Auf der Spur von Russlands Truppen - wie ein 22-jähriger Schweizer mit ausländischen Geheimdiensten

Apr 27, 2022 11:44

Auf der Spur von Russlands Truppen - wie ein 22-jähriger Schweizer mit ausländischen Geheimdiensten wetteifert

Viele europäische Regierungen erkannten Russlands Kriegspläne zu spät. Ein unauffälliger Schweizer war schneller: Von seinem Sofa aus entdeckte er alarmierende Truppenbewegungen - und fand damit internationale Anerkennung.

Über den kleinen Bildschirm flimmern drei Szenen des Krieges: ein zerstörter Flughafen, ukrainische Kämpfer auf einer Strasse, ein Massengrab. Benjamin Pittet kann die Bilder im Handumdrehen lokalisieren. Weniger als zehn Sekunden benötigt er, um den Flughafen als jenen der Stadt Mikolajiw zu identifizieren. Er nutzt dabei ein im Internet frei verfügbares Bilderkennungsprogramm.

Den Standort der ukrainischen Kämpfer hat er nach einer knappen Minute auf den Meter genau identifiziert. Pittet kombiniert dabei logisches Denken, ein scharfes Auge für Details und ein simples Hilfsmittel wie Google Maps. Er tippt auf Mariupol und analysiert dann die Anhaltspunkte auf dem Bild. Eine darauf erkennbare Brücke und ein grosses Industrieareal im Hintergrund lassen ihn auf der Karte rasch fündig werden.

Das dritte Bild zeigt das Massengrab im Kiewer Vorort Butscha, dies steht fest. Doch Pittet weist mithilfe von öffentlich zugänglichen Satellitenbildern nach, wann mit der Aushebung begonnen wurde: am 11. März. Er präsentiert damit mühelos ein klares Indiz dafür, dass die Massentötungen in Butscha während der russischen Besatzung stattfanden, nicht erst danach, wie Moskau behauptet.

Internet-Detektive wie Pittet, der seine Aufklärungsarbeit meist von einem Sofa aus an einem kleinen Laptop verrichtet, spielen im russisch-ukrainischen Krieg eine bedeutende Rolle - wie noch nie zuvor in einem Konflikt. Für ihre Recherchen hat sich der Begriff Open Source Intelligence (Osint) eingebürgert. Gemeint sind damit analytische Erkenntnisse, die nicht mit klassischen Geheimdienstmethoden, sondern aufgrund öffentlich zugänglicher Quellen gewonnen werden.

In der Osint-Welt tummeln sich mittlerweile Heerscharen von meist namenlosen Zuträgern. Doch Pittet sticht aus der Masse heraus: Der Schweizer hat sich das Ansehen einflussreicher Militärexperten erworben. Seinem Twitterkonto folgen mehr als 170 000 Personen aus aller Welt, eine für diesen Fachbereich ausserordentlich hohe Zahl. Im Vorfeld des Krieges gehörte er zu den wichtigsten Quellen für Informationen über den russischen Truppenaufmarsch. Besonders bemerkenswert dabei: Pittet ist erst 22 Jahre alt. Seine «Geheimdienstzentrale» verbirgt sich in einem verschlafenen Wohnquartier in Biel, hinter einer gewöhnlichen Haustür.

Auch für die NZZ war Pittet in den Monaten vor der russischen Invasion eine wichtige Quelle - vor allem wegen seines Talents, aufschlussreiche Satellitenbilder zu beschaffen. Nun stehen wir erstmals vor dem Mann, der bis vor kurzem noch strikt auf seine Anonymität bedacht war und seine Informationen nur unter dem Pseudonym «Coupsure» veröffentlichte. Mit seinem bubenhaften Lachen und der Baseballmütze wirkt der Romand und gelernte Bauzeichner noch jünger, als er ohnehin ist.

Doch im Gespräch tritt er ernst und fokussiert auf. An seinem Computer demonstriert er, wie er im vergangenen Dezember seinen bis dahin wichtigsten Fund machte - eine Entdeckung, die ihn unter Russland-Experten endgültig zur Autorität werden liess. Tagelang hatte Pittet alias Coupsure Tiktok-Videos von Truppenbewegungen in der russischen Provinz Brjansk studiert. Sie deuteten auf bedeutende Verschiebungen in Richtung der Grenze zur Ukraine hin. Doch wo waren die russischen Panzer nun? Pittet hatte eine Idee, auf die während dieser Krise noch niemand gekommen war.

Er rief das Internet-Kartenprojekt Open Street Map auf, eine Art «Wikipedia für Karten». Dort finden sich auch Angaben zur Verwendung einzelner Parzellen - Daten, die auf Google Maps und dergleichen nicht auftauchen. Nun brauchte er nur noch ein Computerprogramm, um diese Informationen systematisch auszuwerten. Auch da wurde er im Internet fündig. So konnte er sich sämtliche Militärareale in der Grenzregion anzeigen lassen.

Er stiess dadurch auf ein auffälliges, laut Google Earth seit Jahren verlassenes Munitionsdepot in einem Waldgebiet bei der Stadt Klinzy. Wenige Klicks führten ihn zu frei zugänglichen, neusten Satellitenbildern. Zwar handelte es sich nur um grobkörnige Radar-Aufnahmen, aber es bestand kein Zweifel: Die vermeintlich stillgelegte Anlage war am 22. Dezember zu plötzlichem Leben erwacht.

I'm not sure, but there seems to be some activity at this base near Klintsy. The base was dark for several months until today. If anyone wants to check for themselves, here are the coordinates: 52.738982785202, 32.02553039642121 pic.twitter.com/Z5Ul54d9rJ
- Benjamin Pittet (@COUPSURE) December 22, 2021

Pittet hatte ein russisches Militärlager entdeckt, nur 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Er machte seinen Fund sogleich via Twitter publik und war damit offenbar sogar den westlichen Geheimdiensten voraus. Jedenfalls tauchte diese Basis zwei Tage später erstmals auf den Lageplänen des ukrainischen Militärgeheimdiensts auf. Weitere drei Tage später folgte der endgültige Beweis: Hochauflösende Satellitenbilder zeigten mehrere hundert Panzer und andere Militärfahrzeuge in einer tief verschneiten Waldlichtung.

Dieser Coup sollte nicht sein letzter bleiben: Als ein Satellitenbild am 23. Februar aufdeckte, dass alle Militärfahrzeuge ihr Versteck im Wald verlassen hatten, war ihm klar, was dies zu bedeuten hatte. Die Invasion stand unmittelbar bevor.

Doch wie ist es möglich, dass ein «Junge von nebenan», ohne höhere Bildung und mit minimalen technischen Mitteln, den Krieg klarsichtiger kommen sah als viele ausländische Regierungen mit hochgerüsteten Geheimdiensten? Am 24. Februar herrschte auch in der Schweizer Regierung «hohe Ratlosigkeit», wie es Bundesrat Ueli Maurer damals ausdrückte.

Darauf angesprochen, kann sich der sonst sehr bescheidene Pittet einen Seitenhieb nicht verkneifen: «Sie sollten halt mich anstellen», sagt er und grinst breit. «Aber im Ernst: Wie konnten sie so überrascht sein? Sie hatten Zugang zu den gleichen Informationen wie ich.»

Benjamin Pittet ist weder IT-Spezialist noch Militärexperte, spricht weder Russisch noch Ukrainisch, hat weder ein grosses Budget noch geheime Informationskanäle. Aber er kennt Tools und Tricks, mit denen er findet, wonach er sucht. Mit seinem Lohn, den er als Bauzeichner verdient, kauft er sich hochauflösende, neuste Satellitenbilder. «Einige hundert Dollar» habe er dafür schon ausgegeben. Für seine Arbeit reichten ihm ein Laptop, sein Handy - und «schlechtes WLAN», sagt Pittet.

Weshalb opfert jemand einen grossen Teil seiner Freizeit für Osint-Recherchen? Pittets «Laufbahn» unter dem Pseudonym Coupsure begann 2019, als sich Indien und Pakistan in Kaschmir mehrere Scharmützel an der Grenze lieferten. «Die Medien berichteten damals nicht über das, was ich wissen wollte», erzählt er. «Ich begann deshalb, Informationen von lokalen Journalisten zusammenzutragen.» Übersetzungen davon veröffentlichte er auf Twitter.

Bald merkte er, dass im Krieg der Bilder Wahrheit und Lüge nicht immer einfach zu unterscheiden sind. Pittet brachte sich bei, wie man Ort und Datum einer Aufnahme verifiziert, wie man Webseiten und soziale Netzwerke nach weiteren Beweisen durchsucht. Er entdeckte seine Leidenschaft für Satellitenbilder, die in geringer Qualität frei zugänglich und in besserer Auflösung schon ab 10 Dollar pro Quadratkilometer erhältlich sind.

Dann, im März 2021, begann der erste russische Truppenaufmarsch in der Nähe der ukrainischen Grenze. Schon seit 2014 hatte Pittet, ein selbsterklärter News-Junkie, die Geschehnisse in der Ukraine verfolgt; nun schien Bewegung in den Konflikt zu kommen. «Ich habe bereits im letzten Jahr im Familien-Chat vor einem Krieg gewarnt», sagt Pittet. «Meine Eltern dachten, ich sei verrückt.»

Von nun an investierte der Romand mehr und mehr Zeit in seine Recherchen. Während seine Freundin abends Fernsehen schaute, lokalisierte er nebenan auf dem Sofa russische Truppenlager und Konvois. «Fast wie ein Spiel», sagt Pittet. Seine Entdeckungen stiessen auf wachsendes Interesse. Aus 4000 Followern auf Twitter wurden in wenigen Monaten mehr als 100 000. «Es ist schon ein bisschen surreal. Aber es zeigt, dass ich gute Arbeit mache.»

Pittet ist zu einer festen Grösse im Osint-Universum geworden. In dieser schwer fassbaren Welt tauschen sich Experten und Amateure in verschiedensten Foren, sozialen Netzwerken und Chat-Gruppen aus, ohne sich zu kennen. Jeder beackert seine ganz spezifische Nische: Einige verfolgen Flugzeuge oder Schiffe, andere identifizieren Panzer oder Raketentrümmer.

Denn letztlich funktioniert Osint nur dank der Schwarmintelligenz: Jeder hilft jedem. Weil mit offenen Quellen gearbeitet wird, kann jede Recherche nachvollzogen werden. Deshalb tendiere das Risiko, Falschinformationen auf den Leim zu gehen, gegen null, sagt Pittet. Er ist überzeugt davon, dass auch die Russen die Arbeit der Osint-Gemeinschaft verfolgen. Er nennt ein Beispiel: Am 24. Februar postete er ein Bild einer Webcam im Süden der Ukraine, das russische Militärfahrzeuge zeigte. Am nächsten Tag schraubten zwei Soldaten die Webcam ab. Eine zweite Kamera in der Nähe hingegen blieb installiert.

Vor kurzem hat Pittet das Pseudonym abgelegt, denn er will nicht für immer ein anonymer Informationskrieger bleiben. Er könne sich vorstellen, in Zukunft für den Nachrichtendienst oder für Medienhäuser zu arbeiten, sagt er. Bereits hat er eine Teilzeitstelle beim Think-Tank Center for Information Resilience angetreten. Pittet hilft dort mit, Ereignisse im Ukraine-Krieg zu verifizieren und auf einer öffentlichen Karte darzustellen. «Vielleicht kann das Material dereinst vor Gericht verwendet werden.»

Unzählige Stunden seiner Freizeit hat Pittet bereits in seine Recherchen gesteckt - das hat Spuren hinterlassen. «In jeder freien Minute bin ich auf Twitter. Es ist wie eine Sucht», sagt er. Im Februar habe er oft nur zwei Stunden am Stück geschlafen und dann wieder aufs Handy geschaut. Die Bilder voller Tod und Brutalität würden ihm zwar nicht stark zusetzen. «Bei meiner Arbeit kann ich das abstrahieren. Aber wenn ich dann von persönlichen Schicksalen höre, trifft es mich auch emotional. Ich habe gemerkt, dass ich meine psychische Gesundheit ernster nehmen muss.»

Benjamin Pittet und seine Mitstreiter in der Osint-Community haben bewiesen, dass Freizeit-Ermittler ein ernstzunehmender Faktor in der Informationsbeschaffung sind - und auch in Zukunft sein werden. Zwar werden sie die klassische Arbeit der Geheimdienste nicht obsolet machen. Doch Zehntausende von Augen sehen im Internet mehr als einige hundert Beamte. Der Zugang zu Informationen hat sich demokratisiert.

NZZ Jonas Roth, Andreas Rüesch 25.04.2022

citizen science, ukraina, russland

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