Oct 29, 2022 16:41
»Wenn der Mensch nicht selbst denkt, ist es immer seine Schuld«
Sind alle gleich erschaffen? Gibt es höhere Gerechtigkeit? Und wie mutig muss man sein, um den eigenen Verstand zu nutzen? Der deutsch-israelische Philosoph Boehm über Immanuel Kant und die Rettung der liberalen Demokratien.
Ein Interview von Lothar Gorris
• Zur Person
Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa, ist Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York.
SPIEGEL: Herr Boehm, Ihre Seminare an der New School for Social Research in New York über den Philosophen Immanuel Kant eröffnen Sie seit Jahren mit dem berühmten Satz aus der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Boehm: »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.« Dann frage ich die Studenten, wer diesen Satz befürwortet.
SPIEGEL: Und?
Boehm: Früher haben alle automatisch die Hand gehoben.
SPIEGEL: Ist das nicht fast eine Banalität, diesen Satz gut und richtig zu finden?
Boehm: Der Satz ist wichtig, und genau deswegen darf er nicht zur Banalität verkommen. Ich wollte die Studenten in Verlegenheit bringen. Warum glaubt ihr eigentlich an diese »selbstverständlichen« Wahrheiten? Vielleicht sind sie falsch? Und wie kann man sie begründen, wenn überhaupt? Irgendwann geschah im Lauf der Jahre etwas Unerwartetes: Niemand hob mehr die Hand.
SPIEGEL: Kann nicht sein.
Boehm: Das war kein Prozess. Es geschah praktisch von einem Moment auf den anderen.
SPIEGEL: Und wie reagieren Sie?
Boehm: Ich frage, ob die Studenten die Unabhängigkeitserklärung etwa für falsch halten? Niemand hebt die Hand. Aha, glaubt ihr vielleicht, dass nicht alle Menschen gleich sind? Niemand hebt die Hand. Früher reagierten Studenten erstaunt und verwirrt, heute werden sie sehr wütend. Mir aber geht es darum, ihnen zu zeigen, wie schwierig es ist, selbst zu denken. Dass alles, woran sie glauben, infrage gestellt werden muss.
SPIEGEL: Warum stellen die Studenten diesen Satz infrage?
Boehm: Weil die meisten Autoren der Unabhängigkeitserklärung selbst Sklavenhalter waren. Daraus ziehen die Studenten den Schluss: Die Unabhängigkeitserklärung sei eine Maske des weißen Mannes. Die universalistischen Werte der Aufklärung seien eine Heuchelei. Wer solche Werte befürworte, befürworte die Unterdrückung anderer, deren Versklavung und Diskriminierung. Dies war bei der radikaleren Linken schon lange Allgemeingut und Mode geworden. Aber diese Studenten sind nicht einfach crazy lefties. Ihre Zweifel sind richtig und wichtig.
SPIEGEL: In ihrem Buch »Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität« beschäftigen Sie sich ausführlich mit diesem Kernsatz des Universalismus: Wie er zu begründen ist, fernab religiöser oder naturrechtlicher Ableitungen, und seine Kraft nur entfalten kann, wenn man ihn als Ausdruck einer absoluten Wahrheit begreift. Wie dieser Satz andererseits benutzt wurde von einem Amerika, das bis zum heutigen Tag seiner Unabhängigkeitserklärung nicht gerecht geworden ist, und von einem weißen Europa, das kolonialistisch die Welt eroberte. Und warum eine Rückbesinnung auf den wahren Universalismus Immanuel Kants die heutigen liberalen Demokratien aus ihrer Krise befreien könnte. Was genau ist der Gedanke Kants?
Boehm: Kant hat früh verstanden, dass die Aufklärung dazu neigt, die Naturwissenschaften zu einer Art neuen Religion zu erklären, zur einzigen Quelle von Wahrheit. Damit wird der Mensch zu einem Objekt der Natur. Ist er ein Objekt, kann man ihn wie alle anderen Objekte besitzen und beherrschen. Dann wären Kolonialismus und Versklavung nicht nur trotz Aufklärung, sondern ihretwegen entstanden. Übrigens: Das ist nicht weit weg von heutiger linker Aufklärungskritik. Kant hat die Aufklärung kritisiert, um den Universalismus zu retten. Deswegen ist er heute so wichtig. Er hat den Begriff Mensch moralisch formuliert: Was den Menschen menschlich macht, ist keine biologische Eigenschaft, sondern dessen Freiheit, sich moralischen Gesetzen zu verpflichten.
SPIEGEL: Zum Beispiel, dass alle Menschen gleich erschaffen sind?
Boehm: Genau. Für Kant ist der Mensch, weil er frei ist, kein Mittel für etwas, sondern ein Zweck an sich. Das ist die eigentliche Bedeutung des Kategorischen Imperativs: Der Mensch ist ein Wesen, das nie versklavt werden darf. Eine solche »kategorische« Wahrheit ist absolut und steht über jeder anderen Autorität oder jedem Gesetz. Womit wir wieder bei den »selbstverständlichen« Wahrheiten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wären.
SPIEGEL: Kant ruft man nach, er sei ein Rassist und ein Misogyn gewesen.
Boehm: Nicht nur ein großer Denker, sondern auch ein Kind seiner Zeit. Aber Kant wird nicht allein vorgeworfen, dass er Rassist war und damit seinen eigenen Idealen nicht gerecht wurde, sondern dass der Kantianische Universalismus eine Form von Rassismus sei. Einige wollen ihn sogar dafür verantwortlich machen, dass die Nazis Menschen in Herrenvolk und Untermenschen einteilten. Aber ohne Kants Universalismus wäre es sehr schwierig zu verstehen, was an Kants rassistischen und kolonialistischen Aussagen so schlimm sein soll.
SPIEGEL: Es gibt diesen Satz Kants über die Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Was meint er damit?
Boehm: Menschsein heißt, dass wir der Verantwortung, die sich aus der Freiheit ergibt, niemals entkommen können. Wenn der Mensch nicht selbst denkt, ist es immer seine Schuld, nicht die Schuld externer Autoritäten: nicht die einer Religion, einer Ideologie, nicht des Kapitalismus und auch nicht ungerechter Geschlechterstrukturen. Menschsein heißt auch, die Fähigkeit und den Mut zu haben, externe Autoritäten abzulehnen. In einem berühmten Kommentar zum Eichmann-Prozess, wo der Angeklagte sich mit der Pflicht zum Gehorsam verteidigte, sagte Hannah Arendt: »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen«. Das ist tatsächlich Kants Kern.
SPIEGEL: »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen« ist ein großartiger Satz.
Boehm: Und vielleicht noch radikaler, als er klingt. Denn Selbstdenken, also die Zurückweisung der Autorität anderer, ist praktisch unmöglich, wenn man, wie moderne liberale Denker es oft tun, Moral durch demokratische Übereinkunft ersetzt. Man ist heutzutage stolz darauf, Gehorsam gegenüber nicht menschlichen Autoritäten wie der Religion, aber auch gegenüber Prinzipien wie höherer Gerechtigkeit abzulehnen und stattdessen nur menschliche Autorität zu akzeptieren. Das klingt radikal demokratisch.
SPIEGEL: Und auch vernünftig.
Boehm: Da bin ich mir nicht so sicher. Wir brauchen höhere Prinzipien der Gerechtigkeit - gerade auch dafür, um den Gehorsam gegenüber »menschlichen Autoritäten« abzulehnen.
SPIEGEL: Verstanden. Wie kann das abstrakte Denken Kants einer liberalen Gesellschaft helfen, der Sie ja einen krisenhaften Zustand attestieren? Und worin besteht die Krise?
Boehm: Es beunruhigt die Menschen zurecht, dass unsere Gesellschaft zunehmend keine Wahrheit mehr findet. In den USA nennt man das »post-truth«. Gleichzeitig hat man die monumentale Tatsache verdrängt, dass wir schon seit Jahrzehnten in einer Gesellschaft der Post-Gerechtigkeit leben. Anscheinend nehmen wir einfach hin, dass der moderne Rationalismus und der moderne Liberalismus nur Macht und Interessen im Blick haben, aber eben nicht Gerechtigkeit. Die derzeitigen antiaufklärerischen Tendenzen sowohl bei den Rechten als auch bei den Linken sind eine Reaktion darauf. Und beide Seiten wollen die Gerechtigkeit retten, indem sie auf Identität setzen. Die Rechte kämpft im Namen traditioneller, nationalistischer Werte, ein Nährboden für Autokratien und Diktaturen, schauen Sie nach Italien. Die Linke kämpft für Gerechtigkeit im Namen von Gender oder Race.
SPIEGEL: Aber unsere westlichen Gesellschaften werden von einem robusten liberalen, demokratischen Kern geprägt, der Ihnen sicherlich beipflichten wird in der Kritik identitären Denkens.
Boehm: Diese robuste Mitte existiert in Deutschland. Aber nicht mehr in den Vereinigten Staaten, nicht mehr in Italien, Polen oder Ungarn, in Frankreich nicht wirklich, in Israel auch nicht. Die liberale Mitte verschwindet, weil ihr angeblicher Universalismus oft nur eine leere Hülse ist. Ist der angeblich universale »Wir«-Liberalismus und Patriotismus des liberalen Amerikas, in Wahrheit nicht selbst identitär? Es müsste doch selbstverständlich sein, dass man universelle Gerechtigkeit nicht mit der Nation verteidigen kann. Wo ein »Wir« ist, immer auch ein »Ihr«. Nur der Universalismus ist größer, er ist eine Abstraktion, die von uns selbst absieht. Diejenigen aber, die vom »Wir« sprechen, haben immer das Sagen. Waren Amerikas Sklaven Teil des »Wir«? Die Juden Teil eines deutschen »Wir«? Sind Palästinenser Teil eines israelischen oder gar jüdischen »Wir«?
SPIEGEL: Was würde Kant nun sagen?
Boehm: Dass aufgeklärte Politik eine Öffentlichkeit braucht, die nicht mit Identität, also nicht mit einem »Wir« beginnt. Es braucht die abstrakte Wahrheit: Alle Menschen sind gleich erschaffen. Erst am Ende eines politischen Gesprächs können wir über ein »Wir« verhandeln, über Identitäten, die immer fluide, immer in Bewegung bleiben müssen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ethnische, religiöse, sexuelle Identitäten sind sehr wichtig, sie müssen ihren Raum haben und verteidigt werden. Deswegen kann Identitätspolitik richtig sein, wenn sie Grundrechte für diskriminierte Gruppen fordert. Leitet man aber Politik aus Identitäten ab, führt das, um das Modewort zu benutzen, zu gegenseitigem Canceln. Am Ende geht es nur noch darum, welche Identität mehr Macht hat.
SPIEGEL: Was genau ist eigentlich Identitätspolitik?
Boehm: Ein Kampfbegriff, ich mag ihn nicht. Wir alle haben eine Identität, sie ist wichtig für jeden Menschen, der sein eigenes privates Leben führt. Aber wenn Identität zum obersten Wert einer Gesellschaft wird, zum Anker des öffentlichen Lebens, ist sie schwierig.
SPIEGEL: Was ist der Unterschied zwischen privat und öffentlich?
Boehm: Kant hat ein sehr breites Verständnis davon, was privat ist. Wenn ich als Omri Boehm das Wort ergreife, dann tue ich dies als Jude, als ehemaliger Soldat, als Israeli, als Mann, als Professor, als Vater. Und selbst wenn ich ein öffentliches Amt hätte, Richter oder dergleichen, wäre all dies privat. Weil sich daraus nur der eigene subjektive Blick auf die Welt ergibt. Niemand scheint den Anspruch zu haben, darüber hinauszuschauen.
SPIEGEL: Deswegen wird der gesellschaftliche Diskurs inzwischen so oft von einem identitären Ich aus geführt?
Boehm: Entweder produziert da ein narzisstisches Milieu narzisstisches Denken. Oder umgekehrt. Wenn ich nur über das spreche, was ich fühle, gelingt es mir, der schwierigen Pflicht zu entkommen, niemals zu gehorchen. Stattdessen gehorche ich meiner Identität, was mir dann auch das Recht zu geben scheint, niemals irgendwie korrigiert zu werden.
SPIEGEL: Wenn Universalismus absolut ist, gilt er überall, nicht nur in unseren westlichen Gesellschaften. Was heißt das beispielsweise für den Umgang mit China?
Boehm: Wenn es universelle Maßstäbe gibt, müssen und dürfen sie auch außerhalb der eigenen Gesellschaft verteidigt werden. So wie die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis kämpften. Und unser Umgang mit der Volksrepublik China hätte viel stärker von unserer Ablehnung der chinesischen Menschenrechtsverletzungen geprägt sein müssen als nur von den Interessen, beispielsweise, deutscher Unternehmen. Man sollte aber prinzipiell in den eigenen Gesellschaften anfangen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Boehm: Wenn man, wie es deutsche Politik tut, darauf beharrt, dass das Internationale Recht in der Ukraine verteidigt wird und Russlands Kriegsverbrechen vor einem Internationalen Gericht verhandelt werden müssen, sollte man andererseits die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs nicht untergraben, wenn dieser Gerichtshof Ermittlungen gegen israelische Kriegsverbrechen ankündigte.
SPIEGEL: Muss Politik nicht immer auch pragmatisch sein?
Boehm: Sie darf nicht »pragmatisch« sein, nur weil es besser zu Deutschlands Interessen passt. Dann haben die postkolonialen Kritiker recht, wenn sie sagen: Geht es gegen Russland, interessieren sich plötzlich EU, Deutschland und Nato sehr stark für Internationales Recht; geht es um Palästina, lehnen sie es ab. Internationales Recht ist so kein Recht, sondern eine Waffe, um die Interessen, die Identität und, ja, die Herrschaft des Westens zu verteidigen.
SPIEGEL: Sie sind in Israel geboren, waren drei Jahre lang beim Inlandsgeheimdienst Schin Bet, haben in Tel Aviv studiert und besitzen die deutsche sowie die israelische Staatsbürgerschaft. In Ihrem Buch »Israel - eine Utopie« haben Sie vor zwei Jahren Ihre Idee eines radikalen Universalismus auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina angewandt. Weil eine Zweistaatenlösung längst nicht mehr realistisch ist, glauben Sie, dass es eine Föderation geben muss, in der Palästinenser und Juden die gleichen Rechte haben, einen Staat also, der sich nicht mehr als jüdischer Staat definieren kann. Sie haben sich damit nicht viele Freunde gemacht.
Boehm: Doch, ganz viele Freunde, aber auch ein paar Feinde. Der Zionismus ist Identitätspolitik. Er ist so etwas wie die Mutter moderner Identitätspolitiken. Und wenn Identitätspolitik jemals gerechtfertigt war, dann in diesem Fall. Denn tatsächlich hat der Universalismus der Aufklärung bei uns Juden versagt. Er hat nicht unsere Rechte verteidigt, nicht unsere Kultur und unsere Leben sowieso nicht. Man könnte also sagen, die Aufklärung hat nicht nur Kolonialismus und Sklaverei hervorgebracht, sondern auch Auschwitz. Wir sind als Juden gezielt angegriffen worden, und deswegen brauchen wir unsere eigene, jüdische Politik.
SPIEGEL: Kein Einspruch. Und wer dieses Existenzrecht Israels infrage stellt, ist ein Antisemit.
Boehm: Das stimmt: Israels Existenzrecht darf nicht infrage gestellt werden. Das bedeutet aber nicht, dass er sich weiterhin als jüdischer Staat definieren muss, zumal ja die Hälfte der Menschen, die in Israel und den besetzten Gebieten leben, Palästinenser sind. Schauen wir uns die palästinische Seite an: Sie sagen, dass sie von Außenstehenden kolonisiert wurden, dass sie vertrieben wurden; dass diejenigen, die geblieben sind, gewaltsam unterdrückt werden. Israel, und das ist die Position vieler postkolonialer Kritiker, ist nicht nur eine dieser unvollkommenen westlichen liberalen Demokratien, sondern es ist wie alle westlichen Demokratien auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet.
SPIEGEL. Jetzt klingen Sie wie ein Unterstützer der antiisraelischen Boykott-Initiative BDS.
Boehm: Der ich nicht bin. Ich habe in den USA schon BDS kritisiert, bevor hier jemand den Begriff kannte. Trotzdem sollte der SPIEGEL mal ein Interview mit einer BDS-Unterstützerin machen, unangenehme Fragen stellen, und deren Antworten ernst nehmen. Tatsächlich argumentieren beide Seiten identitär, und wer Politik für die eigene Identität betreibt, ob jüdisch oder palästinensisch, gelangt zwingend zur jeweiligen Auslöschung des anderen.
SPIEGEL: Das Existenzrecht Israels ist, so hat es Angela Merkel formuliert, Staatsräson in Deutschland. Aus guten und offensichtlichen Gründen.
Boehm: Die Frage aber ist, wie man beiden Verpflichtungen gerecht wird: der Verpflichtung gegenüber Israel wie gegenüber Internationalem Recht. Eine schwierige Herausforderung: auf der einen Seite wollen zionistische Denker keinen Zusammenhang erkennen zwischen Holocaust und der israelischen Staatsgründung einerseits und ihrem Kolonialismus andererseits, weil dies angeblich die Vernichtung des europäischen Judentums relativiere. Deswegen dürfe Israel nicht als ein kolonialistischer Apartheidstaat betrachtet werden, sondern nur als ein Staat von Holocaustüberlebenden.
SPIEGEL: Das Verbrechen, das die Deutschen begangen haben, ist zu groß, als es zu relativieren.
Boehm: Auf der anderen Seite stehen die Palästinenser und Postkolonialisten, die eigentlich ähnlich argumentieren wie heutige Zionisten, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Für sie ist es eine Kolonialismus-Relativierung, wenn man die Einzigartigkeit des Holocaust betont, um die Vertreibung der Palästinenser und die Besetzung Palästinas zu erklären.
SPIEGEL: Dieser Widerspruch ist einer von vielen Gründen, warum dieser Konflikt unlösbar erscheint.
Boehm: Die einzige Möglichkeit, dieser Sackgasse zu entkommen, wäre es, auf Universalismus zu beharren statt auf Identität. Also die eigene Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die jeweiligen Identitätsansprüche daran zu messen.
SPIEGEL: Ihre Kritiker machen Ihnen den Vorwurf, dass dieser Universalismus jüdische Identität auslösche, damit im Kern sogar antisemitisch sei. Und tatsächlich: Gäbe es kein jüdisches Israel, hätte der Judaismus nicht auf einen robusten Partikularismus beständen, gäbe es vielleicht keine Juden mehr.
Boehm: Eine ähnliche Position hat der israelische Soziologe Natan Sznaider vor Kurzem im SPIEGEL vertreten. Sznaider spricht von einem »politischen Universalismus«, den er ablehnt, weil eine angestrebte »radikale Gleichheit« die Unterschiede zwischen Juden und anderen auslöschen würde. »Früher sollte das im Namen von Jesus geschehen, heute unter dem Banner der weltweiten Gleichheit.« Es geht aber nicht um irgendeine »radikale Gleichheit«, sondern um Gleichheit vor dem Gesetz. Dort, wo solche eine Gleichheit nicht existiert, herrscht kein Rechtsstaat, dort dient das Gesetz als Werkzeug der Starken, um die Schwachen zu dominieren. In einem jüdischen Staat sind Nichtjuden eben nicht gleich vor dem Gesetz. Um es kurz zu machen: Genau wie die Denker eines radikalen Postkolonialismus und der Critical-Race-Theorie den Universalismus als rassistisch verurteilen, glaubt Sznaider, Universalismus und Liberalismus seien antisemitisch.
SPIEGEL: In Deutschland wurde in der jüngsten Vergangenheit vor allem wegen der Documenta so viel und heftig wie lange nicht über Antisemitismus gesprochen.
Boehm: Gesprochen? Eher geschrien. Das Geschrei hatte so verrückte Züge, dass mich das tatsächlich beunruhigt.
SPIEGEL: Verrückt?
Boehm: Jeden Monat ein neuer Antisemitismusskandal, und jedes Mal lauter.
SPIEGEL: Es gibt vernünftigerweise eine hohe Sensibilität in Deutschland für Antisemitismen aller Art. Sie ist alternativlos.
Boehm: Die deutsche Öffentlichkeit ist zu Recht sehr sensibel. Aber wenn man internationale Rechtsorganisationen, NGOs und sogar Juden als Antisemiten diffamiert, hat das Symptome einer Neurose. Was nicht hilfreich ist im Kampf gegen echten Antisemitismus.
SPIEGEL: Was daran ist neurotisch?
Boehm: Dass man vor lauter Ängsten den Blick auf die Realität verliert.
SPIEGEL: Als ob Antisemitismus keine Realität wäre.
Boehm: Doch, und das ist der Punkt. Es gibt Antisemitismus, der ist real und gefährlich, auch von links. Aber die größere Gefahr droht von rechts. Rassistischer antisemitischer Nationalismus nimmt zu, gewinnt immer mehr an Legitimität, auch mit israelischer Unterstützung - denken Sie an Trump, an Orbán, an Meloni, die alle enge Verbindungen zur israelischen Regierung pflegen. Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich für diese Realität eher wenig.
SPIEGEL: Warum jetzt die Diskussionen?
Boehm: Zwei Gründe. Der erste hat mit Israel zu tun. Die zunehmenden Ängste vor linkem Antisemitismus und Antizionismus in Deutschland sind entstanden durch das Ende der Zweistaatenlösung. Die alten Tabus haben der Realität nicht standgehalten und nun spuken neue, gefährliche Ideen durch die Welt: Entweder wird Israel ganz offiziell ein Apartheidsystem, noch schlimmer als jetzt, oder es kommt zur Gründung eines explizit demokratischen und nicht jüdischen Staates. Das alte Denken bietet keinen Ausweg mehr.
SPIEGEL: Und der zweite Grund?
Boehm: Der hat mit Deutschland zu tun, wo gerade diejenigen Konservativen, die sich sorgen, dass die Ideen der Aufklärung und des Universalismus identitätspolitisch unter Beschuss sind, dieselben sind, die in der Israelfrage eine aggressive Identitätspolitik vertreten und eine Cancel Culture betreiben.
SPIEGEL: Wie das?
Boehm: Weil die Verteidigung Israels ein wichtiger Teil heutiger deutscher Identität ist. Das, was wir da erleben, ist daher auch deutsche Identitätspolitik.
SPIEGEL: Das ist jetzt ziemlich kühn.
Boehm: Mag sein.
SPIEGEL: Noch mal, bitte: Die Reaktionen in Deutschland auf die antisemitische Kunst in Kassel sehen Sie als identitätspolitische Cancel Culture?
Boehm: Das meine ich nicht. Die antisemitischen Darstellungen auf dem Wandbild von Taring Padi waren Grund genug, diese Arbeit abzuhängen. Das ist nicht Cancel Culture. Aber es ging offensichtlich um mehr als nur um dieses oder jenes Kunstwerk. In diesen nicht endenden Antisemitismus-Skandalen wird doch vor allem deutsche nationale Identität verhandelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte deutsches Nationalbewusstsein nicht den besten Ruf, es wurde durch den sogenannten Verfassungspatriotismus ersetzt. In diesem Prozess veränderte sich die Vorstellung, wer Deutscher ist. Statt Blut oder Kultur ist es jetzt nur ein deutscher Pass, der entscheidet, ob jemand deutsch ist. So paradox das klingt: Aber kann es sein, dass es der letzte Rückzugsort eines ethnisch-geprägten Nationalbewusstseins ist, wenn nur »wahre« Deutsche den Kampf gegen Antisemitismus führen, Israel verteidigen und der Vergangenheit überhaupt gerecht werden können? Und nicht ethnische Deutsche nur akzeptiert werden können, wenn sie dieses deutsche Narrativ übernehmen oder zumindest den Mund halten? Das ist eine gefährliche, schmerzvolle und auch beunruhigende Diskussion. Was also verteidigen diese Deutschen? Das Recht der Juden auf eine robuste, partikulare Identität? Oder in Wahrheit ihr Recht auf eine eigene robuste Identität?
SPIEGEL: Wahrscheinlich beides, oder?
Boehm: Aber impliziert die Vorstellung, dass die Juden das Recht auf einen eigenen ethnischen Staat haben, nicht auch, dass die Deutschen dasselbe Recht hätten? Orbán und Meloni jedenfalls denken identitär und fühlen sich deswegen auch Israel so nahe und verbunden. In Deutschland allerdings, mehr als irgendwo anders, sollte man sich dieser Logik verweigern.
SPIEGEL: Ein etwas plattfüßiges Verständnis Ihres Universalismus könnte ja bedeuten: Lass uns mal vergessen, dass Sie Jude sind und ich Deutscher bin, wir sind doch alles Menschen?
Boehm: Diejenigen, die das zu vergessen scheinen, sind genau jene, die Israel besonders aggressiv verteidigen, weil sie damit ihre eigene Identität verteidigen. Eine deutsche Zeitung hat mir unterstellt, dass ich eine »Endlösung« befürworte. Der Grünenpolitiker Volker Beck schrieb auf Twitter, ich sei ein »Apostel« des Antisemitismus. Man könnte tatsächlich etwas mehr Sensibilität erwarten im Umgang eines Deutschen mit einem Juden. Und was uns beide betrifft: Es gibt keinen Grund, warum wir vergessen sollten, dass Sie Deutscher und ich Jude bin, aber sagen Sie mir ehrlich, was Sie denken und warum, und ich tue das auch und dann machen wir Fortschritte.
SPIEGEL: Wir sind ja mittendrin. Aber Sie stellen viele Selbstverständlichkeiten der nach dem Krieg geborenen Deutschen infrage. Eigentlich alle.
Boehm: Ich würde im Gegenteil sagen, dass ich hier etwas verteidige, was wohl die wichtigste Erkenntnis des Zweiten Weltkriegs ist: Die Verpflichtung zur Aufklärung und zum Universalismus ist der einzige Weg, um aus den Ruinen der deutschen Vergangenheit herauszufinden. Und dafür brauchen wir eine gesunde, öffentliche Debatte, die einerseits die Pflichten und Versprechen der Deutschen (»nie wieder Auschwitz«) genauso ernst nimmt wie die Ängste und Pflichten der Juden. Die andererseits aber nicht zulässt, dass diese Pflichten und Ängste wichtiger werden als die Verpflichtung zum Humanismus. Das hieße nämlich, dass Auschwitz den Universalismus aushöhlt, untergräbt. Aus Auschwitz kann es nur eine Lehre geben: Die Idee, dass alle Menschen gleich erschaffen sind, muss unbedingt verteidigt werden.
SPIEGEL: Ein deutscher Liberaler sollte also den Mut haben, die Situation in Israel als Apartheid zu beschreiben? Das fällt mir schwer.
Boehm: Sie sollten es tun, wenn es so ist. Aber egal, ob es so ist oder nicht, die Sache ist kompliziert, es hat nichts mit deutscher Identität zu tun. Und falls es Sie beruhigt: Bekannte israelische Linksliberale wie der Schriftsteller David Grossman sprechen von Apartheid, und nicht nur in der Westbank. Der Historiker Yuval Noah Harari hat eine ähnliche Position. Er verwendet nicht das Wort Apartheid, sagt aber, dass Israel ein Drei-Klassen-System betreibe: Juden mit allen Rechten, einigen palästinensischen Bürgern mit einigen Rechten und vielen Palästinensern mit fast keinen Rechten. Diese Leute sind genauso wenig antiisraelisch, wie ich es bin. Ihre Argumente aber, ihre Stimmen dazu werden nicht gehört, wenn eine Organisation wie Amnesty International gecancelt wird, was in diesem Fall tatsächlich der richtige Ausdruck ist.
SPIEGEL: Ihre Idee eines Universalismus impliziert eine grenzenlose Radikalität. Sie schreiben: Wahrheit hat den Vorrang vor Demokratie. Manchmal erinnert Ihre Rhetorik ein wenig an den wissenschaftlichen Sozialismus, der für eine totalitäre Ideologie eine pseudowissenschaftliche Begründung fand. Absolute Wahrheiten, so haben es demokratische Gesellschaften gelernt, widersprechen letztlich der Idee von Vernunft. Glauben Sie nicht, dass da Vorsicht angebracht sein sollte?
Boehm: Vorsicht immer, aber es gibt eine scharfe Unterscheidung zwischen der selbstverständlichen und tatsächlich absoluten Wahrheit, »dass alle Menschen gleich erschaffen sind« und irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Begründungen für Totalitarismus. Noch einmal: Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen. Das ist das exakte Gegenteil von den pseudowissenschaftlichen Wahrheiten eines totalitären Regimes: Es will, dass Menschen gehorchen, es will ihnen vorschreiben, was sie denken.
SPIEGEL: In Ihrem Buch widmen Sie eine lange Passage John Brown, einem weißen, amerikanischen Abolitionisten, der kurz vor Beginn des Bürgerkriegs zusammen mit weißen und schwarzen Männern ein Waffenarsenal der Armee in Virginia überfiel. Sie wollten Musketen und Gewehre an Sklaven in den Südstaaten verteilen, damit sie einen Befreiungskrieg beginnen. Für die meisten Zeitgenossen und Historiker war und ist John Brown ein Irrer und Fanatiker. Für Sie ist er eine Art kantianischer Held. Ließe sich der palästinische Terrorismus nicht ähnlich begründen? Es gibt Kritiker, die ihnen vorwerfen, die Bedeutung des Terrors gegen Israel zu vernachlässigen.
Boehm: Terror ist der bewusste Angriff auf unbeteiligte Zivilisten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Er benutzt Menschen als Mittel für die Erreichung politischer Ziele. Aber der Mensch darf nie als ein Mittel für etwas betrachtet werden, sondern immer nur als ein Zweck an sich. Meine Position zum palästinensischen Terror: Zivilisten absichtlich anzugreifen ist niemals legitim, unter keinen Umständen. Das gilt auch für jüdischen Terrorismus und Fanatismus.
SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich in Ihren Seminaren gelernt?
Boehm: Ich habe gelernt zuzuhören. Mag sein, dass die Studenten zu Ideen wie Identitätspolitik, Critical-Race-Theorie oder Postkolonialismus neigen, und dennoch beschäftigen sie sich mit Kant. Sie haben Interesse, sie hören zu, viele ändern ihre Meinung, nicht alle - gut so! Anders als man es in den Zeitungen über die Debattenkultur an amerikanischen Universitäten liest, anders als es Twitter, Insta oder was auch immer nahelegen, ist eine echte rationale Diskussion immer noch möglich. Und das sollte man nicht unterschätzen, das heißt: Auch Aufklärung ist möglich.
SPIEGEL: Herr Boehm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Spiegel 28.10.2022
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