May 29, 2023 10:53
Der schleichende Verlust der positiven Gefühle
Von Céline Lauer, Redakteurin Wissen
Lebensfeindliche Umgebungen wie der Rote Planet können psychisch belastend sein
Quelle: Getty Images/Nisian Hughes
Weit weg von Zuhause, veränderter Tag-Nacht-Rhythmus und kaum Raum für sich: Astronauten sind enormer Belastung ausgesetzt. US-Psychologen wollten wissen, wie zermürbend monatelange Mars-Missionen sein können - und forschten dazu in der Antarktis.
Was haben Astronauten und Polarforscher gemeinsam? Eine Menge, sagen die Psychologieprofessorin Candice Alfano von der Universität Houston und ihr Team. Beide Berufsgruppen leiden unter der Abgeschiedenheit ihres Arbeitsplatzes und der Trennung von ihren Lieben; sie müssen sich an die Beengtheit, die fehlende Privatsphäre und den veränderten Hell-Dunkel-Rhythmus ihrer neuen Umgebung gewöhnen; noch dazu verläuft ihr Alltag über viele Monate hinweg sehr monoton.
Diese Menschen müssen also über einen längeren Zeitraum mit den gleichen Stressfaktoren zurechtkommen - ob sie nun im All oder in der Antarktis leben.
Alfano und ihr Team haben sich diese zahlreichen Gemeinsamkeiten zunutze gemacht, um im ewigen Eis herauszufinden, wie belastend künftige Marsmissionen sein werden. „Während wir der Erkundung des Roten Planeten durch den Menschen immer näher kommen, ist das Verständnis spezifischer psychologischer Reaktionen, die eine erfolgreiche Marsmission gefährden könnten, noch unzureichend“, schreiben die Forscher in ihrer Studie, die in „Acta Astronautica“ erschienen ist.
Und weil sich eine eingehende psychologische Erhebung im Weltraum kaum systematisch durchführen ließe, erforschten die US-Wissenschaftler stattdessen die Mitarbeiter zweier antarktischer Stationen - über ein dreiviertel Jahr, einschließlich der härtesten Wintermonate.
Um ein möglichst umfassendes Bild der psychischen Belastungen zu erhalten, erhoben Alfano und ihre Kollegen aus der Ferne verschiedene Daten. So beantworteten die 110 Probanden monatlich einen Fragebogen zu körperlichen Beschwerden wie Schlaflosigkeit. Außerdem schoben sie sich in regelmäßigen Abständen ein Wattestäbchen in den Mund und froren ihre Speichelproben ein, damit die Forscher sie später im Labor auf Biomarker untersuchen konnten - zum Beispiel auf eine erhöhte Konzentration des Stresshormons Cortisol.
Vor allem aber beantworteten die Teilnehmer jeden Monat psychologische Fragebögen. Dazu entwickelten Alfano und ihre Kollegen auch eine „Mental Health Checklist“ (MHCL), mit der sich per Selbstauskunft gezielt Veränderungen der psychischen Gesundheit in extremen Umgebungen erfassen lassen.
Das Ergebnis wirkt erwartbar: Den Probanden ging es im Laufe der Zeit psychisch schlechter. Überraschend ist jedoch der Grund dafür. „Frühere Forschungen, sowohl im Weltraum als auch in polaren Umgebungen, haben sich fast ausschließlich auf negative emotionale Zustände wie Angst und depressive Symptome konzentriert“, erklärt Alfano.
Sie und ihr Team entschieden sich hingegen dafür, auch positive Emotionen wie Zufriedenheit, Enthusiasmus und Ehrfurcht zu erfassen - denn diese beeinflussen ebenfalls wesentlich, wie Menschen in einer Umgebung mit hohen Belastungen zurande kommen.
Und tatsächlich zeigt die Studie: Das eigentliche Problem der Polarforscher bestand nicht so sehr darin, dass sie vermehrt Gefühle wie Isolation oder Gleichgültigkeit empfanden - sondern dass ihre positiven Emotionen von Beginn an kontinuierlich zurückgingen. Nicht einmal die Aussicht auf ihre baldige Heimkehr gegen Ende der Mission konnte etwas daran ändern.
Zwar empfanden die Probanden auch negative Emotionen, doch diese waren variabler; sie traten vor allem in bestimmten Situationen auf, bei denen individuelle und zwischenmenschliche Faktoren eine Rolle spielten. Der schleichende Verlust der positiven Gefühle war dagegen eine Konstante; er begleitete die Probanden in ihrer lebensfeindlichen Umgebung sozusagen auf Schritt und Tritt.
Wie lässt sich das erklären? Alfano und ihre Kollegen haben auch näher untersucht, wie die Studienteilnehmer konkret mit ihren Empfindungen umgingen. Dabei stellten sie fest, dass die Probanden während ihres Aufenthalts dazu neigten, ihre „Emotionsregulationsstrategien“ zu vernachlässigen.
Eine davon ist das Genießen, also das bewusste Wahrnehmen positiver Augenblicke und Emotionen. Doch genau diese Momente des Auskostens wurden im Laufe der Monate immer seltener; vermutlich weil die Umgebung und die Erfahrungen, die anfangs noch neu und aufregend waren, im Laufe der Zeit an Reiz einbüßten. „Gegenmaßnahmen, die auf die Verstärkung positiver Emotionen abzielen, könnten daher entscheidend sein, um das psychologische Risiko in extremen Umgebungen zu reduzieren“, resümiert Alfano.
Diese Erkenntnis könnte laut den Forschern gerade für eine Marsmission relevant sein. Denn viele der besten Erlebnisse auf Raumflügen - wie der Blick aus dem All auf die Erde - seien dabei nur selten oder gar nicht zu haben.
Welt 12.11.2021
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