Aug 11, 2021 10:45
Abschied von der Realität: das wahre Problem der Amerikaner
• Die Abwahl Trumps, das Impfen: Die Amerikaner haben in letzter Zeit ein paar tolle Sachen hinbekommen.
• Doch fast 50 Prozent verharren in düsterer Stimmung: Die Wahl sei manipuliert worden, sagen viele, und der Impfstoff berge Gefahr.
• Diese massenhafte Abkehr vom Realen wird nach jüngsten Studien begünstigt durch eine tiefer liegende Fehlentwicklung: leise wachsende Einsamkeit.
Matthias Koch
Es stimmt was nicht in Amerika.
Spüren kann man das schon seit einigen Jahren. Und wer noch einen Beweis braucht, kann jetzt alles nachlesen in Studien der für ihre präzisen Meinungsumfragen berühmten Monmouth University in New Jersey.
Die Monmouth-Demoskopen haben es in jüngster Zeit gewagt, Beziehungen herzustellen zwischen zwei eigentlich nicht miteinander verbundenen Themen: Impfkampagne und Wahlergebnis. Hier sind einige der Befunde:
• Unter jenen Amerikanern, die Joe Bidens Wahlsieg als Ergebnis einer Manipulation sehen, sind nur 36 Prozent geimpft.
• Unter den Anhängern der Demokraten ist der Anteil von Geimpften (83 Prozent) ebenso auffallend hoch wie der von Bürgern, die sagen, bei der Wahl sei alles nach Recht und Gesetz verlaufen (90 Prozent).
• Unter den Republikanern dagegen ist nur eine Minderheit geimpft (40 Prozent), während eine Mehrheit (57 Prozent) an eine Manipulation der Wahl glaubt.
Wer unter all dies einen Strich zieht und sich auf etwas Mathematik einlässt, kommt zu einem verstörenden Fazit. Für gerade mal 51 Prozent der Amerikaner gilt, dass sie a) geimpft sind und b) gleichzeitig die Wahl für nicht manipuliert halten.
51 Prozent Normalos: Das ist knapp.
Zu besichtigen ist hier eine Verwirrung der Geister, die viel weniger dramatisch wäre, wenn es nicht um die Führungsmacht der freien Welt ginge.
„Wir sind eine Fifty-fifty-Nation”, resümiert der amerikanische Umfrageguru Harry Enten, ein Mann des Jahrgangs 1988, der das inzwischen legendäre Onlineportal Fivethirtyeight nach vorn brachte, bevor er Senior Analyst beim Sender CNN wurde. Extrem knapp seien leider nicht mehr nur die Wahlergebnisse von Republikanern und Demokraten bei Präsidentschaftswahlen. Fifty-fifty werde inzwischen auch die Frage beurteilt, ob man auf das Wahlergebnis vertrauen darf.
Man könnte das alles ein bisschen schärfer formulieren: Das Fundament der amerikanischen Demokratie ist ins Rutschen geraten.
Was ist wahr, was unwahr? Die „Krise des Realen” beschäftigt Philosophen schon eine ganze Weile. Mächtige weltpolitische Akteure haben dazu kräftig beigetragen, Wladimir Putin zum Beispiel. 2014, bei der russischen Annexion der Krim blickte die Welt auf die legendären „grünen Männchen”, Bewaffnete ohne Uniformen oder Abzeichen. Putin sagte damals, es gebe keine russischen Armeeangehörigen auf der Krim. Später räumte er dies dann doch ein. Und am Ende gefiel es ihm sogar, die russischen Soldaten für ihren Einsatz dort mit Orden auszuzeichnen. „Radikal postmodern” sei dieser Umgang mit der Wahrheit, raunte die Wochenzeitung „Die Zeit”.
Verdrehung des Realen als Machtbeweis: In diesem Sinne war auch Donald Trump ein Radikaler. Gleich nach seinem Amtsantritt im Jahr 2016 wies er Mitarbeiter des Weißen Hauses an, auf Fotos von seiner Vereidigung die Menschenmengen größer erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren. Streng genommen hätte in Washington schon in diesem Moment ein Amtsenthebungsverfahren in Gang gesetzt werden müssen. Es mag übertrieben klingen, ist aber wahr: Auf keinen Fall darf der Präsident der USA seine Macht und seine Apparate zu wahrheitswidrigen Manipulationen nutzen. Der Öffentlichkeit gegenüber hat der Präsident eine dienende Funktion, dazu gehören Transparenz und Redlichkeit, Wer das verkennt, gehört nicht ins Weiße Haus, keinen einzigen Tag lang.
Trump aber brachte es fertig, dort die vollen vier Jahre zu verbringen. In dieser Zeit setzte er laut „Washington Post” sage und schreibe 30.573 Lügen und irreführende Behauptungen in die Welt. Unvergessen ist der Begriff der „alternativen Fakten”, den die Trump-Beraterin Kellyanne Conway in die Debatte einführte. Seither zieht ein eigentümlicher Nebel um die Welt.
Den USA, und nicht nur ihnen, hat diese Unkultur bleibenden Schaden zugefügt. Jeden Tag, vier Jahre lang, wurden die Zeitungen „New York Times” und „Washington Post”, aber auch Sender wie NBC, CNN und CBS vom Präsidenten der USA als „Fake News Media” niedergemacht.
Trump-Gegner, klar, tippten sich da nur an den Kopf. Bei Trumps Wählern aber hat dieser Dauerbeschuss etwas verändert. Sie vertrauen jetzt den traditionellen Medien nicht mehr. Das hat nicht etwa nur feuilletonistische Folgewirkungen, sondern auch verfassungspolitische: Es geht um checks and balances.
Was wäre geschehen, wenn die „Washington Post” unter Trump einen Skandal im Watergate-Format enthüllt hätte? Das Weiße Haus hätte immer mit Fake-News-Vorwürfen gekontert - die Zeitung war ja immer schon gefleddert, bevor sie erschien. Am Ende hätten Trumps Leute dann alles sehr bequem in eine Zone ewiger Unentschiedenheit schieben können: Wer weiß schon, wie es wirklich war? Achselzucken, nächstes Thema.
Liegt nicht die Wahrheit sowieso immer in der Mitte? Genau diesen Spruch kann etwa die deutsche Syrien-Expertin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung schon nicht mehr hören, wie sie vor Kurzem in einem Interview sagte. Wie soll man wohl die Mitte bilden zwischen Dokumenten, die haarklein den wiederholten gezielten Beschuss von zivilen Kliniken durch russische Flugzeuge belegen, und irgendetwas anderem?
Auf den Gedanken, dass irgendetwas eindeutig skandalös sein könnte, mag sich kaum noch jemand einlassen: Die Relativierung alles Realen ist zur Routine geworden.
Nie gab es so viele Informationen über so viele Dinge von so vielen Orten gleichzeitig. Das überfordert viele. Immer lauter wird das Stöhnen über eine angeblich überwältigende Komplexität. Zugleich aber fühlen sich so viele Menschen wie noch nie angenehm an die Hand genommen von anderen, die ihnen Deutungen bieten, Erklärungen, einen Sinn. Und vor allem: ein Gefühl des Zusammenseins. Genau darin liegt die Gefahr.
Abkehr von den kalten, mühsamen Realitäten, Hinwendung zu den warm und behaglich blubbernden Blasen des Internets: Diesen ebenso bequemen wie intellektuell zerstörerischen neuen Way of Life praktizierte Amerika zuerst. Und nun stöhnen Land und Leute darüber, was diese Art von Wende aus ihnen gemacht hat.
Immerhin: Immer klüger, immer eindrucksvoller werden mittlerweile manche Bücher und Essays, die im Nachhinein das Abgleiten der USA in Richtung Trump ausleuchten. Fahren zu wenig Busse in abgehängte Dörfer? Auf der Suche nach den tieferen Ursachen des Rechtspopulismus stoßen immer mehr Beobachter auf Probleme, die überraschend wenig zu tun haben mit materiellen Dingen.
Beklemmend oft dagegen taucht neuerdings das L-Wort auf: loneliness. Einsamkeit, sagen Soziologen und Demoskopen, habe so viele Amerikaner wie noch nie anfällig gemacht für Personenkult, Verschwörungstheorien und rechtspopulistischen Aktivismus.
Landauf, landab wurde inzwischen haarklein bewiesen: Je atomisierter und isolierter die Wählerschaft war, umso besser schnitt Trump ab. Eine Art Immunschutz hatten dagegen all jene, die in ihrer Familie, im Beruf, in ihrem sozialem Engagement vor Ort oder auch in ihrem Hobby Erfüllung fanden.
Wie die Einsamen sich in Richtung Trump bewegten, zeigt der Journalist Michael C. Bender vom „Wall Street Journal”, in dem Buch „Frankly, we did win this election”. Mehr berührend als verächtlich sind seine Beschreibungen von Trump-Superfans, die er die „Front Row Joes” nennt. „Viele waren erst seit Kurzem in Rente”, schreibt Bender. Viele seien kinderlos oder „ihren Familien entfremdet” gewesen. Trump habe ihr Leben reicher gemacht, eine Richtung gegeben. „Plötzlich sind sie auf Reisen gegangen, haben Mitstreiter in ihren Häusern schlafen lassen und einander Mitfahrgelegenheiten im Auto geboten.”
Eine Bewegung, in der jeder jeden annimmt, hat natürlich ihre ganz eigene Anziehungskraft. Noch schöner wird es, wenn die Mitglieder der Bewegung einander schulterklopfend ihre Überlegenheit gegenüber anderen bescheinigen, die eine andere Herkunft haben, anders aussehen oder auch nur anders denken.
Die „New York Times”-Kolumnistin Michelle Goldberg zitierte dieser Tage die deutsch-amerikanische Politologin und Philosophin Hannah Arendt (1906- 1975), die früher und klarer als andere darlegte, dass sich vor allem einsame Menschen von totalitären Ideologien angezogen fühlen. Schon 1951 war Arendt in ihrem in New York erschienenen weltberühmt gewordenen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” zu einem Schluss gekommen, der bis heute simple Lösungen im Kampf „gegen rechts” ausschließt: „Das Hauptmerkmal des Massenmenschen ist nicht Brutalität und Rückständigkeit, sondern seine Isolation und das Fehlen normaler sozialer Beziehungen.”
Angesichts dieses epochalen Befunds lässt Kolumnistin Michelle Goldberg einen Seufzer los: „Eine sozial gesunde Gesellschaft hätte Trump wahrscheinlich nie gewählt.”
RND 07.08.2021
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