Apr 13, 2021 11:50
Corona-Krise in Polen: Von wegen zweite Liga
Die polnische Wirtschaft ist auf Rekordkurs, trotz politischer Abschottung und hoher Corona-Zahlen. Vor allem der Handel mit Deutschland läuft gut. Wie kommt das?
Eine Analyse von Ulrich Krökel
Trauma und Traum liegen in Polen oft eng beieinander. Da ist das brennende Gefühl, nicht nur Opfer von Kriegen und Fremdherrschaft geworden zu sein, sondern in Europa bis heute nicht recht ernst genommen zu werden, in der zweiten Liga zu spielen. Und da ist das große Ziel, mit den EU-Staaten im Westen gleichzuziehen. Mit Italien und Frankreich, Spanien und Deutschland. Oder sogar besser zu sein. Es ist der Traum vom Aufstieg.
Auf den Punkt gebracht hat dieses Grundgefühl einmal Jarosław Kaczyński. Dabei berief sich der Chef der rechtsnationalen PiS, die in Warschau seit bald sechs Jahren regiert, ausgerechnet auf den linksrevolutionären Dichter Władysław Broniewski: "Wir haben in Polen einen Stand erreicht, mit dem wir zufrieden sein können. Aber um es mit den Worten eines herausragenden Poeten zu sagen: Das ist zu wenig! Zu wenig! Zu wenig!" Das Erreichte sei sogar "viel zu wenig", fügte Kaczyński hinzu. Denn das wahre Ziel bestehe darin, den "Westen einzuholen und diesen Abstand, der während unserer gesamten Geschichte bestanden hat, zu beseitigen".
Inmitten der Corona-Pandemie, die sich in Polen gerade zur Katastrophe zu entwickeln droht, ist so etwas illusorisch. Könnte man meinen. Und doch erklärte der polnische Weltbank-Ökonom Marcin Piątkowski kürzlich genau dies: Polen biete sich heute "die größte Chance in einer tausendjährigen Geschichte, den Westen einzuholen". Und der ehemalige Harvard-Gelehrte ging sogar noch weiter. Derzeit sei Polens Ökonomie "der Robert Lewandowski unter den europäischen Volkswirtschaften". Immer auf Rekordkurs, ganz wie im Fußball der polnische Torjäger des FC Bayern. Von wegen zweite Liga. Champions League!
Die ökonomischen Kennziffern bestätigen Piątkowskis These eindrucksvoll. Beispiel Jobwunder: Eine Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent bedeutete im Januar faktisch Vollbeschäftigung. Damit lag Polen unter den 37 hoch entwickelten OECD-Staaten hinter Japan auf Platz zwei. Beispiel Wachstum: Zwar ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Corona-Jahr 2020 erstmals seit der Weltfinanzkrise leicht zurück. Doch wie damals kam Polen in Europa mit am besten durch die Krise. Das Minus von 2,8 Prozent war nichts im Vergleich zu minus 8,3 Prozent in Frankreich oder minus 8,8 in Italien, ganz zu schweigen vom zweistelligen Einbruch in Großbritannien (minus 10,3 Prozent). Die deutsche Wirtschaft schrumpfte um satte fünf Prozent.
Doch mehr noch: Westeuropa und vor allem Deutschland hätten ohne den andauernden Boom im Handel mit dem östlichen Mitteleuropa ein noch viel größeres Problem. "Polen ist ein wesentlicher Stabilisator für unsere Wirtschaft in der Corona-Krise", sagt Lars Gutheil, der die deutsche Außenhandelskammer (AHK) in Warschau leitet. Die Zahlen, auf die er verweisen kann, dürften manchen Osteuropa-Skeptiker im Westen noch immer verblüffen. So exportierte Polen 2020 trotz Pandemie so viele Güter und Dienstleistungen nach Deutschland wie nie zuvor. Mit einem Volumen von 58,1 Milliarden Euro übertrafen die Ausfuhren den Rekord des Vorjahres noch einmal um ein Prozent. Damit stieg das Wirtschaftswunderland des Ostens, das sein BIP seit der Jahrtausendwende mehr als verdreifacht hat, zum weltweit viertstärksten Lieferanten Deutschlands auf.
Erstmals überhaupt stach Polen dabei Frankreich aus. Nur die Giganten China und USA sowie die Niederlande mit ihrer starken Öl- und Gasindustrie waren besser. In umgekehrter Richtung läuft es ebenfalls rund. Die deutschen Ausfuhren nach Polen sanken zwar um 1,8 Prozent. Aber auch hier gilt frei nach einem bekannten Filmtitel: Forget Paris! Der Vergleich mit Frankreich, wo der Absatz deutscher Produkte im zweistelligen Bereich einbrach, belegt die enorme Kraft der osteuropäischen Boomregion. Dazu zählen neben Polen auch Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Zusammen kommen die vier jungen EU-Staaten mit 286 Milliarden Euro sogar auf ein größeres Handelsvolumen mit Deutschland als China (212 Milliarden).
"Superkonkurencyjną" nennt Piątkowski die Region - extrem konkurrenzfähig. Doch was genau macht vor allem die Wachstumslokomotive Polen so stark, dass sie den Vergleich selbst mit den globalen Riesen nicht zu scheuen braucht? AHK-Leiter Gutheil verweist darauf, dass "Polens Wirtschaft sehr stark diversifiziert ist". Das zahle sich nicht nur in der Pandemie aus. Tatsächlich ist Polen exportstarkes Agrarland, Industriestandort und wichtiger Zulieferer zugleich. Das Land punktet aber vor allem mit vielen erfolgreichen kleinen und mittleren Unternehmen, insbesondere im Handwerk. Denn gebaut wird in Polen seit Jahren wie in kaum einer anderen Region Europas.
Entscheidend dazu beigetragen haben die milliardenschweren Förderungen aus EU-Töpfen, die Polen so effektiv nutzt wie kein zweiter Mitgliedstaat. Das wiederum hat einen Modernisierungsschub bei der Infrastruktur ausgelöst, die den Boom beim Warentransport erst möglich machte. Und noch etwas Wesentliches kommt hinzu: Polen gehört nicht der Eurozone an. Das half dem Land sowohl in der Weltfinanzkrise 2008/09 als auch jetzt in der Corona-Pandemie. Damals wie heute verbilligte sich der Złoty deutlich gegenüber dem Euro und machte die polnischen Exporte günstiger. Zum Beispiel im Vergleich zum Verlierer Frankreich.
Keine Frage: Die Złoty-Abwertung hat bei der Aufholjagd ebenso geholfen wie das deutliche West-Ost-Gefälle bei Löhnen und Gehältern. Niedrige Preise sind in einem marktwirtschaftlich organisierten Binnenmarkt wie der EU nun einmal ein zentrales Argument. Genau an dieser Stelle jedoch wachsen die Zweifel. Polen wird in der EU politisch und ökonomisch nur dann in der ersten Liga spielen können, wenn es zur Eurozone gehört und über die Zukunft der zweitwichtigsten Währung der Welt mitentscheiden kann. Und auch die Löhne werden sich annähern, je geringer der BIP-Abstand zwischen Ost und West wird.
Zumal die PiS-Regierung genau dies forciert. Sie betreibt seit 2015 eine paternalistische Wirtschaftspolitik mit deutlich erhöhten Sozialausgaben. Bei vielen Menschen kommt das gut an. Nicht zuletzt, weil die PiS-Politik das Gefühl nährt, am wachsenden Wohlstand des Landes endlich teilzuhaben. Die Überzeugung, den Abstand zum Westen verringern zu können, ist in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen. Doch kann der Durchmarsch in Europas erste Liga mit diesen Mitteln gelingen?
Weltbanker Piątkowski, beileibe kein Parteigänger der PiS, ist davon überzeugt. Er macht den Vergleich mit Italien auf, das immerhin G7-Land ist. Aktuell ist das italienische BIP pro Kopf, das im Jahr 2000 etwa fünfmal größer war als das polnische, nur noch doppelt so hoch. Schreibt man die jüngste Entwicklung fort, ist der Gleichstand noch in diesem Jahrzehnt zu erreichen. Auch AHK-Chef Gutheil glaubt an Polens Potenzial. Zum Beispiel bei der Digitalisierung, bei der viele osteuropäische Staaten entschlossener vorangehen als der alte Westen. Gutheil: "Im polnischen Mittelstand wird derzeit stark in Automatisierung und Robotisierung investiert."
Piątkowski nennt allerdings eine zentrale Bedingung für den weiteren Aufstieg Polens: "Unter Experten herrscht Einigkeit, dass eine unabhängige Justiz, marktwirtschaftlicher Wettbewerb, freie Medien und eine effektive Verwaltung für die ökonomische Entwicklung entscheidend sind." Und da kommt dann wieder Kaczyńskis PiS ins Spiel. Seit Jahren liefert sich die autoritäre und illiberale Regierungspartei mit der EU-Kommission einen heftigen Streit über Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundwerte. Die aber zählen zu den Zugangsvoraussetzungen zur europäischen Champions League.
Zeit 5. April 2021
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