Warum konnte in den siebziger Jahren eine junge Frau im T-Shirt durch Kabul spazieren - und heute ni

Aug 27, 2021 15:42

Warum konnte in den siebziger Jahren eine junge Frau im T-Shirt durch Kabul spazieren - und heute nicht mehr?

Eine Erinnerung an eine Reise nach Afghanistan in einer Zeit, da das Land von den Grossmächten gerade einmal für eine Atempause in Ruhe gelassen wurde.

Florian Coulmas

Ich hatte damals einen alten VW-Bus, ohne Fenster hinten, die man hätte aufbrechen oder einwerfen können. Es liess sich gut darin schlafen. Als ich weit genug damit gefahren war, ungefähr 6000 Kilometer, verkaufte ich das Gefährt an Prinz Abdul Ali Seraj. Die Übergabe fand im «25 Hour Club» statt. An einem anderen Tisch sass ein Herr, der zum Dessert ein Päckchen Banknoten bekam, seinen Anteil am Einfuhrzoll, wie ich belehrt wurde. Andere Länder, andere Sitten. Ali hatte den «25 Hour Club» Anfang der 1970er Jahre, als sich die hier geschilderte Geschichte abspielte, gegründet. Es war der erste Nachtklub Kabuls.

Ali, Nachkomme von zehn Generationen afghanischer Könige, war unternehmungslustig und recht antiislamistisch eingestellt. Im Keller des Klubs, erzählte er, habe er ein Maschinengewehr: «Wenn die Mullahs kommen!» Denn die hätten etwas gegen solche Einrichtungen wie auch gegen andere Stätten gottlosen Lebens. «Einigkeit ist selten hierzulande», erklärte mir Ali, der begriff, dass meine Kenntnisse verbesserungswürdig waren. «Afghanistan besteht aus vielen Stämmen, die sich nicht alle mögen. Nur wenn Eindringlinge von aussen kommen, halten wir zusammen.»

Einstweilen brauchte er das Maschinengewehr nicht. Kabul war damals eine friedliche und freundliche Stadt mit einem schillernd bunten Basar, zahlreichen Gotteshäusern und Weinkellereien in der Umgebung, die man besuchen konnte. Viele Fremde gab es nicht, aber die wenigen waren willkommen und wurden freundlich aufgenommen.

Mit einer Gruppe von Reisenden, die sich in Kabul kennengelernt hatten, spazierten wir unbesorgt (naiv?) durch die Stadt, an meiner Seite eine schöne junge Frau. «This T-Shirt», sagte George aus Südafrika, der dafür ein Auge hatte, «does not exactly hide your form.» Einheimische Frauen trugen Blusen und Pluderhosen, Kleider, manche Schleier oder Burkas verschiedener Farben. Was das T-Shirt betrifft, hatte George recht - was hier nicht Georges wegen erwähnt sei, sondern wegen Kabul in den siebziger Jahren. So lange ist das noch nicht her, aber eine vergleichbare Szene im Kabul von heute ist unvorstellbar.

Die siebziger Jahre waren für die afghanische Hauptstadt eine Atempause. Damals interessierten sich ausser ein paar Hippies nicht viele für sie. Das «Great Game», in dem sich das Britische Kolonialreich und das Russische Zarenreich gegenüberstanden, war lange vorbei. Und Afghanistan war am Ende der Welt.

Dort blieb es bis zu dem Putsch, durch den König Zahir Shah - ein entfernter Cousin von Ali Seraj - 1973 abgesetzt wurde. Da dies mit sowjetischer Unterstützung geschah, liess die Neuinszenierung des Grossen Spiels nicht mehr lange auf sich warten. Die eher nationalistische als sozialistische Regierung von Mohammed Daoud blieb von Moskau abhängig, was Washington dazu bewog, oppositionellen Kräften im Land beizustehen. Nachdem die Sowjets dann 1979 in Afghanistan einmarschiert waren und eine Marionettenregierung unter Babrak Karmal installiert hatten, unterstützten die Amerikaner den Widerstand im grossen Stil.

Rund zehn Jahre lang versuchten die Sowjets vergeblich, Afghanistan zu einem Vasallen zu machen, um den Preis Tausender ziviler Toter, während die USA die Rebellen mit Waffen versorgten. Wäre es möglich gewesen, aus dem katastrophalen Fehlschlag Lehren zu ziehen?

Heute, wo Kabul wieder aus den gleichen Gründen Schlagzeilen macht, muss diese Frage erneut gestellt werden. Während er sich um die Evakuierung seiner Landsleute kümmerte, beteuerte Italiens Aussenminister Luigi di Maio, seine Regierung werde die Afghanen nicht im Stich lassen. «Die Afghanen»? Offenbar gehören die Taliban nicht dazu. Aber, darf man auch fragen, hätten die Taliban das Land völlig ohne Rückhalt in der Bevölkerung binnen weniger Wochen einnehmen können?

Die Afghanen «nicht im Stich lassen», diese Redeweise suggeriert ein bestimmtes Verständnis davon, weshalb italienische Soldaten in dem zentralasiatischen Land waren, was analog für die Truppen anderer Nato-Länder gilt. Müssten sie beteuern, die Afghanen nicht im Stich zu lassen, wenn sie nicht uneingeladen in das Land eingedrungen wären, weil sie besser wissen, wie man regiert und Menschenrechte respektiert?

Kurz vor seinem Tod 2018 twitterte Prinz Ali, Antiislamist und Antikommunist, der seit 1978 im amerikanischen Exil lebte, was er mir einst erklärt hatte: «Afghanistan bestand aus einer Reihe von Stämmen und ethnischen Gruppen, die kein Invasor sprengen konnte.» Dann fügte er hinzu: «Weshalb verteidigt Ihr uns gegen unsere Feinde? Hat sich einmal jemand die Mühe gemacht, Afghanen zu fragen, ob sie sich selbst verteidigen wollen?»

Warum konnte eine junge Frau vor fünfzig Jahren im T-Shirt durch die Strassen Kabuls schlendern und kann es heute nicht mehr? Wer ist dafür verantwortlich? Nur die barbarischen Taliban? «Wir werden die Fehler bewerten und daraus Lehren für die nächsten Einsätze zwischen Afrika und dem Mittleren Osten ziehen müssen», sagte in einem Interview mit dem «Corriere della Sera» der pensionierte General Marco Bertolini, der selbst in Afghanistan war. Das Grosse Spiel geht also weiter.

NZZ 23.8.2021

sprache, schweiz, afghanistan, japan

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