Oct 27, 2022 13:16
„Wir sind in einem der brisantesten Momente der Geschichte“
Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Johannes Varwick, für den es im Ukraine-Krieg gegenwärtig „leider nur noch schlechte Optionen“ gibt.
Interview: Michael Wrase
Seine Ansichten zum Ukraine-Krieg bezeichnet Johannes Varwick selbst als „unpopuläre Meinung“. Doch in dem Konflikt gebe es gegenwärtig „leider nur noch schlechte Optionen“, sagt der Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin Luther-Universität in Halle.
Vor 60 Jahren wurde die Kuba-Krise beigelegt. Sie endete mit einem Kompromiss zwischen den Supermächten. Ein Atomkrieg konnte so in letzter Sekunde verhindert werden. Ist die Situation von damals mit der heutigen Lage in der Ukraine vergleichbar?
Die Lage damals war gefährlich, heute würde ich sie hingegen als brandgefährlich bezeichnen. Zudem hatten wir damals einfach Glück. Man sollte nicht darauf setzen, dass dies wieder so sein muss.
Und was ist anders als damals?
Aus russischer Perspektive geht es bei der Ukraine um vitale Interessen. Großmächte sind bereit, für ihre vitalen Interessen „all in“ zu gehen. Kuba war damals für die Sowjetunion wichtig, aber kein Fall eines vitalen Interesses, und deshalb gab es Verständigungsmöglichkeiten mit den USA. Zudem gab es damals die Möglichkeit vertraulicher Absprachen und „Geheimdiplomatie“ im besten Sinne. Dies ist heute ungleich schwieriger.
Großmächte sind bereit, für ihre vitalen Interessen „all in“ zu gehen.
Kürzlich haben Sie betont, dass der Westen in der Ukraine nicht auf moralische und völkerrechtliche Maximalpositionen pochen dürfe, sondern einen realpolitischen Ausgleich aus der gegenwärtigen Lage suchen müsse. Was heißt dies konkret?
Wir müssen auch in dieser schwierigen Lage politikfähig bleiben und dürfen uns nicht von einer Eskalationsdynamik mitreißen lassen. Ich bin dafür, innezuhalten und über einen realpolitischen Interessenausgleich in dieser völlig verfahrenen Situation nachzudenken. Dieser Konflikt ist einstweilen nicht lösbar und deshalb müssen wir ihn einfrieren. Eine Lösung müssen dann andere Generationen versuchen, die Aufgabe unserer Generation ist es, nicht in einen unkalkulierbaren, möglicherweise nuklearisierten Krieg mit Russland zu geraten. Ich habe den Eindruck, dass die Risikokompetenz bei vielen unterentwickelt ist. Wir befinden uns in einem der brisantesten Momente der Geschichte der internationalen Politik.
Die Unterstützer der Ukraine würden Ihnen jetzt vermutlich entgegenhalten, dass Russland nicht für seine Invasion belohnt werden dürfe. Nicht wenige Protagonisten wünschen sich den Sturz von Putin, der, so heißt es, wie einst Saddam Hussein, zur Rechenschaft gezogen werden müsse.
Das sind moralische Kategorien, die mir sympathisch sind, aber nichts zu einer Lösung beitragen. Eines der Missverständnisse der Debatte ist zu glauben, dass Gespräche schon Diplomatie bedeuten. Nur miteinander telefonieren ist aber noch keine Diplomatie. Unvereinbare Positionen zu einer gemeinsamen Position zu schmieden: Das ist Aufgabe der Diplomatie. Im Übrigen wird Russland schwächer und ärmer aus diesem Krieg hervorgehen, egal wie eine Lösung aussieht. Dass also Russland für seinen brutalen Angriff belohnt werden könnte, sehe ich so nicht.
Dieser Konflikt ist einstweilen nicht lösbar und deshalb müssen wir ihn einfrieren.
Was sollte man bei möglichen Verhandlungen mit Putin nicht zur Disposition stellen? Wo sind die Tabus und wo sollten sich die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten bewegen?
Unsere Interessen sind nicht deckungsgleich mit denen der Ukraine. Unsere Grundphilosophie sollte lauten: Solidarisch mit der Ukraine sein, aber zugleich russische Sicherheitsinteressen berücksichtigen und nicht auf einen Sieg gegen Russland, sondern auf einen Interessenausgleich setzen. Ein Tabu sollte sein, die Existenz der Ukraine als souveräner Staat infrage zu stellen. Reden sollten wir erstens über einen neutralen Status der Ukraine, der Russland erträglich ist und zugleich Sicherheitsgarantien für die Ukraine enthält. Zweitens wird es territoriale Veränderungen in der Ukraine geben, die wir nicht völkerrechtlich anerkennen, aber doch als Modus vivendi akzeptieren sollten und drittens sollten Sanktionen als Gestaltungselement betrachtet werden, das heißt, sie sollten auch wieder aufhebbar sein und Russland die Rückkehr zu Geschäften mit dem Westen ermöglichen.
In einer Diskussion haben Sie neulich einen „neogermanischen Bellizismus“ in Deutschland und vermutlich anderen westlichen Staaten ausgemacht. Wie erklären Sie sich diese Kriegsbegeisterung, den fast schon frenetischen Jubel der Boulevardpresse über Kriegserfolge der Ukraine?
Man wähnt sich wohl in einer Art gerechtem Krieg für eine ja tatsächlich auch gute Sache. Der Angreifer ist klar auszumachen und auch das Opfer. Mich überrascht jedoch die Arglosigkeit, mit der weite Teile der Bevölkerung glauben, allein auf militärische Lösungen setzen zu können. Viele, die sich lange Jahre als Pazifisten auf der richtigen Seite sahen, sind nun auf der anderen Seite des Spektrums angekommen. Die „Krieg-muss-sein“-Fraktion hat zudem selten militärische Erfahrungen, viele haben sogar den Kriegsdienst verweigert oder waren selbst nie beim Militär. Mir scheint da ein idealisiertes Bild militärischer Lösungen vorzuherrschen. Zugleich ist es seltsam, mit massiven Waffenlieferungen eine Art Stellvertreterkrieg zu befeuern, selbst aber keine Soldaten schicken zu wollen. Das ist alles unausgegoren und verheizt am Ende die Ukraine. Wir sollten an diese Fragen nicht mit einem gesinnungsethischen Kompass herangehen, sondern nüchtern und mit kühlem Blick.
Mir scheint da ein idealisiertes Bild militärischer Lösungen vorzuherrschen.
Russland hat den Anschlag auf die Krimbrücke mit massiven Raketen- und Drohnenangriffen beantwortet. Welche weiteren Eskalationsmöglichkeiten befürchten Sie jetzt?
Ich habe seit Beginn des Krieges argumentiert, dass Russland die Eskalationsdominanz hat. Das tatsächlich militärisch stümperhafte Vorgehen zu Beginn des Krieges hat viele dazu verleitet zu denken, das russische Militär sei komplett unfähig. Selbst wenn das stimmt, kann Russland auch mit dieser Unfähigkeit in der Ukraine großen Schaden anrichten. Die mit westlichen Waffenlieferungen und eigener Tapferkeit erreichten militärischen Erfolge der Ukraine sind insofern eine Momentaufnahme und Russland kann und wird weiter eskalieren. Die Entwicklungen der vergangenen Wochen bestätigen mich darin. Die Ukraine kann diesen Krieg militärisch nicht gewinnen.
Welche Auswirkungen könnte die Mobilisierung der 300.000 russischen Reservisten für den Kriegsverlauf haben?
Das belegt nur, dass die russischen personellen Ressourcen beliebig steigerbar sind. Allerdings führt dies auch dazu, dass der Krieg mehr und mehr in der russischen Gesellschaft ankommt und das könnte durchaus zu Widerstand führen. Das ist für Putin also riskant. Wir können die Szenarien, die sich ergeben könnten, nicht vorhersehen und auch kaum beeinflussen. Aber ein Wandel in Russland selbst scheint mir die einzige Möglichkeit, die Lage für die Ukraine dauerhaft zu verbessern.
Sie sind der Ansicht, dass der Westen sich fragen müsse, welchen Preis „wir“ bezahlen wollen, um die russischen Kriegsziele zu durchkreuzen. Wo legen sie die Messlatte?
Die bisher selbst definierte Grenze ist der Einsatz eigener Soldaten und mithin eine direkte Kriegsbeteiligung. Russland sieht sich aber bereits im Krieg gegen den Westen und insofern ist das alles ein Ritt auf der Rasierklinge.
Mit moralisch und auch völkerrechtlich berechtigen Zielen wie der vollständigen Befreiung der Ukraine kommen wir einfach nicht weiter.
Ein politischer Interessenausgleich im Ukraine-Krieg ist für Sie „alternativlos“. Wie stellen sie sich das Ende des Krieges vor?
Die Zeit für Verhandlungen wird eines Tages ohnehin kommen und die Frage lautet: Wann beginnen wir realistische diplomatische Initiativen, um das definierte Ziel zu erreichen? Mit moralisch und auch völkerrechtlich berechtigen Zielen wie der vollständigen Befreiung der Ukraine kommen wir einfach nicht weiter. Diese Maximalziele sind einstweilen unerreichbar, denn sie würden entweder einen jahrelangen und opferreichen Abnutzungskrieg bedeuten oder zu einer nuklearen Eskalation führen.
Russland und die vom Westen unterstützte Ukraine halten weiter an ihren Maximalzielen fest. Das war vor 60 Jahren, während der Kuba-Krise, nicht anders. Experten wollen nicht ausschließen, dass Russland, vom Westen in die Defensive gedrängt, taktische Nuklearwaffen einsetzen könnte. Was muss man sich unter solchen Waffen vorstellen? Wie „wirken“ sie auf dem Schlachtfeld?
Die Sprengkraft selbst kleinerer taktischer Nuklearwaffen ist enorm und kann riesigen Schaden anrichten. Militärisch gesehen macht ein Einsatz dennoch relativ wenig Sinn. Es wäre eher das Signal, nahezu unbegrenzt eskalieren zu wollen. Das Problematischste ist also - über die unmittelbare Wirkung auf dem Schlachtfeld hinaus - die unkalkulierbare Eskalationsdynamik, die einem solchen Einsatz unwiderruflich innewohnt. Ein solcher Einsatz könnte nicht ohne massive westliche Reaktion bleiben, vermutlich eher im konventionellen Bereich, aber eben doch massiv. Das wiederum könnte dazu führen, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, auch in der Perzeption des Gegners, der dann womöglich strategische Nuklearwaffen einsetzen könnte. All dies würde - mit einer rasant kurzen Vorwarnzeit - allen Beteiligten Entscheidungen abverlangen, die auch nicht-intendiert irrational sein könnten. Ein Albtraumszenario.
Luxemburger Wort 27.10.2022
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