Autonomes Fahren Berliner Start-up fährt seit zwei Jahren Autos per Fernsteuerung durch Berlin Von

Sep 15, 2021 12:02

Autonomes Fahren

Berliner Start-up fährt seit zwei Jahren Autos per Fernsteuerung durch Berlin

Von: Peter Brors, Larissa Holzki

Die Telefahrer von Vay sehen die Straße nur durch Kameras. 2022 will die Firma mit einem neuartigen Taxidienst starten. Das Handelsblatt ist mitgefahren.

Berlin Die Behörden wissen Bescheid. Die Öffentlichkeit hat nichts bemerkt. Seit zwei Jahren steuert ein Berliner Start-up Autos aus der Ferne durch Berlin. Derzeit gehören zehn Wagen zu der Flotte. „Telefahren“ nennt es Mitgründer und CEO Thomas von der Ohe. Seine Fahrer sehen die Straße, auf der sie fahren, nur durch Kameras. Das reicht, um zu bremsen, zu beschleunigen und zu wissen, ob sie links abbiegen können.

Bis zum heutigen Dienstag waren die Telefahrer wie alle Beteiligten zur Geheimhaltung verpflichtet. Jetzt aber will Vay zu einem der angesagtesten Start-ups der Republik werden. Das ist wichtig, um die besten Talente anzuziehen - und zur Kundenwerbung. Denn schon im nächsten Jahr soll die Kommerzialisierung starten: „Wir wollen 2022 die erste Flotte ohne Fahrer im Auto auf europäischen Straßen fahren lassen“, sagt von der Ohe.

An den Start geht Vay dann mit einer Mischung aus Taxiservice und Leihwagenmodell: Kunden können sich per App ein Fahrzeug bestellen, das ferngesteuert bei ihnen vorfährt. Dann übernimmt der Kunde selbst das Steuer und fährt an sein Ziel. Vor der Tür kann er wieder an einen Telefahrer abgeben, ganz ohne Parkplatzsuche.

Das Modell könne bis zu 60 Prozent günstiger für den Kunden werden als eine Fahrt mit dem Fahrdienstleister Uber, schätzt Vay-Investor Robert Lacher vom Visionaries Club. Zum Vergleich: Das US-Unternehmen hat derzeit eine Marktkapitalisierung von 64 Milliarden Euro.

Und Vay will Marktanteile nicht nur im Taxi- und Leihwagengeschäft, sondern auch bei Lastwagenfahrten abgreifen - und Kunden eine Alternative zum eigenen Autokauf bieten: Die Umsätze der adressierbaren Märkte addieren sich nach Unternehmensschätzungen allein für Europa und die USA auf knapp drei Billionen Euro.

Auf lange Sicht soll Vay es auch mit den führenden Unternehmen im autonomen Fahren aufnehmen: mit Googles Waymo, der Roboterauto-Tochter Cruise des US-Autoherstellers General Motors und Zoox, das 2020 von Amazon übernommen wurde. Diese Unternehmen wollen Roboterautos bauen, die vor allem auf der Lasertechnologie Lidar basieren. Waymo bietet in einem eingegrenzten Gebiet im Bundesstaat Arizona damit schon Taxifahrten an.

Das Problem: „Autonome Autos können heute nicht mal zuverlässig zwischen Katze und Plastiktüte unterscheiden“, sagt Niall Wass. Er hat zwei Jahre lang das Europa- und Asiengeschäft von Uber geleitet. Jetzt ist er als Partner der Londoner Wagniskapitalgesellschaft Atomico in Vay investiert und berät die Gründer. Nach seinen Prognosen kommt das vollautonome Fahren frühestens in fünf bis zehn Jahren.

Die Berliner fahren eine Strategie, mit der sie sich diesem Ziel nur allmählich, aber früher annähern: „Wir ermöglichen den baldigen Markteintritt von fahrerloser Technologie“, sagt der Gründer. Gut markierte und übersichtliche Streckenabschnitte könnten autonom gefahren werden. In schwierigen Situationen soll der Telefahrer übernehmen. Investor Lacher unterstützt das: Wir glauben an eine schrittweise Entwicklung zum vollautonomen Fahren, bei dem Telefahren die Schlüsseltechnologie als bereits funktionierender Einstieg darstellt.“

„Willkommen in der Zukunft, Ihr Vay-Auto ist eingetroffen“, steht in einer Handynachricht an die beiden Handelsblatt-Autoren, als sie Ende August am Berliner Flughafen ankommen. Ein Bild dazu zeigt ein Auto des koreanischen Herstellers Kia und das Kennzeichen B-SV 1347 E. Kurz darauf finden sie per Navigations-App den Wagen - und steigen in eines der ersten ferngesteuerten Autos auf Deutschlands öffentlichen Straßen.

Was dann geschieht, ist fast spektakulär unspektakulär. Die Fahrt mit Vay ist wie Taxifahren, nur dass der Fahrer kilometerweit entfernt in der Tempelhofer Zentrale von Vay sitzt. Auf dem Smartphone können sich die Reporter den jungen Mann anschauen: Dan Cadar heißt er, trägt Oberlippenbart und Krawatte. Telegefahrene Kilometer: 2643. Zertifiziert als Sicherheitsfahrer, Telefahrer und Teilnehmer eines ADAC-Sicherheitstrainings. Über die Freisprechanlage können sie auch mit ihm reden.

Cadar, das werden sie später sehen, sitzt in einem nachgebauten Cockpit mit Fahrersitz, Lenkrad und Gaspedal und vor drei Bildschirmen, die die unmittelbare Umgebung des Fahrzeugs im 360-Grad-Winkel zeigen. Er hört, was im Auto gesprochen wird und welche Geräusche drum herum wahrzunehmen sind. Je schneller er unterwegs ist, desto fetter werden die Pfeile auf dem Monitor vor ihm. Die Bilder werden über das 4G-Netz in die Fahrzentrale gestreamt und mit Computer-Vision-Technologie analysiert.

Allein auf Cadars Fähigkeiten und die Technologie müssen sich die Reporter allerdings nicht verlassen. Als Teil der Validierungsphase - und derzeit auch noch auf Vorgabe der Behörden - steigt ein Sicherheitsfahrer mit ein. Ihm wird Cadar die ganze Fahrt über erzählen, was er sieht, worauf er reagiert - und ab und zu auch, was ihm sonst noch auffällt. „Die Ampel ist grün, wir können fahren“, „Eine Baustelle, ich wechsle auf die linke Spur.“ Und: „Hey, ihr habt schöne Fahrräder, Polizisten!“ Das Cockpit sieht aus wie das eines normalen Automatikwagens. Allerdings bewegt sich das Lenkrad in Kurven und beim Abbiegen von allein. Praktisch jedes Fahrzeug ist für die Zwecke von Vay umrüstbar.

Auf der Rückbank sitzt auch Thomas von der Ohe. Im tiefsten Wohngebiet ist er selbst ganz begeistert: Es geht vorbei an Fußgängern, rund um einen Abschleppwagen und wegen einer Baustelle falsch herum durch den Kreisel. Ein autonomes Fahrzeug könne nicht einfach auf die Gegenfahrbahn wechseln, kommentiert von der Ohe - eher würde es stoppen.

Er kennt diese Probleme gut. Der Informatiker war technischer Programm-Manager bei Zoox im Silicon Valley. Seine Mitgründer bringen ebenso hilfreiche Erfahrungen mit. Der für die Hardware verantwortliche Fahrzeugingenieur Fabrizio Scelsi hat die Entwicklungsabteilung von P3 Silicon Valley geleitet, das an autonomen Shuttles arbeitet. Und er hat Projekte rund ums autonome Fahren bei Audi und BMW durchgeführt. Softwarechef Bogdan Djukic war Teamleiter bei Microsoft und Senior-Softwareingenieur bei Skype.

Die drei Gründer haben für Silicon-Valley-Start-ups und US-Konzerne gearbeitet - und am Ende bewusst in Berlin gegründet.

Während der Fahrt vom Flughafen zur Vay-Zentrale übernimmt der Sicherheitsfahrer nur auf dem kurzen Autobahnabschnitt: Vay darf und will derzeit nicht ferngesteuert über die Autobahn düsen. Von der Ohe erklärt die zwei Grundprinzipien seiner Firma: „Regel Nummer eins: Safety first. Regel Nummer zwei: Safety first.“ Sicherheit geht also vor, und zwar immer.

Wenn der Strom in Berlin und der Sicherheitsgenerator des Start-ups zeitgleich ausfallen würden, wäre ein automatischer Stopp bei Autobahngeschwindigkeit nicht mehr gewährleistet. Das heißt auch: Für Autobahnen könnte das autonome Fahren auf absehbare Zeit die bessere Lösung sein als Telefahren - oder eben eine Kombination.

Die Besonderheit des Geschäftsmodells von Vay liegt in der Trennung von Auto und Fahrer. Wie auf einem Spielzeugteppich kann er oder sie zuerst hier ein Auto bewegen, dann dort einen Wagen vorrücken.

Mit dem Ansatz sind die Berliner nicht allein. In München arbeitet das Start-up Fernride an einer ähnlichen Technologie für Lkw-Fahrer. Im ersten Schritt werden damit Lastwagen auf Betriebsgrundstücken gesteuert. Die Marktchancen stehen auch deshalb gut, weil es europaweit an Lastkraftfahrern mangelt.

Mitgründer Hendrik Kramer geht von einer enormen Effizienzsteigerung durch Telefahren aus: Ein Mitarbeiter von Fernride soll für 25 Lastwagen zuständig sein. Während ein Fahrzeug entladen wird, kann er die nächsten bewegen und spart sich Laufwege über weitläufige Gelände.

Von der Ohe, Scelsi und Djukic haben für Silicon-Valley-Start-ups und US-Konzerne gearbeitet - und am Ende bewusst in Berlin gegründet. Einerseits glauben sie daran, hier noch stärkere Talente zu finden. Andererseits betont CEO von der Ohe im Gespräch mit dem Handelsblatt immer wieder, dass Europa bei der Entwicklung des autonomen Fahrens den Anschluss schon verloren zu haben schien.

Ihm sei jedoch wichtig, dass europäische Werte dabei eine Rolle spielen: „Mich treibt die Sorge um, dass wir in den großen Industriezweigen immer weniger zu sagen haben, wie etwas auf der Welt funktionieren soll.“ Auch Jeannette zu Fürstenberg, die mit La Famiglia einer der ersten Vay-Investoren war, glaubt an eine neue Chance: „Vay kann das deutsche Unternehmen werden, das Europa zurück an die Spitze im globalen Rennen zum autonomen Fahren bringt.“

Ob das gelingt, wird auch von weiteren Investitionen und einem schnellen Markteintritt abhängig sein. Bisher hat Vay nur 28 Millionen Euro von Risikokapitalgebern aufgenommen. Gemessen an Firmen wie Cruise ist das fast lächerlich: Die General-Motors-Tochter hat allein 2021 schon mehr als 2,3 Milliarden Euro eingesammelt.

Aber solche Summen wird Vay laut Investor Wass auch nicht brauchen. Er geht davon aus, dass die Firma ihre Entwicklungsbudgets nach ein bis zwei weiteren Finanzierungsrunden selbst finanziert. Bevor Vay nächstes Jahr Umsätze generieren kann, braucht das Unternehmen allerdings noch weiteres Kapital für Mitarbeiter und Autos. Wass schätzt, dass für die erste Stadt 800 Fahrer benötigt werden.

Wo es losgehen soll, hat die Firma bisher nicht bekanntgegeben. Wo es hingehen soll, kann der Besucher von Vay selbst sehen: Wer die traditionsreiche frühere Zentrale des Ullstein-Verlags betritt, läuft im zur Werkstatt umgebauten Erdgeschoss geradewegs auf einen DeLorean aus den frühen 80er-Jahren zu. Der ikonische Sportwagen stellt in der Trilogie „Zurück in die Zukunft“ eine Zeitmaschine dar.

Handelsblatt 7.9.2021

auto, linguistik, soziologie, eggers, verkehr

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