Der Zusammenbruch In der Schlacht von Sedan im Spätsommer 1870 wurde das Kaisertum Napoleons III. v

Sep 04, 2020 21:42

Der Zusammenbruch

In der Schlacht von Sedan im Spätsommer 1870 wurde das Kaisertum Napoleons III. vernichtet und das Deutsche Reich Bismarcks auf den Weg gebracht. Besuch in einer Stadt, in der die Zeit den Atem anhält

Von Gustav Seibt

Einen Besuch in Sedan, wo preußische und süddeutsche Truppen am 1. September 1870 mit einem großen Sieg das französische Kaiserreich Napoleons III. zerstörten und die Gründung des Zweiten deutschen Kaiserreichs möglich machten, beginnt man am besten am Ende der Schlacht, bei dem kleinen Ort Donchery an der Maas. Dort traf Graf Bismarck, der preußische Ministerpräsident, den französischen Kaiser in den frühen Morgenstunden des 2. September.

Ungewaschen und ungefrühstückt ritt der Preuße dem geschlagenen Kaiser, den er gut kannte, entgegen und traf ihn in einer Kutsche auf der Landstraße nach Reims. Napoleon, der am Vortag vergebens den Tod in der Schlacht gesucht hatte, fürchtete sich vor Menschenmengen - schon seine Truppen hatten ihn zuletzt offen verhöhnt -, und so zog man sich in ein ärmliches Arbeiterhaus am Wegrand zurück. „Unsere Unterhaltung war schwierig“, schrieb Bismarck tags darauf an seine Frau, „wenn ich nicht Dinge berühren wollte, die den von Gottes gewaltiger Hand Niedergeworfenen schmerzlich berühren mussten.“

Vor allem verweigerte Bismarck dem Kaiser ein Treffen mit König Wilhelm von Preußen, dessen ritterliche Milde er fürchtete. Erst sollten die Militärs zum Abschluss der Kapitulation kommen, bevor die Monarchen einander begrüßen und Wilhelm den Degen des Besiegten entgegennehmen konnte. Der Abschluss kam gegen Mittag ein paar Kilometer nördlich von Donchery in einem Landschloss zustande, in dem heute ein Hostel untergebracht ist: Zimmer mit Bad.

Der Oberbefehlshaber Helmuth von Moltke und Bismarck verweigerten dem französischen General Wimpffen die Entlassung der gefangenen, nach Verlusten von etwa 14 000 Mann, darunter 3000 Toten, immer noch 80 000 Mann zählenden Armee gegen das Ehrenwort, nicht mehr gegen die Deutschen zu kämpfen. Bismarcks Argument war bemerkenswert: Er traute den Zusagen einer Nation nicht, die in nur 80 Jahren sechs Mal ihre Regierung gestürzt hatte und im Gegensatz zu den Deutschen keinerlei Respekt vor gewachsenen Institutionen zeige.

Daran war so viel wahr, dass schon im Moment der Niederlage in Paris eine Revolution begann, die das Kaiserreich beendete. Frankreich formierte sich politisch neu. Würde es Zusagen des alten Regimes halten? Napoleon III. musste fast froh sein, als Kriegsgefangener nach Wilhelmshöhe in Kassel gebracht zu werden - nach der Degenübergabe bei König Wilhelm.

Und so wanderten Zehntausende französische Kriegsgefangene zunächst in ein provisorisches Lager auf der von einer Schleife der Maas westlich von Sedan gebildeten Halbinsel Iges. Dort kampierten sie zehn Tage unter freiem Himmel - es war entweder drückend heiß oder es regnete in Strömen - fast ohne Nahrung, bevor die zunächst überforderte preußische Logistik es schaffte, sie nach Deutschland zu verfrachten.

Es gibt um Sedan nur wenige Erinnerungstafeln an die große Schlacht, aber auf Iges, heute eine hübsche Villengegend mit Gärten und Blumen, erinnert eine Schrifttafel mit vorwurfsvollen Formulierungen an das Leiden der Vorfahren. Sogar mit späteren Konzentrationslagern der Deutschen wird „Iges“ da verglichen. Berühmte Seiten in Émile Zolas Roman „Der Zusammenbruch“ (La Débâcle), den gebildete Franzosen kennen, beschreiben diese Hölle.

Oberhalb von Donchery, wo sich Bismarck und Napoleon trafen, liegt eine Ebene, die einen weiten Blick über die Festung Sedan und das hinter ihr gelegene Schlachtfeld erlaubt - oder erlaubt hat, denn heute verdecken Bäume einen Blick, den Fontane, der ein halbes Jahr nach dem Krieg die Schlachtfelder bereiste, noch plastisch beschreibt. Nördlich der unten an der Maas gelegenen Festungsstadt erhebt sich ein von zwei tief einschneidenden Flüsschen umgebener Kegel. Fontane spricht von einer Tortenform mit erhöhtem Rand und einem mittleren Kegel. Ein französischer General wählte ein drastischeres Bild: „Das ist ein Nachttopf, in den man von allen Seiten auf uns scheißen wird.“

Als die Franzosen die Schlacht schon verloren hatten, kämpften sie auf dem Kegel noch tapfer weiter, und König Wilhelm, der die Szenerie am Nachmittag des 1. September von dem Plateau über Donchery betrachtete, soll einen Ruf der Bewunderung („O, die Tapferen!“) ausgestoßen haben. Zola hat die Szene mit lyrischer Schönheit geschildert: „Ermüdet setzte König Wilhelm seinen Feldstecher einen Augenblick ab; und mit bloßem Auge sah er weiter zu. Schräg kam die Sonne gegen die Wälder herunter und schickte sich an, an einem Himmel von makelloser Reinheit unterzugehen. Die ganze weite Landschaft war davon vergoldet, in einem so durchsichtigen Licht gebadet, dass die geringsten Einzelheiten eine seltsame Deutlichkeit annahmen.“

Doch unter der gläsernen Schönheit vollzieht sich Grässliches: Streichholzgroße Kanonen schießen Menschenmassen über den Haufen, aufgeschlitzte Pferde verenden in den Feldern. Eine bluttriefende Schlacht wurde, so Zola, „beim Scheiden der Sonne zu einer zarten Malerei. Das war der unverhoffte, Blitze schleudernde Sieg, und der König empfand keine Gewissensbisse angesichts dieser so kleinen Leichname“. Die Schönheit dieses Fernblicks ist bis heute spürbar: In der Ferne locken die kühlen, dunklen Wälder Belgiens. Die Walstatt kann man leicht umfahren. Auf der Landkarte zeigt Fontanes Kuchenform einen dreieckigen Umriss: Die Basis im Süden bildet die Maas mit Sedan und den östlichen Vororten Balan und Bazeilles. Die Spitze liegt nördlich in dem Örtchen Illy, von dem aus man im waldigen, schluchtartigen Tal der Givonne nach Bazeilles fährt - für Radfahrer durch beträchtliches Auf und Ab eine reizvolle Herausforderung. In diesem Dreieck, das heute von Feldern und Viehweiden bedeckt ist, liegt die Fläche der eigentlichen Schlacht. Sie ist für eine darin eingesperrte Armee derart ungünstig, dass man unwillkürlich fragt, wie in aller Welt es den Deutschen gelang, ihre französischen Gegner hier einzukesseln.

Anfang August 1870 hatten die Armeen Preußens und seiner sächsischen und süddeutschen Verbündeten die Franzosen durch Schnelligkeit überrumpelt. Perfekt koordinierte Eisenbahnen hatten die Truppen rasch an die Grenzen gebracht, sodass sich die ersten, blutigen Gefechte sogleich auf französischem Boden abspielten. Die Namen kannte einst jedes Schulkind, noch manche Straße erinnert an sie: Spichern, Wörth, Mars-la-Tour, Gravelotte, St. Privat. Die Franzosen hatten sich auf eine Offensive nach Deutschland eingestellt, und so hatten sie zunächst nicht einmal Karten ihres eigenen Landes zur Hand. An einer Stelle vertrauten sie darauf, dass die Deutschen keine Kenntnis von einer neuen Eisenbahnstrecke hätten, weil sie auf den französischen Karten noch nicht eingezeichnet war. „Auf den deutschen Karten aber war sie eingezeichnet“, vermerkt trocken der französische Kriegshistoriker Arthur Chuquet in seiner 1895 erschienenen, höchst selbstkritischen Darstellung.

So gelang es Moltke und seinen brillanten Generälen, darunter den Kronprinzen von Sachsen und Preußen, innerhalb von drei Wochen, die französischen Streitkräfte zu teilen: Die eine Hälfte unter General François-Achille Bazaine wurde in der Festung Metz eingeschlossen, die andere unter Patrice-Maurice de Mac-Mahon nach Châlons bei Reims abgedrängt. Jede militärische Vernunft hätte nun dazu geraten, die Armee Mac-Mahons um Paris zu sammeln, zu einem Ring, den die Deutschen kaum hätten umfassen können. Doch das verbot die Politik.

Die Kaiserin Eugénie, die die Geschäfte für ihren Mann führte, fürchtete einen Volksaufstand, wenn ein mehrfach geschlagener Kaiser in die Hauptstadt zurückkehre. Sie und ihr Ministerium geboten Mac-Mahon, Bazaine in Metz zu befreien, um danach die Deutschen mit vereinten Kräften zu schlagen - ein wenig realistischer Plan, auch deshalb, weil die „gewöhnlich gut informierte“ Pariser Presse ihn hinausposaunte. Pariser Blätter las man nun auch in London, von wo aus Moltke per Telegramm über die französischen Militärgeheimnisse informiert wurde.

Revolutionsfurcht erzwang eine strategische Fehlentscheidung. Hans Delbrück, der große Kriegshistoriker, nahm das später zum Anlass, über die Vorteile einer legitimen, dynastisch gefestigten Regierung von Gottes Gnaden nachzusinnen, die nicht auf Volksstimmungen beruhe.

Moltkes Aufgabe bestand nun darin, Mac-Mahon bei seinem Schwenk auf Metz abzufangen. Das gelang überraschend gut und endete in der alten Festungsstadt Sedan. Bayern und Sachsen erreichten unter Kronprinz Albert von Sachsen Sedan auf der östlichen Seite am Ufer der Maas. Dass die beiden Generäle Moltke und Albert sich so gut verstanden, war keine Selbstverständlichkeit - noch 1866 hatten sie gegeneinander gekämpft, sich dabei aber auch fachlich zu schätzen gelernt. Die Preußen unter Kronprinz Friedrich Wilhelm umschlossen die Sedan-Torte, den „Nachttopf“, von Westen und Norden - eine Flucht der Franzosen ins neutrale Belgien sollte verhindert werden. Insgesamt verfügten die Deutschen über 200 000 Mann, etwa ein Drittel mehr als die Franzosen. Der Rest ist jenes vielstündige hin- und herwogende Gemetzel, dessen letzte Ausläufer Zola einen angeblich ungerührten preußischen König durch den Feldstecher beobachten lässt.

Die Stadt Sedan mit ihrer alten Festung - angeblich die größte Europas - spielte zunächst kaum eine Rolle, sie wurde erst am Ende des langen 1. September zum Zufluchtsort, zur Stätte letzter Straßenkämpfe, schließlich zum Standort einer mehrfach herauf- und herabgezogenen weißen Kapitulationsfahne. Mac-Mahon war frühzeitig verwundet worden, und danach stritten sich zwei Generäle um den Oberbefehl, was zu weiteren militärischen Fehlern führte. Am Ende setzte sich Emanuel Félix de Wimpffen durch, der dann am 2. September auch die Kapitulation mit dem unerbittlichen Moltke aushandeln musste.

Wer das Dreieck des Schlachtfelds von Illy kommend umfahren hat, kommt nach Bazeilles und damit an den Anfang der Schlacht. Hier begann sie in den frühen Morgenstunden des 1. September. Ausgerechnet bayerische Truppen, in hellblauen Uniformen, mit weiß-blauen Trommeln, erwarben sich hier einen bleibenden Ruf von Hartnäckigkeit und Grausamkeit. Die Bayern wollten sich über Bazeilles und Balan in die Stadt Sedan vorkämpfen, also durch bewohntes Gebiet. Nach Stunden erbitterter, blutiger Kämpfe gelang ihnen das auch.

„Bazeilles“ ist bis heute das Stichwort für die unerbittliche Grausamkeit dieses Krieges, der zwar schon mit viel technischem Material, aber am Ende doch immer Mann um Mann ausgekämpft wurde. Die Fähigkeit, den Feind aus der Nähe zu erschießen oder gar aufzuschlitzen, gehörte für die Soldaten beider Seiten dazu. Tobias Arands 2018 erschienene Darstellung des Krieges hat zum ersten Mal seit Zola diese Grausamkeit wieder zur Anschauung gebracht.

In Bazeilles erinnert das „Haus zur letzten Patrone“ („Maison de la dernière cartouche“) an diese furchtbaren Kämpfe. Hier, in einem bescheidenen Gasthaus an der Maas-Brücke, versuchten die Franzosen bis zuletzt, den bayerischen Durchbruch zu verhindern, bis ihnen die Munition ausging. Im Haus befindet sich ein kleines Museum zum Krieg, aber eigentlich ist es selbst das wichtigste Ausstellungsstück. Einschusslöcher, zerfetzte Tapeten, das Graffito eines Überlebenden, originales Mobiliar halten zusammen mit zeitgenössischen Gemälden von erstaunlicher Detailtreue den Moment der Zerstörung fest. Es ist, als halte die Zeit hier den Atem an, als sei eine Uhr stehen geblieben.

Der freundliche und kundige Wärter, eine drahtige, soldatische Gestalt, der unglaublich schnell ein unglaublich gut artikuliertes Französisch spricht, zeigt Sympathie für die Bayern: Diese hätten den Krieg gar nicht gewollt, Bismarck habe den König von Bayern mit Geld bestochen. Nun, das tat er etwas später, als es um die Kaiserproklamation in Versailles ging, aber im Kern ist schon etwas dran: Bayern tat sich schwer mit diesem Krieg.

Im Kleinen wird in Bazeilles eine nicht unwichtige Kontroverse bis heute ausgetragen: Der Wärter bestreitet die Darstellung Zolas, dass die Zivilbevölkerung von Bazeilles, darunter ein Geistlicher, sich an den Kämpfen beteiligt habe. Doch dies bestätigt auch der unparteiliche Arthur Chuquet. Die Preußen machten daraus später einen kriegsrechtlichen Vorwurf, auch nach Erfahrungen mit französischen Freischärlern und Partisanen in den Feldzügen nach der Schlacht von Sedan. Denn der Krieg ging noch monatelang weiter, weil die in Paris ausgerufene Republik ihn nicht verloren geben wollte. Der große Kampf um Paris, der Volksaufstand der Kommune, schneiden bis heute tiefer ins französische Gedächtnis als die kaiserliche Niederlage in Sedan.

Gerade herrscht die Pandemie, und eigentlich darf man nicht ins Ossuarium auf dem Friedhof von Bazeilles, das eng und stickig ist. Doch wir dürfen, der Wärter überreicht uns den Schlüssel - bitte nicht fotografieren, gute Nerven brauche man übrigens auch. Ein paar Hundert Meter vom „Haus zur letzten Patrone“ liegt der Friedhof, und hier liegen oder lagen die Toten der Schlacht. Das bald nach dem Krieg von 1870/71 angelegte Knochenhaus reiht in länglichen Kammern auf der rechten Seite eines Mittelgangs die Franzosen auf, zur Linken die Deutschen.

Die Überreste der Franzosen liegen im Gegensatz zu den in Sarkophagen bestatteten Deutschen unbeerdigt auf dem Boden: Knochen, Uniformteile, Stiefel, ein durcheinandergeworfenes Gewirr, eingefasst von aneinandergereihten Schädeln, alles grau und erdig überstäubt, in ausgetrockneter Verwesung, bis heute ein Bild des Schreckens. Arthur Chuquet und Émile Zola erzählen gelegentlich von den patriotischen Liedern, die die Soldaten beider Seiten in den Kämpfen gesungen hätten. Im Tod fand die Idee der Nation ihre unvermeidliche Grenze, und darum konnten die gefallenen Kriegsgegner auch nebeneinander ruhen.

Süddeutsche 5.9.2020

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