschaft helfen kann und das auch tut.
Was war Ihr bisheriges Highlight?
Der Vortrag von Frances Arnold. Sie hat ihre Forschung in einer Weise präsentiert, die jeder anstreben sollte. Es war extrem zugänglich, und ich glaube, dass jeder - vom Kind über professionelle Forscher bis zum Politiker - diesen Vortrag genossen hätte. Sie hat wirklich die Begeisterung über die Wissenschaft rübergebracht.
Mit welchem Laureaten möchten Sie gerne noch sprechen?
Mit Professor Michael Levitt. Ich würde ihm gerne ein paar persönliche Fragen stellen. Denn er ist ursprünglich ein Physiker, der dann in die Biologie gewechselt ist. Ich bin mehr oder weniger den gleichen Weg gegangen, und ich würde ihn gerne fragen, wie es ihm dabei ergangen ist. Als ich meine Doktorarbeit begonnen habe, war ich überrascht, dass wir bei unserer Kollaboration mit Biologen und Ärzten manchmal verschiedene Sprachen zu sprechen schienen. Ich würde Levitt gerne fragen, wie er diese Gräben überwinden konnte. Denn er hat schließlich grundlegende Beiträge geliefert, die die heutige Biologie viel einfacher gemacht hat.
Samuel Randriamanantsoa arbeitet in München in einem interdisziplinären Projekt an Krebs-Organoiden.
Sibylle Anderl
Redakteurin im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.
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Quelle: F.A.Z. 10.7.2023
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