Novalis als Lehrer : Bildung heißt Sehnsucht • Von Markus Steinmayr Die Bildungsschriften des vo

Jan 12, 2023 14:34

Novalis als Lehrer : Bildung heißt Sehnsucht

• Von Markus Steinmayr

Die Bildungsschriften des vor zweihundertfünfzig Jahren verstorbenen Dichters Novalis sind kein Romantik-Popanz. Sie erinnern, worum es in der Bildung wirklich geht.

In der letzten Zeit ist viel vom sogenannten „Romantik-Popanz“ (Stefan Matuschek) die Rede. Dieser Popanz besteht unter anderem darin, dem „Schreckgespenst des romantisch-deutschen Irrationalismus“ (Matuschek) in Form von Impfgegnern, Querdenkern und anderen Pariagestalten wiederzubegegnen. „Die“ Romantik mitsamt ihren Traditionsgehalten wird für die Irrfahrten der Gegenwart verantwortlich gemacht. Es fehlt nur noch, dass die typische romantische Innerlichkeit auch für die sinkende Wahlbeteiligung herhalten muss. Damit stellt sich die Frage, ob auch die Idee der romantischen Universität zum „Romantik-Popanz“ der Gegenwart gehört. Sind beide eine Art „Schreckgespenst“ der Universitäts- und Bildungsreform, denen wir immer wieder dann begegnen, wenn Hochschul- und Bildungspolitiker Humboldt, Schleiermacher und andere beschwören? Novalis’ zweihundertfünfzigster Geburtstag im Mai dieses Jahres ist eine willkommene Gelegenheit, sich noch einmal diesen Fragen zu widmen.

Dem breiteren Publikum ist Novalis vor allem durch seine „Hymnen an die Nacht“ und seine Romanfragmente „Heinrich von Ofterdingen“ und „Die Lehrlinge zu Sais“ bekannt. In keiner Literaturgeschichte der Romantik fehlen seine Sätze: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man ihren ursprünglichen Sinn wieder.“ In vielen anderen Texten beschäftigt sich Novalis mit allen möglichen Wissensgegenständen. Sein Spektrum reicht, als Reflexion seines Brotberufs als Bergbauingenieur, von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen über die orientalische Kultur bis hin zu komplexen Denkgebäuden, die in der Folge von Fichtes Philosophie entstanden sind.

Gehen wir mit Novalis zunächst in den Tempel zu Sais, einem Ort in Ägypten. Dort spielt das Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“. Worum geht es? An einem Ort, der der Zeit enthoben scheint, nämlich in einem Tempel, versammeln sich zunächst Lehrlinge und ein Lehrer. An diesem Ort werden permanent Gespräche zwischen dem Lehrer und den Lehrlingen geführt. Später ergänzen Reisende die Gemeinschaft für eine kurze Zeit. Die Gesprächskreise werden bisweilen erweitert oder verengt, lösen sich wieder auf und treten wieder zusammen. Es geht um Fragen der Erziehung, der Schrift oder der Natur und ihrer Erkenntnis. Die Personen tragen keine Namen und schreiben nicht. Sie diskutieren und erzählen, als Unterbrechung ihrer Gespräche über die verschiedenen Ansichten der Natur, ein Märchen.

„Die Lehrlinge zu Sais“ sind ein propädeutischer oder metapädagogischer Text, der sich mit den Methoden des Lernens und ihrem Vollzug beschäftigt. Schelling sagt 1803 in seinen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ dementsprechend, dass der Student ein „Künstler im Lernen“ sei. Der Universitätslehrer muss seine erzieherische Aufmerksamkeit auf etwas richten, was Humboldt in „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ von 1810 dann „Sehnsucht“ nennt. Diese „Sehnsucht“ nach einem Überschreiten der je eigenen individuellen Grenzen des Wissens zu wecken ist Aufgabe der universitären Lehre.

Wandern wir nun mit Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ durch ein phantastisches Mittelalter. Novalis präsentiert in seinem Romanfragment eine nicht sonderlich aufregende Geschichte. Ein Handwerkersohn reist mit seiner Mutter von Eisenach nach Augsburg. Das ist die ganze Geschichte. Die Erzählung der Reisegeschichte wird bisweilen unterbrochen und unterhält den Leser durch Märchen und Musik, lässt ihn an Gesprächen teilhaben, die in Schlössern, Zimmern und Dorfkneipen stattfinden. Heinrich begegnet Kaufleuten, die Märchen erzählen, Dichtern, die schöne Töchter haben, Kreuzrittern und exotisch anmutenden Mädchen mit unfreiwilligem Migrationshintergrund, pensionierten Bergmännern, die die Ausbeutung der Natur zu einem Naturverhältnis verklären, versprengten Herrschern, die nunmehr als Einsiedler leben: Ein vielfältiges Panorama tut sich für den Leser auf. Der Weg zur Erkenntnis ist immer das Gespräch mit Freunden oder mit Unbekannten.

Heinrich als Bildungsfigur erscheint problematisch. Als Subjekt eines Bildungsromans oder Künstlerromans ist er nicht zu fassen. Eigentlich hört Heinrich von Ofterdingen nur zu, manchmal notiert er etwas, er singt bei einem Fest unter dem Einfluss von Alkohol und überlässt sich dem „bloße[n] Hören der Worte“. Ein Werk produziert er jedenfalls nicht. Am Ende des Textes, nach dem Tod seiner Geliebten Mathilde, ist er ein „Pilgrimm“, der in einem „Kloster, höchst wunderbar, wie ein Eingang ins Paradies“ seine Erfüllung findet. In diesem Kloster begegnet er einer Figur namens Sylvester.

Friedrich Kittler hat in seinem epochalen Aufsatz „Heinrich von Ofterdingen als Nachrichtenfluss“ von 1986 dieses Ende als Simulation der neuen Universität beschrieben. Heinrich wird nunmehr Student in einer Art virtueller Universität, in der die Philosophie an höchster Stelle steht. Bildungsfigur zu sein heißt, mit Kittler gesprochen, Student zu werden; ein Student, der aber nicht ausgebildet, sondern in die Wissenschaft und ihren Vollzug initiiert wird. Lehre hat nunmehr nicht mehr die Aufgabe, reine Wissensvermittlung zu sein, sondern sie soll Bildung in der und durch die Wissenschaft ermöglichen.

Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Sachverhalten dient also nicht mehr nur einseitig der Vermittlung des je aktuellen Standes des Wissens, sondern in der Lehre soll gerade dieser Stand der Wissenschaft infrage gestellt, das heißt mit wissenschaftlichen Mitteln untersucht werden, wie Humboldt ähnlich in seiner „Denkschrift“ schreibt: „Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, daß sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt.“

Wenn Bildung Auseinandersetzung mit dem anderen ist, dann ist die Konsequenz die Befassung mit anderen Kulturen. Sie gehört unbedingt zur literarischen Bildung. In visionärer Form hat Novalis diesen Komplex in seinem „Heinrich von Ofterdingen“ verhandelt. Kreuzzüge gehören etwa zur Vollständigkeit des Mittelalterbildes im Roman. Sie setzen eine ganz bestimmte Form des Kulturkontakts zwischen Orient und Okzident in Szene. Im Text kommen sie in dreifacher Form vor: als Erzählung von Kreuzrittern, die als marodierende und saufende Truppe geschildert werden, als „Kreuzgesang“, „der damals in ganz Europa gesungen wurde“, und als Lied der „Morgenländerin“ Zulima, die von den Kreuzrittern entführt und nach Europa verschleppt worden ist. Zulima ist poetisches Sinnbild des Heimatverlusts.

Ihr gebrochenes Deutsch, das sie im Roman „leise“ spricht, deutet auf den Verlust hin, sich in einer Sprache zu Hause zu fühlen. Sie ist nicht nur ihrer Sprache, sondern vielmehr noch all der Selbstverständlichkeiten des Ausdrucks beraubt. Novalis’ Zulima beschreibt auf eine andere Art und Weise den allumfassenden Verlust, den Hannah Arendt in Bezug auf die geflüchteten und zwangsexilierten Juden des zwanzigsten Jahrhunderts formuliert hat: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit unseres Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Ge¬fühle.“

Frühromantische Kulturtheorie, ihre Vorstellungen von Bildung und Universität gehören keineswegs zum Romantik-Popanz. Sie sind kritische Bilanzierungen jener scheinbaren Modernität, mit denen unsere Gegenwart sich selbst beschreibt. Beschleunigter Zeittakt, Bildung als Ressource und nicht als Selbstverhältnis, eine Universität, die sich nicht mehr als Ort des lernenden Gesprächs, sondern der Kompetenzakkumulation begreift: All diese Fiktionen der Gegenwart bekommen in Novalis’ Denken und Texten ihr Gegenbild.

Quelle: F.A.Z. 1.1.2023

e-learning, bildung, lernen

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