Ob Schweden Recht hatte, zeigt sich erst am Ende der Pandemie • • Von Frank Lübberding Müssen in

Aug 12, 2020 10:45

Ob Schweden Recht hatte, zeigt sich erst am Ende der Pandemie

• Von Frank Lübberding

Müssen in Schweden Menschen sterben, weil die Straßencafés geöffnet bleiben? Bei Sandra Maischberger ist von einer unverantwortlichen Politik die Rede. In Wirklichkeit haben sich die Schweden aber kaum anders verhalten als wir.

Wer wissen wollte, wie unterschiedlich Sachverhalte beurteilt werden können, musste am Mittwochabend nur die Sendung von Sandra Maischberger einschalten. Ein besonders prägnantes Beispiel galt der Rolle der Bundesregierung bei der Eindämmung der Pandemie. Für Eva Quadbeck habe die Bundeskanzlerin „dafür gesorgt, dass wir überhaupt wieder lockern können“. Das sah der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach anders als die Parlamentskorrespondentin der „Rheinischen Post“. Unsere vergleichsweise moderaten Todeszahlen seien „zu achtzig Prozent Glück, und zu zwanzig Prozent dem Verhalten der Bürger“ zu verdanken gewesen. Das Glück wurde schon oft genug beschrieben: Etwa die erste Infektionskette in Bayern noch rechtzeitig unterbrochen zu haben, weshalb sich das Virus nicht wochenlang unentdeckt ausbreiten konnte. Dieses Pech hatten die Italiener in der Lombardei.

Interessanter ist der Dank an der Bürger. Dieser fehlte in keiner Stellungnahme und war zugleich mit dem Appell verbunden, diese „Umsicht und Disziplin“ fortzusetzen. Es gab an diesem Mittwoch niemanden, der die Maskenpflicht ablehnte, die Distanz durch Nähe ersetzen, oder schon Bundesligaspiele in ausverkauften Stadien stattfinden lassen wollte. Angesichts von soviel Einigkeit stellte sich natürlich die Frage nach dem eigentlichen Grund des Dissenses. Für Hauptstadtkorrespondenten wie Frau Quadbeck ist das Berliner Machttheater von besonderem Interesse. Dort machen Kontaktverbote wenig Sinn, weil sich niemand daran zu halten gedenkt. So erwähnte Johannes B. Kerner die aus der laufenden Sitzung der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) an Medien durchgestochenen Wasserstandsmeldungen. Die Bundeskanzlerin sei davon genervt gewesen, so der Fernsehmoderator. Es kommt wahrscheinlich auf das Zitat an. Der „Spiegel“-Kollege Florian Gathmann hatte nämlich um 14:13 Uhr folgendes zu berichten: Kanzlerin Merkel sei „nach Teilnehmerangaben schwer genervt von der Debatte in der MPK. Den Vorschlag, auf Fünf-Personen-Regel zu lockern, hat sie demnach final so verhindert: „Das mache ich nicht mit.“ Angesichts der generellen Debatte wird sie so zitiert: „Bin kurz davor, aufzugeben.“

Die um die Gesundheit der Bürger besorgte Mutti kämpft mit lauter Halbstarken um einen Rest an Vernunft, das war die Botschaft. Auch wenn es epidemiologisch wohl kaum einen Unterschied macht, ob zwei oder fünf Personen einen gemeinsamen Spaziergang machen sollten. So hat sich in Berlin eine politische Epidemiologie etabliert, wo wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Angst vor dem Reputationsverlust politischer Akteure konkurrieren müssen. Immerhin war die Regionalisierung seuchenpolitischer Kompetenzen weitgehend unumstritten.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner nannte die Begründung, die sicherlich die meisten Zuschauer überzeugt hat: Warum soll ein Hotel in Emden schließen, weil in München ein infektologischer Hotspot ausgebrochen ist? Ironischerweise beruhte dieser Gedanke flächendeckender Quarantäne auf einer chinesischen Erfahrung aus dem Januar. Die Behörden hatten Angst vor einer panikartigen Fluchtwelle aus den von der Epidemie betroffenen Gebieten. Die Bilder über die von Polizei und Militär gesperrten Straßen sind noch in schlechter Erinnerung. Nur wie wahrscheinlich ist heute ein solches Szenario bei einer Krankheit, die nur in seltenen Fällen einen lebensgefährdenden Verlauf nimmt? Im Januar war das medizinisch und epidemiologisch keineswegs sicher. Zudem hat die chinesische Bevölkerung ein berechtigtes Misstrauen gegenüber den Erklärungen ihrer Behörden. Die anfänglichen Vertuschungsversuche mitten in der Reisewelle des Neujahrsfestes setzten erst eine Dynamik in Gang, die schließlich zur Abriegelung ganzer Regionen führte.

Keine von diesen Bedingungen existieren aktuell in Deutschland. Wo ist aber dann der eigentliche Konflikt zu finden? Hier war die Debatte zwischen Lauterbach und Lindner über die Politik in Schweden aufschlussreich. Die Regierung in Stockholm hatte auf die ordnungsrechtliche Verhängung von Kontaktverboten verzichtet, und damit weltweit einen Sonderweg beschritten. Für den FDP-Vorsitzenden war aber Schweden keineswegs das Modell, um vermeintliche Fehlentscheidungen der Bundesregierung aus dem März zu kritisieren. Das wäre auch wenig überzeugend gewesen: Alle im Bundestag vertretenen Parteien hatten diese Politik unterstützt. Nur ist die Bundesrepublik auf den gleichen Weg, wenn der Appell an die Disziplin der Bürger das Verbot gesellschaftlichen Lebens ersetzen wird. Lauterbach nannte dagegen das schwedische Modell mit Hinweis auf die vielen Todesfälle „unverantwortlich.“ Dort lasse man Menschen sterben, um „weiterhin im Café zu sitzen.“ Zwar wies Lindner auf eine sozialdemokratische Regierung hin, die nach dieser Logik Menschen für einen Kaffee in der Frühlingssonne sterben lassen müsste.

Solche Polemik bietet aber leider wenig Erkenntnisgewinn. Tatsächlich unterscheidet sich die schwedische Politik in einem Punkt von den anderen Modellen: Sie setzt nicht auf ungedeckte Schecks wie die Entwicklung eines Impfstoffes, sondern will die Pandemie unter Minimierung der sozialen und gesellschaftlichen Kosten ihren unvermeidbaren Lauf gehen lassen. Zudem machten sie in Schweden die gleichen Erfahrungen wie in Deutschland. Die Menschen reduzierten ihre sozialen Kontakte aus Angst vor Ansteckung. Zwar sehen wir dort die Bilder von den offenen Cafés, nur haben die ebenfalls mit Umsatzeinbußen zu kämpfen. Und die hohe Sterblichkeit in den Alten- und Pflegeheimen ist ein weltweites Phänomen. Ob Schweden schlechter abgeschnitten hat als andere Staaten, werde sich erst nach dem Ende der Pandemie ermitteln lassen, wie Lindner argumentierte. Schweden wird allerdings ebenfalls in eine schwere Rezession rutschen. Die Umsätze im Gaststättengewerbe werden daran nichts ändern.

So ist es in saturierten Wohlstandsgesellschaften zwar modisch geworden, wirtschaftspolitische Diskussionen als moralischen Defekt zu beschreiben. Es ist aber bei den meisten Politikern die Angst vor den ökonomischen Folgen zum handlungsleitenden Motiv geworden. Das wurde beim Interview mit Peter Altmaier (CDU) deutlich. Die Folgen der Aussetzung wirtschaftlicher Aktivitäten seien unterschätzt worden, so der Bundeswirtschaftsminister. Trotzdem hielt der Publizist Gabor Steingart ein Abrutschen in eine große Depression für unwahrscheinlich. Nicht zuletzt wegen der geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen. Darüber gibt es auch weitgehend Übereinstimmung. Das einst populäre Sparen zur Verbesserung der Angebotsbedingungen schlägt niemand mehr vor, und die geldpolitischen Falken sind wohl nur noch in der Ahnengalerie der Bundesbank zu finden. Mittlerweile gilt selbst die Ablehnung einer Staatsfinanzierung durch die Zentralbanken bei manchen Zeitgenossen als reaktionär. So argumentierte bei Frau Maischberger der FDP-Vorsitzende fast schon wie ein Linkskeynesianer in den 1970er Jahren.

Nur hilft das überhaupt? Altmaier beschrieb, wie das deutsche Wirtschaftsmodell von zwei Seiten unter Druck geraten sei. Tatsächlich ist die deutsche Industrie mit ihrem hohen Exportanteil schon vor dem Ausbruch der Pandemie in der Rezession gewesen. Jetzt bricht gleichzeitig in beispielloser Weise die Binnennachfrage zusammen. Die desaströsen Produktions- und Zulassungszahlen in der europäischen Autoindustrie sind nur der prominenteste Indikator für diese Entwicklung. Es trifft fast alle Branchen, auch wenn Steingart die Kursgewinne bei einigen Digital-Unternehmen an der Börse mit deren unternehmerischen Potential erklärte. An der Börse orientieren sich aber nur noch ein paar alte Männer an solchen Überlegungen, es dominiert ansonsten die Berechnung des Herdentriebs mittels Charttechnik.

Was passiert aber ökonomisch, wenn wir als Bürger in Schweden oder Deutschland unsere Verhaltensänderungen in der Pandemie gut gelernt haben? Die Geschäfte bei uns zwar wieder geöffnet sind, aber dort kaum jemand anzutreffen ist? Sollte die Angst vor dem Virus auf die unsicheren Einkommensperspektiven von zehn Millionen Kurzarbeitern treffen, brauchen nur noch wenige einen Urlaub mit eingeschränkten Komfort. Lauterbach machte eine bezeichnende Bemerkung über Restaurants und Gaststätten, die angesichts der reduzierten Sitzplätze weiterhin mit Verlusten rechnen müssten. Die meisten Unternehmen werden das bis zur Marktreife eines Impfstoffes nicht durchhalten, trotz der gerade im Bundeskabinett beschlossenen Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes auf sieben Prozent. Dann hätte sich am Ende der Pandemie ein alter Mediziner-Witz bewahrheitet: Operation gelungen, Patient tot. Aber wer einen Kaffee in der Frühlingssonne mit einem Todesurteil verwechselt, wird sich davon wohl nicht überzeugen lassen. Insofern wäre die von Johannes B. Kerner gewünschte Gelassenheit beim Leben mit dem Virus hilfreich. Sie könnte ein Desaster verhindern, wohl nicht nur in Schweden.

Quelle: FAZ.NET 7.5.2020

corona

Previous post Next post
Up