Mar 31, 2022 16:14
Keiner hat den machtbesessenen Putin besser durchschaut als Iwan Turgenjew; für den ironisch-aufgeklärten Selenski sucht man in der russischen Literatur vergebens ein Vorbild
Während sich die internationale Gemeinschaft am klugen und kühlen Kopf Wolodimir Selenski erfreut, zerbricht sie sich darüber den Kopf, wie sein Gegenspieler Putin tickt und was genau er im Schilde führt. Die Antwort findet sich an einem unerwarteten Ort.
Mariupol ist das Guernica des 21. Jahrhunderts, und das Nichtstun des Westens - damals England und Frankreich, heute Nato und EU - ist schon jetzt schwer zu ertragen. Ob die Tragödie dieser Stadt - man könnte auch Charkiw oder Kiew nennen - zum Menetekel wird für die Ausweitung des Krieges, muss sich zeigen. Doch es stimmt nicht, dass die EU-Kandidatur der Ukraine eine Kriegserklärung an Russland darstellt, im Gegenteil. Ist doch Frieden um jeden Preis die Stärke und Schwäche der EU, die aus der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich die richtige Lehre zog: Kooperation statt Konfrontation.
Unterdessen zerbricht die internationale Gemeinschaft sich darüber den Kopf, wie Putin tickt und was genau er im Schilde führt. Die Antwort findet sich an einem unerwarteten Ort, in der russischen Literatur, die der deutsche PEN durch Nichtachtung abstrafen will - ein Beispiel mehr für die Dummheit der Intellektuellen.
In Turgenjews «Aufzeichnungen eines Jägers» wird ein aus der Leibeigenschaft entlassener Bauer so charakterisiert: «Er ist erfahren, weiss, was er will, ist weder böse noch gut, eher berechnend, vorsichtig und gleichzeitig unternehmend wie ein Fuchs, wird sich aber niemals verplappern, sondern jeden anderen aushorchen. Ich habe nie durchdringendere und klügere Augen gesehen, nie unbefangen und offen, stets lauernd und forschend.»
Wladimir heisst wörtlich übersetzt «beherrsche die Welt», so wie Wladiwostok «beherrsche den Osten» bedeutet, und an anderer Stelle nimmt Turgenjew die Brandrede vorweg, in der Putin der angeblich nicht existierenden Ukraine den Krieg erklärt, der bekanntlich nur eine Spezialoperation ist: «Er weiss, dass er lügt, und glaubt selbst an seine Lügen: eine Art von Sinnesrausch und dichterischem Entzücken kommt über ihn - es sind keine einfachen Lügen, keine blossen Prahlereien mehr, die er von sich gibt. Er ist von sich selbst überzeugt.»
Von jeher waren die Bösen faszinierender als die Guten - Lady Macbeth und Mephisto sind Paradebeispiele dafür. In der westlichen Welt gibt es positive Helden wie Franz Beckenbauer oder Muhammad Ali nur noch im Sport. Damit sind wir mitten im Thema, denn die Klitschko-Brüder sind nicht nur erfolgreiche Box-Champions, sondern mutig und intelligent noch dazu. Putins Überfall hat sie an die politische Front katapultiert, wo sie mehrsprachig und beredt, mal mit Boxhandschuhen, mal mit Blumen, ihre Heimat verteidigen - ohne Angst vor dem Tod.
Noch spektakulärer, falls es diese Steigerung gibt, ist die Karriere von Wolodimir Selenski, der vom Stand-up-Comedian zum Staatschef der Ukraine wurde und den Widerstand, zu dem er aufruft, glaubhaft verkörpert in seiner Person, was man vom Gegenspieler im Kreml so nicht sagen kann. Auf Putins Mordliste steht Selenski ganz oben, obwohl oder weil er Drohungen nicht mit gleicher Münze beantwortet, sondern wie Charlie Chaplin in der Schlussszene des «Grossen Diktators» mit dem Appell an Menschlichkeit, Mässigung und Vernunft.
Wladimir Putin könnte Russen wie Ukrainern sinnlose Leiden ersparen, wenn er gegen seinen Vornamensvetter Klitschko zum Zweikampf anträte, Mann gegen Mann. Vielleicht gewinnt er dabei den schwarzen Gürtel zurück, den die Judo-Föderation ihm inzwischen aberkannt hat.
Hans Christoph Buch lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt ist im Transit-Verlag erschienen: «Nächtliche Geräusche im Dschungel - postkoloniale Notizen».
NZZ 28.3.2022
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