Apr 04, 2021 11:00
Dokumentarfilm "Lovemobil": Die Realität folgt keinem Skript
Was darf ein Dokumentarfilm? Was ist echt? Der Skandal um den Film "Lovemobil" hat die Branche aufgerüttelt. Darin liegt auch eine große Chance.
Von Simone Gaul
Während des Drehs eines Dokumentarfilms gibt es diese magischen Momente. Dann passieren vor der Kamera Dinge, von denen man intuitiv weiß: Das ist es. Das ist die Szene, in der echte Nähe zur Protagonistin entsteht. Das ist der Streit, der die Konflikte auf den Punkt bringt. Dieser Moment kann eine Aussage in einem Interview sein, es kann eine beobachtete Szene sein, es kann auch mal ein Naturschauspiel sein. Was diese Momente eint: Sie sind authentisch. Und genau darin liegt hinterher beim Zuschauen die Faszination. Man weiß, das, was sich da auf der Leinwand oder dem Bildschirm zuträgt, ist eben nicht ausgedacht. Es ist echt.
Solche Momente sind wahnsinnig schwer herzustellen. Der Film Lovemobil wäre voller solcher Augenblicke gewesen, wenn er gewesen wäre, was er vorgab zu sein: ein beobachtender Dokumentarfilm, der zwei Prostituierte, Rita und Milena, durch ihr Leben begleitet. Etwa beim Streit mit der Vermieterin Uschi. Oder beim Gespräch zwischen Rita und einer dritten Kollegin über ihre "stinkenden Freier". Einmal erklärt der Bordellbesitzer Rita, dass es ein Problem sei, dass sie schwarz sei. Die Freier mögen nämlich lieber weiße Frauen. Auch bei wirklich guter Planung erfordern solche Szenen das Glück, im richtigen Moment mit der Kamera zur Stelle zu sein. Deshalb waren auch viele so beeindruckt von Lovemobil: die Redaktion des NDR, die Jury des Deutschen Dokumentarfilmpreises, die Grimme-Nominierungskommission.
Und deshalb ist die Aufregung in der Branche jetzt so groß. Einen Dokumentarfilm zu drehen kann je nach Stil des Films ein langwieriger Prozess sein. Oft wartet man tage- oder wochenlang auf diese besonderen Momente. Manchmal kommen sie nie. Im Schnittraum sitzt man später vor 80, 90 oder auch mehr als 100 Stunden Material und versucht, daraus einen Film zu destillieren. Die Regisseurin von Lovemobil, Elke Lehrenkrauss, kam an einem Punkt ihrer Dreharbeiten offenbar nicht mehr weiter und hat sich nicht nur einzelne Szenen, sondern gleich die Figuren Rita und Milena einfach ausgedacht. Ohne diesen Schritt transparent zu machen. Weder gegenüber dem Zuschauer noch gegenüber dem NDR, der den Film mitproduziert und -finanziert hat. Und zumindest ein Teil der auftretenden Protagonisten wusste selbst nicht, auf was er sich einließ. Deshalb will der NDR Lovemobil nun nicht mehr zeigen.
Der Skandal hat die Diskussion wiederbelebt: Was darf ein Dokumentarfilm? Wie wahrhaftig kann er sein? Wie viel Inszenierung ist erlaubt?
Eines vorneweg: Jeder Dokumentarfilm ist inszeniert. Egal wie sehr sich die Regisseurin oder der Regisseur der Tradition einer rein beobachtenden Kamera, dem sogenannten Direct Cinema, verpflichtet fühlt. Die berühmte "Fliege an der Wand", einen Beobachter also, der so unbemerkt wie ein winziges Insekt einer Szenerie beiwohnt, kann es nicht geben, sofern man nicht mit versteckter Kamera dreht. Allein schon, dass ein Filmteam anwesend ist und wie es sich gegenüber den Protagonisten verhält, beeinflusst jede Situation.
Auch der Blick des Filmemachers oder der Filmemacherin durch die Kamera ist immer eine Gestaltung der Wirklichkeit. Welche Brennweite kommt auf die Kamera? Aus welcher Perspektive wird gefilmt? Jede Entscheidung hinter der Kamera verändert die Wirkung des Gezeigten davor. Vermittelt wird nie die Realität, sondern die subjektive Wahrnehmung dieser Realität des Filmemachers.
An den Filmschulen wird genau das gelehrt: Sich bewusst für eine Art der Gestaltung zu entscheiden. Führe ich Interviews oder verzichte ich darauf? Falls ja, lege ich Teile dieser Interviews ins Off? Zeige ich also andere Bilder zu dem, was die Menschen auf der Tonspur sagen und erzeuge dadurch eine ganz eigene Aussage? Und schließlich: In welcher Reihenfolge, in welchem Rhythmus montiere ich die Szenen? All das sind gestaltende Mittel eines Dokumentarfilms, sie sind das Handwerkszeug einer Filmemacherin, sie sind ihre Sprache.
Bis zu einem gewissen Grad ist die Wahl der filmischen Mittel auch eine Haltungs- und Geschmacksfrage. An den Filmschulen wird jedem von Anfang an klargemacht, dass es auf einen eigenen Stil, eine eigene Handschrift ankommt. Die kann irgendwann so aussehen wie in den Filmen des Österreichers Ulrich Seidl. Seine penibel ausgeleuchteten und eingerichteten Einstellungen sind nicht zufällig entstanden, die Darsteller vor seiner Kamera folgen Regieanweisungen - das wird in Seidls Filmen wie Im Keller auf den ersten Blick klar. Das Inszenierte ist aufgrund fester Kadrierungen und tableauartigen Arrangements offensichtlich. Es wirkt stellenweise künstlich. Seidl erschafft Filme, die mit der Realität und den Menschen darin spielen - ohne es zu verheimlichen.
Inszenieren ist legitim, es ist Filmkunst. Werner Herzog nannte es seine "ekstatische Wahrheit". Aber auch bei Herzog wird deutlich, mit welchen Mitteln er arbeitet. "Ich weise darauf hin, wenn ich mit Fakten erfinderisch bin. Ich verheimliche das nie", schrieb er der Süddeutschen Zeitung, die ihn auf den Fall Lovemobil angesprochen hatte.
Natürlich gibt es auch Rahmenbedingungen am Drehort, die eine Regisseurin inszenieren lassen. Wenn, sagen wir, eine Protagonistin ein Konzert in der Philharmonie besucht und auf einem Platz sitzt, der schwierig zu filmen ist, weil er beispielsweise zu dunkel liegt, wäre es nicht ungewöhnlich, sie zu bitten, mit einer anderen Person den Platz zu tauschen, um bessere Lichtverhältnisse zu bekommen. Allerdings: Es kommt auf den Kontext an. Wäre die Protagonistin etwa eine arme Klavierstudentin und der Film wollte zeigen, mit wie wenig Geld sie ihren Alltag bestreitet, dann wäre es verfälschend, sie auf einem der teuersten Plätze zu zeigen, wo sie sich doch nur eine Karte mit eingeschränkter Sicht leisten kann.
Es gibt auch Gegebenheiten, die sich schlicht nicht filmen lassen. Weil sie in der Vergangenheit passiert sind oder weil das Filmteam nicht dabei sein darf. Auch dafür haben Dokumentarfilmer viele verschiedene Lösungen entwickelt: Sie lassen Animationen die Geschichte erzählen. Oder ihre Protagonisten erzählen sie im Rückblick nach, zu abstrakten oder assoziativen Bildern. Oder die Filmemacherinnen lassen bestimmte Situationen nachstellen. Eigentlich ist dieses Reenactement unter Dokumentarfilmern eher verpönt, funktioniert in einigen Fällen dann aber doch spektakulär gut wie in dem Film The Act of Killing, in dem Massenmörder in Indonesien ihre Verbrechen aus den Sechzigerjahren vor der Kamera selbst nachstellen - und dabei doch wieder authentische Momente schaffen, die einem die Sprache verschlagen.
Trotz all dieser teils stärker, teils weniger wahrnehmbaren Inszenierungen bleibt es eine besondere Leistung, wenn ein Film es schafft, nah an die Menschen heranzukommen. Wenn eine Protagonistin ihre Sehnsüchte und Ängste mit der Regisseurin und der Kamera teilt. Wenn das Filmteam während eines Familienstreits dabei sein kann. Wenn man Szenen beobachten darf, die so aussagekräftig sind, dass es gar keiner Interviews bedarf, damit der Zuschauer versteht. Wenn es also gelingt, wahrhaftige Momente einzufangen.
Abgesehen von der Geduld und psychologischen Arbeit, die das während des Drehs erfordert, stellt sich jedoch ein weiteres Problem: Wer einen Dokumentarfilm machen möchte, muss ihn zunächst finanzieren. Er muss einen Sender finden, einen Streamingdienst, Filmförderungen. Anhand des Drehbuchs für einen fiktionalen Film lässt sich recht zuverlässig beurteilen, ob er spannend werden kann. Doch wenn einer Redaktion oder einem Fördergremium ein Konzept für einen beobachtenden Dokumentarfilm vorliegt, kann keiner genau wissen, was dabei herauskommen wird. Genau das aber wird häufig verlangt. Das Exposé für einen Film, der ein Jahr lang den Alltag in einem Flüchtlingsheim dokumentieren will, sollte demnach also bereits eine mögliche Dramaturgie enthalten. Welche Konflikte können auftreten? Welche Wendepunkte? Wer sind die Protagonisten, was ist ihre Geschichte, wo ist die Fallhöhe, welche Relevanz haben ihre Erlebnisse?
Selbst nach ausgiebigen Recherchen lassen sich Dinge höchstens erahnen, die möglicherweise passieren könnten. Diese Ideen landen dann in den Konzepten, die die Redaktionen zu lesen bekommen. Ob die Ereignisse eintreten, ist allerdings ungewiss und für echte Überraschungen bleibt wenig Platz. Schlimmer noch: Weil sich ein Konzept meistens gegen viele andere durchsetzen muss, landen mitunter Formulierungen oder intendierte Szenen darin, die vielleicht ein bisschen dramatischer, ein bisschen pathetischer, ein bisschen krasser sind als alles, was die Recherche ergab.
Die Zuschauerin verlangt dramatische Geschichten. Das ist zumindest die Prämisse, nach der viele Stoffe ausgewählt werden. Doch wie soll ein Dokumentarfilm das vorhersehbar einlösen? Die Realität folgt keinem Skript.
Irgendwo zwischen dem Anspruch an Authentizität, der Suche nach einer krassen Geschichte und den realen Produktionsbedingungen wird das Genre des Dokumentarischen regelrecht zermalmt. Nur sehr wenige Dokumentarfilmideen schaffen es, fertige Filmen zu werden.
Dass jetzt die Branche so ausgiebig über den Fall Lovemobil diskutiert, darüber, welche Schuld die Filmemacherin trägt und wie viel Verantwortung die Sender, die Programmdirektorinnen und Preisjurys haben, das ist deshalb auch eine große Chance. Es besteht die Hoffnung, dass wieder mehr Platz für leise Filme geschaffen wird. Dass die Erwartungen an Dramatik und Emotionalität nicht noch weiter steigen. Ein bisschen Bescheidenheit wäre schön, denn meistens sind eben mehrere kleine Szenen notwendig, um die Verfasstheit einer Familie zu zeigen. Weil es den einen idealen Streit eben nicht gab. Konflikte entladen sich selten so, wie wir es aus Spielfilmen kennen.
Eine Chance ist die neu entfachte Diskussion auch, weil Filmemacherinnen und Redakteure sich angewöhnen könnten, künftig transparenter zu arbeiten und genauer hinzuschauen, wie eigentlich produziert wird. Lehrenkrauss sagte in einem Interview mit dem Filmmagazin Artechock, dass ihr betreuender Redakteur kaum Zeit für sie gehabt habe. Zwischen Tür und Angel kann jedoch kein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut werden, in dem man als Filmemacher ein Scheitern einräumen oder zumindest über Schwierigkeiten sprechen könnte.
Wegen des Skandals um die gefälschten Reportagen des Spiegel-Reporters Claas Relotius haben die Medienhäuser neue Standards erarbeitet. Dem Niveau der Texte und ihrer journalistischen Qualität tut diese Auseinandersetzung nur gut. Dokumentarfilm ist zwar kein Journalismus, aber wenn künftig ehrlicher über Herstellungsprozesse gesprochen wird und genauer hingeschaut wird, ist auch das eine Entwicklung, über die sich jeder Dokumentarfilmer, der seine Arbeit ernst nimmt, freuen kann.
Simone Gaul
ist Redakteurin im Ressort Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Podcasterin bei ZEIT ONLINE. Sie hat selbst einige Dokumentarfilme gedreht und dabei viele Stunden gewartet, dass endlich etwas Spannendes passiert.
Zeit, 31. März 2021
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