Oct 02, 2020 12:32
Die mit den Sachen, die sonst keiner macht
Eine Liebeserklärung an Arte zum 30. Geburtstag des deutsch-französischen Senders
Was wurde seinerzeit nicht alles an Bedenken durch den öffentlichen Raum getragen. Sowohl deutsche als auch französische Fernsehintendanten reagierten hochallergisch, als Helmut Kohl und François Mitterrand 1988 einen gemeinsamen Sender ankündigten. Einen „Bastard der Politik“ nannte ein deutscher Intendant das Projekt, das „letzte Kind des Kalten Krieges“, unkte einer seiner Kollegen. In Frankreich war die Skepsis mindestens genauso groß, wie soll man mit diesen Deutschen und ihrem föderalen Chaos je ein Programm abstimmen können? Außerdem wollen die am Ende ja doch nur wieder einmarschieren, diesmal via Fernsehprogramm. Noch 1996, Arte sendete seit vier Jahren, schimpfte der konservative Abgeordnete Alain Griotteray im Parlament, der Kanal sei mit seinen „abstrusen deutschen Filmen“ ein „politischer Anachronismus“, der „von Anfang an zum Scheitern verurteilt war“. Griotteray plädierte dafür, Arte einzustellen oder in einen französischen Bildungskanal umzufunktionieren, in dem „la patrimoine“, also sowas wie das leitkulturelle Erbe gepflegt wird, Kathedralen, Käse, bisschen Truffaut.
Das bizarr byzantineske Arte-Organigramm sieht noch immer komplexer aus als jede Bach-Fuge, der Proporz ist komplizierter als in jedem basisdemokratisch organisierten Baugruppenprojekt. Und trotzdem (oder gerade deshalb?): Das Ganze funktioniert. Ach was, es funktioniert, Arte ist neben Interrail und Erasmus die wohl sinnvollste, schönste europäische Erfindung. Und während Erasmus und Interrail wegen Corona gerade vor sich hin kriseln, kann man Arte jeden Abend schauen.
Sie machen Sachen, die sonst niemand macht - und über die all die Traffic Manager und Executivesonstwas, die heute in so vielen Redaktionen das Zepter schwingen, nicht mal mehr den Kopf schütteln. Klickt doch keiner. Und wer kennt heute bitte Abel Gance?
Na ja, Gance hat 1923 La Roue gedreht, ein achtstündiges Epos, das mit seiner Montagetechnik das filmische Erzählen revolutionierte. Diese experimentelle Familiensaga hat Arte in Koproduktion mit der Fondation Seydoux-Pathé aufwendigst restauriert, inklusive einer weltweiten Suche nach Originalschnipseln. Die Musik wurde auf 2000 Partiturseiten rekonstruiert und eingespielt. Niemand, wirklich weltweit kein anderer Sender würde einen Film so hingebungsvoll quasi neu erschaffen und für die Filmgeschichte retten.
Nun sind Stummfilme von 1923 nicht per se Straßenfeger. Das Grundproblem des Senders hat das Cartoonisten-Duo Rattelschneck schon vor 20 Jahren auf den Punkt gebracht. Da steht ein Mensch auf menschenleerer Straße im Dunkel und denkt: „Verdammt! Keiner da! Ist schon wieder Themenabend auf Arte?“ Der Marktanteil ist mit 1,1 Prozent in Deutschland und 3,3 Prozent in Frankreich eher so mittel. Hinter den Kulissen aber ist Arte sehr viel größer. Der Sender (ko)produziert 50 Kinofilme pro Jahr, etwas mehr als 20 in Deutschland, knapp 30 in Frankreich. Sie haben mittlerweile so viele Goldene Palmen gewonnen, dass man damit den ganzen Mainzer Lerchenberg bepflanzen könnte. Lars von Triers Gesamtwerk (außer Nymphomaniac) - koproduziert von Arte. Momentan kann man in der Mediathek (die ist so was wie das bessere Netflix - und kostenlos) Gundermann anschauen, Isabelle Huppert als Edelprostituierte Eva oder The Killing of a Sacred Deer. Aber bevor man jetzt pars pro toto einzelne Produktionen lobt, lieber noch ein Hinweis darauf, dass Arte noch auf andere Art als Einziger im Fernsehen ernst macht mit der europäischen Idee: Es gibt Sendungen mit polnischen, italienischen, spanischen und englischen Untertiteln, so dass fast 80 Prozent der Europäer Arte in ihrer Muttersprache sehen können.
Zuletzt noch ein Argument gegen alle, die sagen, ach Arte, das seien doch alles Wolkenkuckucksheimer: Dass das Ganze am 2. Oktober 1990 und damit am Tag vor der deutschen Einheit unterschrieben wurde, hat mit ziemlich ausgefuchstem Pragmatismus zu tun. Jahrelang hatten Frankreich und Westdeutschland den bilateralen Vertrag ausgehandelt. Nach dem 3. Oktober hätte man das komplette Paket neu aufschnüren müssen, um sich erst mal anzuhören, was denn nun Mecklenburg-Vorpommern und die anderen neuen Länder von der ganzen Sache halten. Also nix wie unterschreiben. Weshalb nun an diesem Samstag der 30. Geburtstag gefeiert wird. Bon anniversaire! Et merci beaucoup für all den großartigen Content, der bei euch noch Inhalt heißt.
Alex Rühle Süddeutsche 2.10.2020
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