Anne Applebaum Die Sehnsucht nach der starken Hand Roland ARENS Die amerikanische Historikerin un

Jun 28, 2021 12:55

Anne Applebaum
Die Sehnsucht nach der starken Hand

Roland ARENS

Die amerikanische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum erklärt, warum liberale Gesellschaft anfällig sind für ein Abdriften in den Autoritarismus.

Das Buch beginnt mit einer Silvesterparty 1999, irgendwo in der polnischen Provinz. Die Gastgeberin hat Freunde eingeladen, die sie seit vielen Jahren kennt und denen sie vertraut. Journalisten, Diplomaten, Amerikaner, Russen, Polen. Anne Applebaum ist verheiratet mit Radek Sikorski, damals stellvertretender Außenminister einer rechtsliberalen Koalitionsregierung. Man könnte die Partygäste weitgehend dem konservativen Lager zurechnen, die nicht zuletzt im Antikommunismus einen gemeinsamen Nenner haben.

Zwei Jahrzehnte später, schreibt die Gastgeberin der Silvesterparty Anne Applebaum in ihrem neuen Buch „Die Verlockung des Autoritären“, war die Aufbruchstimmung des neuen Jahrzehnts verflogen. Eine tiefe, politische Kluft trennte die ehemaligen Freunde. Die Hälfte der Partyteilnehmer, die damals gemeinsame Visionen und westliche Werte teilten, würde heute kein Wort mehr mit der anderen wechseln. „Ich würde die Straßenseite wechseln, um einigen der Gäste aus dem Weg zu gehen.“

Mit einer ihrer besten Freundinnen und Taufpatin eines ihrer Kinder telefonierte Applebaum zuletzt im April 2010, kurz nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk, bei dem der polnische Staatspräsident ums Leben kam. Heute ist die Freundin mit Jaroslaw Kaczynski befreundet, dem Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten und Vorsitzenden der Regierungspartei PiS. Applebaums Freundin hat den Kontakt abgebrochen: „Worüber sollen wir und noch unterhalten?“ Die weltanschaulichen Risse der Jahrtausendwende konnten ganze Familien brechen können, wie das Beispiel der Kurski-Brüder in Polen zeigt, die beide aus intellektuellem Elternhaus stammen. Der eine war Pressesprecher von Lech Walesa und Leiter der angesehenen, liberalen Zeitschrift „Gazeta Wyborzca“, der andere wollte Macht und Ruhm und brachte im Auftrag von Kaczynski das staatliche Fernsehen auf Parteilinie.

Wie konnte es geschehen, fragt Applebaum in ihrem Buch, dass diese Menschen, die sich einmal zu Marktwirtschaft, Parlamentarismus, Rechtsstaat und transatlantischer Verbindung bekannten, sich derart entfremden konnten? Wie konnte im postkommunistischen, europafreundlichen Polen eine illiberale Regierung wie die PiS an die Macht kommen? Applebaums zentrale These: „Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später tun werden.“

Mit ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ begibt sich Applebaum auf Spurensuche in der Geschichte und zieht Parallelen zur aktuellen Politik, allen voran der Brexit, der Aufstieg illiberaler Parteien in Osteuropa und die Wahl von Donald Trump. Ihr Buch erschien im Original auf Englisch Ende 2020, also kurz nachdem der US-Präsident die Präsidentschaftswahl gegen Joe Biden verloren hatte. Applebaums Ursachenforschung hilft nicht nur dabei zu verstehen, wie es zu der Ära Trump kommen konnte und warum der Aufstieg populistischer Politiker eine existenzielle Gefahr für die Demokratie bedeutet. Es ist ein Plädoyer dafür, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, dass sie verteidigt und gepflegt werden muss.

Applebaum weist auf die Arbeiten von Hannah Arendt hin, die als erste beschrieben hatte, warum Menschen zum Totalitarismus neigen, der vor allem „die Gekränkten und Erfolglosen anzieht.“ Laut der Verhaltensökonomin Karen Stenner habe ein Drittel jeder beliebigen Bevölkerung eine autoritäre Veranlagung. Autoritarismus spricht demnach Menschen an, die keine Komplexität aushalten. Diese Veranlagung sei weder „links“, noch „rechts“, sondern „grundsätzlich anti-pluralistisch“, so Stenner.

Das Flugzeugunglück von Smolensk markiert dabei einen Wendepunkt in der polnischen Politik. Die PiS-Regierung nutzte die Katastrophe als Werkzeug, um ihrer populistischen Politik mit einem notwendigen Narrativ zu unterfüttern. Die Verschwörungstheorie hier ist, dass der Flugzeugabsturz einem Komplott geschuldet sei. In Wahrheit hatte das Umfeld des Präsidenten den Piloten eine riskante Landung aufgedrängt, was mutmaßlich zu der Katastrophe führte.

Doch die bloße Existenz von Menschen mit einer autoritären Einstellung sei allein noch keine Erklärung für den Erfolg von Demagogen, analysiert Applebaum. Jedes autokratische Regime braucht neben einer „restaurative Nostalgie“ (die beim Brexit eine wichtige Rolle spielte) vor allem auch Verschwörungstheorien und mittelgroße Lügen, um das eigene Handeln zu legitimieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen, das die Anhänger bindet. Man denke etwa an Viktor Orbans Propagandalüge von der „drohenden Massenimmigration nach Europa“. Oder an die vielen Unwahrheiten, die der Brexit-Kampagne und dem einstigen Brexit-Gegner Boris Johnson zum Erfolg verhalfen.

Autokraten brauchen darüber hinaus Handlanger, die helfen, Unruhe in der Bevölkerung zu verbreiten sowie intellektuelle Sprachrohre, die so genannten „Clercs“, die der antidemokratischen Politik die öffentliche Aufmerksamkeit liefern und die Führung schützen. Der Gedanke etwa an US-Medienstars wie Tucker Carlson oder Laura Ingraham, die beim rechten TV-Sender Fox News die Trump-Basis bei der Stange halten, liegt da natürlich nahe.

Als sie ihr Buch schrieb, konnte Anne Applebaum nicht ahnen, wie sich dieses autoritaristische Wesensmerkmal der „großen Lüge“ weiter manifestieren würde, insbesondere in den offenbar heillos radikalisierten und polarisierten USA. Als die Republikanische Partei im Mai die Politikerin Liz Cheney aus allen Leitungsgremien feuerte, war das Signal unmissverständlich: Wer bei den Republikanern etwas erreichen will, muss sich Trump und seiner „Großen Lüge“ bedingungslos unterwerfen. Cheneys „Vergehen“: Sie weigert sich standhaft, Trumps Lüge von dem „gestohlenen Wahlsieg“ mitzutragen.

Das elegant erzählte Buch von Anne Applebaum ist insofern hochaktuell, als es hilft, die Gefahr einzuschätzen, in der sich viele angeschlagene Demokratien befinden, allen voran ausgerechnet die amerikanische Republik, und das nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Abwahl von Donald Trump. In den von ihr regierten Bundesstaaten ist die Republikanische Partei dabei, auf Basis der „Großen Lüge“ systematisch die Wahlgesetze so zu verändern, dass nicht-republikanische Wähler das Stimmrecht entweder verweigert oder erschwert wird, und dass Wahlergebnisse notfalls annulliert werden können.

Applebaum zeigt in ihrer scharf beobachteten Analyse, dass sich die „Neuen Rechten“ von den hehren Werten eines wohlverstandenen Konservativismus inzwischen fast vollständig losgelöst haben. Der Autoritarismus ist auf dem Weg, als Instrument des Machterhalts akzeptabel zu werden. Es könnte sein, so eine nachdenkliche Applebaum, „dass wir bereits in der Dämmerung der Demokratie leben.“

Die Verlockung des Autoritären
Gebundenes Buch
208 Seiten
ISBN978-3-8275-0143-1
Verlag: Siedler
Originaltitel: Twilight of Democracy (Doubleday)

Die Amerikanierin Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, lebt seit 1988 in Polen, arbeitete in London und Washington und schreibt heute unter anderem als feste Autorin für die amerikanische Zeitschrift „The Atlantic“. Für ihr Buch über das sowjetische Gulag-System erhielt sie den Pulitzer-Preis. Ihr Ehemann war später Außenminister und Abgeordneter im Europaparlament. Die Autorin, die sich selbst als Konservative definiert, brach 2008 mit der Neuen Rechten in den USA, als John McCain gegen Barack Obama um die Präsidentschaft antrat. McCain, der noch Jahre zuvor bei einer Buchvorstellung der Journalistin gesprochen hatte, sprach danach kein Wort mehr mit ihr.

Wort 28.6.2021

politik, deutschland, ukraina, demokratie, deutschhland, rechts, luxembourg, wort, uk, sozialismus, usa, polen

Previous post Next post
Up