Apr 02, 2023 12:09
Wie die Muttersprache unser Gehirn formt
Sprache entsteht in verschiedenen Regionen unseres Gehirns. Forscher konnten zeigen, dass diese je nach Muttersprache anders verknüpft sind. Das Wissen lässt sich etwa nutzen, um Schlaganfall-Patienten zu helfen.
Ein Arabisch-Muttersprachler muss im Gespräch genau hinhören: Meint sein Gegenüber kitabun (كتاب) oder katib (كاتب)? "Buch" oder "Schriftsteller"? Beide Wörter basieren auf derselben Sprachwurzel k-t-b ( ب - ت - ك), was im Arabischen sehr häufig vorkommt.
Ein Deutsch-Muttersprachler hingegen muss sich vor allem auf die Satzstruktur konzentrieren: "Leihst du dir das Buch von deinem Lieblingsschriftsteller aus?" Teile von trennbaren Verben wie "ausleihen" sind im Deutschen oft an verschiedenen Stellen im Satz verstreut.
Die arabische und die deutsche Sprache sind sehr verschieden. Aber lassen sich diese Unterschiede auch im Gehirn von Muttersprachlern erkennen? Das wollten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig wissen. Das Team rund um Doktorandin und Erstautorin Xuehu Wei hat dafür jeweils 47 Arabisch- und Deutsch-Muttersprachler in einer Studie untersucht.
Bei der Auswahl der Probanden haben die Forschenden darauf geachtet, dass sie einsprachig aufgewachsen sind und damit nur eine Muttersprache besitzen. Neben ihrer Erstsprache konnten die Probanden lediglich etwas Englisch.
Das Wissenschaftler-Team hat die Teilnehmenden gebeten, sich in einen speziellen Magnetresonanztomographen (MRT) zu legen. Dieser fertigt nicht nur hochauflösende Scans vom Gehirn an, sondern wirft auch Informationen über die Verbindungen der Nervenfasern aus. Mithilfe dieser Daten konnten die Forscher daraufhin berechnen, wie stark die einzelnen Sprachregionen miteinander verdrahtet sind.
"Das Ergebnis hat uns sehr überrascht, weil wir immer davon ausgegangen sind, dass Sprache universell ist", sagt Alfred Anwander, Forscher in der Abteilung Neuropsychologie am Leipziger Max-Planck-Institut und Mitautor der Studie. "Wir dachten, dass es unabhängig von der Sprache ist, wo sie im Gehirn verarbeitet wird und auch wie stark die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen ist."
Bei den Arabisch-Muttersprachlern konnte das Forscher-Team sehen, dass die linke und rechte Gehirnhälfte stärker miteinander verknüpft ist. Auch zwischen den seitlichen Lappen des Großhirns, genannt Temporallappen, und hin zum mittleren Teil, dem sogenannten Parietallappen, gab es eine stärkere Verbindung.
Das ist durchaus plausibel: Diese Hirnregionen sind dafür zuständig, die Aussprache und Bedeutung der gesprochenen Sprache zu verarbeiten. Ein Arabisch-Muttersprachler muss sich genau darauf konzentrieren, wie das Wort ausgesprochen wird und welche Bedeutung es dadurch hat: Hat sein Gesprächspartner nun "kitabun" (Buch) oder "katib" (Schriftsteller) gesagt?
Bei den Deutsch-Muttersprachlern fanden die Wissenschaftler stärkere Verbindungen in der linken Gehirnhälfte und hin zum Frontallappen im vorderen Bereich des Gehirns. Auch das lässt sich anhand der deutschen Sprache erklären, denn diese Regionen sind dafür verantwortlich, den Satzbau einer Sprache zu verarbeiten. Schachtelsätze wie den letzten Satz können Deutsch-Muttersprachler dadurch ohne Probleme verstehen.
"Unsere Studie liefert neue Erkenntnisse darüber, wie sich das Gehirn an kognitive Anforderungen anpasst - unser strukturelles Netzwerk der Sprache wird also durch die Muttersprache geprägt", fasst Mitautor Anwander zusammen.
Wichtig zu betonen sei es, so der Forscher, dass diese unterschiedlichen Verschaltungen weder Vor- noch Nachteile für die Sprechenden bedeuten. "Die Verschaltung ist einfach nur anders, nicht besser oder schlechter", so Anwander.
Das Wissen um die unterschiedlich verdrahteten Sprachzentren hingegen bringt für beide Muttersprachler Vorteile. Zum Beispiel könnte die Behandlung von Schlaganfall-Patienten verbessert werden. Manche Betroffene leiden an einer Sprachstörung, genannt Aphasie. Für die verschiedenen Muttersprachler könnten unterschiedliche Therapieansätze entwickelt werden, mit denen die Patienten schneller wieder sprechen lernen.
"Außerdem wird es sehr spannend sein, die Untersuchung auf mehr Sprachen auszudehnen", so Anwander. In einer anderen Studie haben die Max-Planck-Forscher Deutsch-, Englisch- und Chinesisch-Muttersprachler untersucht. Die Ergebnisse stehen derzeit noch aus.
Es ist also noch offen, ob und wie weitere Muttersprachen das Gehirn unterschiedlich prägen. Auch eine größer angelegte Studie von Deutsch- und Arabisch-Muttersprachlern wäre hilfreich, um die Ergebnisse zu bestätigen.
Im zweiten Schritt der aktuellen Studie werden die Forscher analysieren, was in den Gehirnen der arabischsprachigen Menschen passiert, während sie Deutsch lernen. "Wir sind gespannt darauf zu sehen, wie sich das Netzwerk beim Lernen einer neuen Sprache ändert", sagt Anwander.
Die Erkenntnisse sollen am Ende dazu dienen, Methoden für das Lernen von Fremdsprachen zu verbessern. Je nach Lerntyp und Muttersprache könnten unterschiedliche Strategien entwickelt werden, um zum Beispiel einfacher Deutsch zu lernen. Dafür sei aber noch viel Forschung nötig. "Von der individuellen Lernstrategie anhand eines Gehirnscans sind wir noch weit weg", so der Forscher. Bis dahin kommen Lernende wohl nicht um ihr Vokalbelheft herum.
DW 31.3.2023
Typisch »deutsch« verschaltet
Deutsch und Arabisch haben beide ihre Tücken, aber in unterschiedlicher Weise. Das zeigt sich auch im Gehirn: Die Sprachnetzwerke passen sich den besonderen Eigenschaften der Muttersprache an.
von Christiane Gelitz
Sprachen können auf unterschiedliche Weise schwierig sein: Arabisch etwa ist schwer zu lesen, weil einige Laute nicht geschrieben werden. Und der deutsche Satzbau ist so kompliziert, dass man leicht den Überblick verliert. Beides spiegelt sich in der Hirnanatomie, berichtet eine Forschungsgruppe vom Max-Planck-Institut (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig in der Fachzeitschrift »NeuroImage«. Demnach tragen die speziellen Anforderungen der Muttersprache dazu bei, dass sich bestimmte Sprachzentren besonders stark austauschen und entsprechend breite Kommunikationswege anlegen.
Das Team um den Hirnforscher Alfred Anwander und seine Doktorandin Xuehu Wei hatte Hirnscans von knapp 50 gesunden Erwachsenen mit deutscher oder arabischer Muttersprache angefertigt. Dazu verwendeten die Forschenden eine Technik der Magnetresonanztomografie namens Diffusions-Tensor-Bildgebung, die misst, wie sich Wassermoleküle im Hirngewebe fortbewegen. So wird die weiße Substanz sichtbar - jene Bündel von Nervenfasern, mit denen sich die Neurone (die graue Substanz) der Großhirnrinde über weite Strecken miteinander verschalten.
Bei den Versuchspersonen mit deutscher Muttersprache fanden sie stärkere Verbindungen im Sprachnetzwerk der linken Hemisphäre, wo die Sprache ihren Hauptsitz hat. Dass das Deutsche dort besonders breite Kabel braucht, könnte mit seinem komplexen Satzbau zu tun haben: Die Stellung vieler Wörter im Satz ist vergleichsweise frei, und selbst zusammengehörige Wörter können weit entfernt stehen. Das linke Broca-Areal - das Grammatikzentrum - sei sehr »sensibel« für komplexe deutsche Satzstrukturen, und die linke untere Frontallappenfurche stelle Gedächtniskapazitäten bereit, die es braucht, um weit entfernte abhängige Satzelemente gedanklich zu verbinden.
Das Arabische birgt wiederum andere Herausforderungen. Anders als im Deutschen stellt die arabische Schrift nicht jeden Laut mit einem eigenen Zeichen dar; die kurzen Vokale fehlen oft. Beim Lesen müssen Aussprache und Bedeutung eines Wortes dann aus Kontext und Vorwissen erschlossen werden, und zu diesem Zweck ist die rechte Hirnhälfte verstärkt beteiligt. Und das hinterlässt Spuren, etwa im Corpus callosum, der Hauptbrücke zwischen den Hemisphären: »Arabische Muttersprachler zeigten eine stärkere Vernetzung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte als deutsche Muttersprachler«, berichtet Alfred Anwander in einer Pressemitteilung des MPI. Verstärkte Verbindungen stellten er und sein Team auch zwischen semantischen Sprachregionen im Schläfen- und Scheitellappen fest. Das könne »mit der relativ komplexen semantischen und phonologischen Verarbeitung im Arabischen zusammenhängen«.
Es gab bereits erste Studien, die typische neuroanatomische Merkmale für unterschiedliche Sprachen gefunden haben. Dabei handelte es sich jedoch um kleinere Stichproben und andere Sprachen wie das Chinesische und Englische. Bekannt ist auch, dass sich graue und weiße Substanz beim Lernen einer Fremdsprache verändern. Die vorliegende Studie dokumentiert Unterschiede zwischen zwei größeren Stichproben von Muttersprachlern. Als Nächstes will die Forschungsgruppe untersuchen, was sich im Gehirn arabischsprachiger Erwachsener tut, wenn sie sechs Monate lang Deutsch lernen.
Christiane Gelitz
Die Autorin ist Diplompsychologin und Redakteurin bei »Spektrum.de« und »Spektrum Psychologie«.
Spektrum 30.3.2023
linguistik,
sprache,
neuro,
sprachgeschichte2,
framing,
psychologie