Dmitrij Medwedew Marionette in Putins Händen Eine Kolumne von Mikhail Zygar Er war einst das freu

Aug 15, 2022 11:06

Dmitrij Medwedew Marionette in Putins Händen

Eine Kolumne von Mikhail Zygar

Er war einst das freundliche Gesicht des liberalen und reformwilligen Russlands. Heute fällt Ex-Präsident Dmitrij Medwedew nur noch damit auf, gegen die Ukraine und den Westen zu hetzen. Was nur treibt diesen Mann an?

Einer der schlimmsten Vertreter des derzeitigen putinschen Russlands war in den vergangenen Monaten Dmitrij Medwedew. Ehemaliger Präsident, Liberaler, Gadget- und Hi-Tech-Enthusiast, Kumpel von Barack Obama, galt einst als Russlands Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung. Plötzlich ist er wie ein Werwolf zu einem der blutrünstigsten Rüpel geworden, der die Ukraine und die Welt bedroht.

Was ist mit Medwedew passiert? Der ehemalige Präsident ist keineswegs in Geiselhaft - er dürfte nach einem kalten politischen Kalkül handeln.

Ich habe Dmitrij Medwedew mehrmals getroffen. Zum Beispiel im Jahr 2010, als meine Kollegen und ich den Fernsehsender Doschd, den einzigen unabhängigen Nachrichtensender Russlands, aufbauten - und Medwedew Präsident war. In jenen Jahren fand er viele schöne, wenn auch abgedroschene Worte. So sagte er beispielsweise, dass »Freiheit besser ist als Unfreiheit«. Außerdem forderte er die Strafverfolgungsbehörden auf, »die Belästigung von Unternehmen einzustellen«. Es sah fast wie eine Revolution aus - und zwar gegen Wladimir Putin.

Die meisten Oppositionellen und unabhängigen Journalisten waren sehr misstrauisch gegenüber Medwedew. Viele sagten, er sei eine Marionette in Putins Händen, und seine Aufgabe sei es, vier Jahre lang auf dem Präsidentenstuhl zu sitzen und ihn unversehrt an Putin zurückzugeben. Offenbar sah auch Putin das so.

Aber es gab auch diejenigen, die Medwedew als Chance sahen. Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Ljudmila Aleksejewa, der legendären sowjetischen Menschenrechtsaktivistin und langjährigen Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe. Sie sagte, dass alles getan werden sollte, um Medwedew auf ihre Seite zu ziehen. Man dürfe ihn nicht zerstören - im Gegenteil, man müsse versuchen, ihn zu unterstützen. Seine Worte über die Freiheit seien ein guter Anfang, vielleicht wage er es nach einer Weile, Putin zu entlassen. (Übrigens lag Putins Schicksal vier Jahre lang in seinen, Medwedews, Händen - als Präsident hätte er ihn jederzeit als Premierminister entlassen können.)

In der Tat sah Medwedew manchmal wie ein anständiger Mensch aus. Andere Staatsbeamte versuchten, Doschd TV gleich zu Beginn zu verhindern, doch Medwedew entschied sich, es zu unterstützen. Er kam sogar in das Studio des jungen Fernsehsenders, um unabhängigen Journalisten Interviews zu geben. Alle unsere Kollegen griffen Doschd TV später an und beschuldigten uns des »Ausverkaufs an das Regime«. Allein die Tatsache, dass wir mit dem Präsidenten kommunizierten, war in ihren Augen eine kriminelle Verschwörung. Andererseits haben sich die Beamten für einige Jahre zurückgehalten und haben es uns ermöglicht, einen großen und einflussreichen Fernsehsender aufzubauen.

In der Tat verhielt sich Medwedew manchmal nicht wie ein Schützling Putins, sondern wie ein Partisan, der ins Lager des Feindes gewechselt war. Er hat Dutzende von äußerst liberalen Gesetzen in die Duma eingebracht. Er setzte etwa ein Gesetz durch, wonach Beamte ihre Einkünfte angeben müssen - eine Vorschrift, die noch heute in Kraft ist. Er versuchte, eine Humanisierung des Gefängnissystems zu erreichen. Er begann eine Reform der Polizei. Das System hat die meisten dieser Gesetze sabotiert, oder sie wurden nach seinem Rücktritt aufgehoben.

Medwedew versuchte, mit Barack Obama befreundet zu sein. Er bestand darauf, dass Russland sich den Sanktionen gegen den Iran anschloss oder die Operation in Libyen unterstützte. Es war ihm offensichtlich wichtig, dass Russland Teil der »zivilisierten Welt« ist.

Aber man muss fairerweise sagen, dass Medwedew nicht immer wie ein unabhängiger liberaler Politiker aussah. Oft sah er einfach aus wie eine Marionette Putins, die gelegentlich zum Leben erwacht - hin und wieder gibt es einen Kurzschluss, eine Störung im System, und dann zeigt die leblose Marionette plötzlich menschliche Gefühle. Aber die meiste Zeit gehorcht sie ihrem Besitzer.

Das Drama spielt im Jahr 2011. Unter dem Einfluss seiner eigenen Entourage, der Wirtschaft, die Putin nicht wieder an der Macht sehen wollte, und der wenigen Liberalen, die es wagten, ihn zu unterstützen, wurde Präsident Medwedew für den Bruchteil einer Sekunde mutig. Er stellte sich vor, dass er eine zweite Amtszeit anstreben, dass er das Land auf seine Weise reformieren und vielleicht Putin entlassen könnte. Diese Fehleinschätzung dauerte nicht lange - und Putin bemerkte sie.

Niemand weiß genau, welches Druckmittel Putin einsetzte - aber bekannt ist, wie ihr historisches Gespräch ablief - ich habe es erstmals in meinem Buch »Endspiel« beschrieben. Im August 2011, während eines Angelausflugs nach Astrachan, sagte Putin, schockiert vom Arabischen Frühling, der Ermordung Gaddafis und dem Prozess gegen Mubarak, zu Medwedew: »Die Situation ist kompliziert, Dima, du kannst das Land versauen.« Und Dima stimmte zu. Er hat nicht widersprochen - schließlich kann nur Putin »es nicht versauen«. Meinen Quellen zufolge hat Putin Medwedew in diesem Gespräch außerdem versprochen, dass die Umstellung nur vorübergehend sei und Medwedew ins Präsidentenamt zurückkehren werde.

Am 24. September 2011 kündigte Medwedew auf dem Kongress der Regierungspartei Einiges Russland an, dass er sich nicht um eine zweite Amtszeit bemühen werde. Putin hingegen würde eine dritte Amtszeit anstreben.

Daraufhin protestierten im ganzen Land Tausende gegen Putins Rückkehr. Aus irgendeinem Grund beschloss Medwedews Gefolge, dass diese Kundgebungen seiner Unterstützung dienten. Der konservative Flügel in Putins innerem Kreis berichtete, dass »Medwedews Liberale« Verräter seien, die mit Geldern des Außenministeriums einen »russischen Maidan« planen würden. Es war jedem klar, dass dies Unsinn war, aber Medwedews Ruf in den Augen des Chefs war ruiniert.

Dennoch wurde Medwedew nach seinem Rücktritt 2012 (gemäß der Vereinbarung mit Putin) zum Ministerpräsidenten Russlands ernannt. Er hütete sich davor, sich in irgendetwas einzumischen und hielt sich demonstrativ aus allen Angelegenheiten heraus, um sich nicht, Gott bewahre, den Zorn seines Herrn zuzuziehen.

Auch nach seinem Rücktritt als Präsident sprach Medwedew gelegentlich mit unabhängigen Journalisten. Das letzte Mal habe ich ihn 2014 interviewt. Eine der Fragen, die ich stellte, lautete: »Haben Sie Ihre Überzeugungen komplett geändert oder waren Sie nie ein Liberaler?« Seine Antwort: »Wer in der Jugend kein Liberaler war, hat kein Herz; wer in der Reife kein Konservativer geworden ist, hat keinen Verstand.«

Doch der Ministerpräsident Medwedew wirkte wie ein völlig anderer Mensch. Es gab Gerüchte, dass er ein starker Trinker war.

Als er noch Präsident war, war Medwedew stets Gegenstand des allgemeinen Spottes - sein Spitzname im Internet war »der Erbärmliche«. Im Internet kursierten Videos, in denen er absurd tanzt, oder Fotos, die ihn bei jeder größeren Veranstaltung, einschließlich der Abschlussfeier der Olympischen Spiele, schlafend zeigen. Doch die allgemeine Verachtung war nicht das Schlimmste.

Dann begannen die Strafverfahren. Unternehmer oder Beamte, die unter Dmitrij Medwedew aufgestiegen waren oder ihm nahezustehen schienen, verloren ihre Unternehmen und Positionen. Im Mai 2018 wurde der Geschäftsmann Sijawudin Magomedow, der als »Brieftasche« von Medwedew bezeichnet wurde, verhaftet (Magomedow und sein Bruder, ein ehemaliger Senator, befinden sich seitdem in Untersuchungshaft). Und im März 2019 wurde ein Medwedew nahestehender, ehemaliger Minister verhaftet, der Milliardär Michail Abyzow (auch er befindet sich noch in Untersuchungshaft). Sie gehörten zum inneren Kreis des ehemaligen Präsidenten. Ihre Strafverfahren bedeuteten, dass Medwedews Einfluss auf Putin nicht einmal gleich null, sondern im Minusbereich war.

Im Januar 2020 entließ Putin Medwedew abrupt als Premierminister und schuf für ihn den bis dahin nicht existierenden Posten des »stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrats«. Niemand wusste damals, dass einen Monat später Covid kommen würde und dass ein Rücktritt in einem solchen Moment das beste Geschenk war. Alle dachten, Medwedew sei nun für immer weg.

Doch der Krieg gegen die Ukraine hat ihn plötzlich aus seinem Schlummer geweckt. Aus »dem Erbärmlichen« wurde plötzlich »der Schreckliche«. Der Telegram-Kanal des intelligenten Medwedew wurde plötzlich zu einem Musterbeispiel für ungeheuerliche Grobheit.

Er schreibt immer wieder, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drogenabhängig sei (»sein Gehirn ist durch psychotrope Substanzen geschädigt«), Olaf Scholz verspottet er als »Leberwurst-Fan«. Die Europäer, schreibt er, hätten »schweren Durchfall« vor lauter Angst, dass sie in »kalten Behausungen« erfrieren müssten. Medwedew macht auch immer wieder Witze über das Alter von US-Präsident Joe Biden. Und nach dem Besuch von Demokratin Nancy Pelosi in Taiwan veröffentlichte Medwedew ein »Märchen«, das auf einer Erzählung von Puschkin basiert: über einen alten Mann und eine alte Frau, die den Verstand verloren haben und versuchen, den größten Goldfisch im Ozean zu fangen.

Im Juni veröffentlichte Medwedew diesen Beitrag: »Ich werde oft gefragt, warum meine Telegram-Posts so hart sind. Ich antworte: Ich hasse sie. Sie sind Bastarde und Abschaum. Sie wollen unseren Tod, den Tod Russlands. Und solange ich am Leben bin, werde ich alles tun, damit sie verschwinden«.

Vergangene Woche erschien auf Medwedews Vkontakte-Seite, eine Art russisches Facebook, ein wahnsinniges imperiales Manifest: »Nach der Befreiung Kiews und aller Gebiete Kleinrusslands (wie die Ukraine im zaristischen Russland oft genannt wurde, Anm. des Autors) von den Banden der Nationalisten, die ihren erfundenen Ukrainismus predigen, wird Russland wieder mächtig und unbesiegbar werden, wie es vor tausend Jahren während des altrussischen Staates war«. Weiter schreibt der Autor dieses Textes, dass »Georgien vor seiner Angliederung an Russland überhaupt nicht existierte«. Und auch, dass »Kasachstan ein künstlicher Staat ist, das ehemalige russische Territorium. In diesem Jahrhundert haben die kasachischen Behörden begonnen, Initiativen zur Umsiedlung verschiedener ethnischer Gruppen innerhalb der Republik zu ergreifen, die als Völkermord an den Russen bezeichnet werden können«.

Der Beitrag wurde dann gelöscht - und am nächsten Morgen erklärte Medwedews Pressestelle, dass sein Konto gehackt worden sei und der Text nichts mit dem ehemaligen Präsidenten zu tun habe. Im Internet tauchten jedoch Scherze auf, dass nicht Medwedews Konto, sondern Medwedew selbst gehackt worden war - und das wahrscheinlich kurz nach dem 24. Februar.

Nach Angaben aus dem Umfeld des ehemaligen Präsidenten hat er diese Texte mit Sicherheit nicht selbst verfasst. Ein riesiger neuer Stab von Beratern und Redenschreibern wurde angeheuert, um Medwedew seit Kriegsbeginn als militaristisch und imperialistisch zu zeigen. Der Vkontakte-Post war das Ergebnis der Arbeit desselben Teams.

Die Schaffung des neuen Images von Medwedew - nicht das eines Liberalen, sondern eines Obskurantisten - ist wie üblich mit seinen Hoffnungen auf die Wiedererlangung des Präsidentenamtes verbunden. Er dürfte sich noch genau an das Gespräch mit Putin in Astrachan während des Angelausflugs erinnern. Putin versprach ihm, dass der nächste Präsident wieder Medwedew sein würde. Es besteht also eine Chance. Quellen zufolge deutete Putin Anfang dieses Jahres gegenüber Medwedew erneut an, dass der Plan stehe - man müsse nur ein starker Politiker sein, der mit dem historischen Moment im Einklang stehe.

In den letzten Jahren hat Medwedew genau das getan, wovon er dachte, dass es ihn wieder ins Präsidentenamt bringen würde. Als Premierminister saß er still und unauffällig da und störte niemanden, um sich keine neuen Feinde zu machen oder Putin zu verärgern. Jetzt ist die Zeit der Untätigkeit vorbei, man muss aggressiv sein, mit den Säbeln rasseln, den Sieg an sich reißen und in die vorderste Reihe laufen. Es ist eine kalte Berechnung für die Nachkriegszeit. Medwedew ist in diesem Rennen nicht allein - aber er gibt sich eindeutig mehr Mühe als alle anderen.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das Sprachrohr des heutigen russischen Faschismus ausgerechnet der Mann ist, der einst als Hoffnungsträger der Demokratie galt. »Das ist es, was aus euren Hoffnungen geworden ist«, würde Putin wohl zur russischen Intelligenz sagen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Medwedews politische Zukunft vorbei ist. Er konnte sich das Vertrauen der Liberalen nicht verdienen, selbst als er Präsident war; er kann das Vertrauen der Imperialisten nicht gewinnen - sie sehen ihn als Schwächling und Liberalen aus längst vergangener Zeit. Vor allem aber kann er nicht Putins Nachfolger werden, denn ohne Putin wird er nicht mehr existieren - eine Marionette funktioniert nicht ohne ihren Herrn.

Zum Autor Mikhail Zygar, geboren 1981, ist ein russischer Journalist und Autor. Von 2010 bis 2015 war er Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd. 2015 veröffentlichte er den Bestseller »Endspiel - die Metamorphosen des Wladimir Putin«. Er veröffentlichte zahlreiche weitere Bücher und startete »1917. Freie Geschichte«, ein Onlineprojekt über die Russische Revolution. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine startete er eine Onlinepetition gegen den Krieg, kurz darauf reiste er aus. Zygar befindet sich derzeit in Berlin.

Spiegel 10.08.2022, 09.28 Uhr

helsinki, politik, russland

Previous post Next post
Up