«Es war undenkbar, Philippe Pétain hinzurichten» Vor 75 Jahren musste sich Philippe Pétain, Staatsc

Jul 29, 2020 10:42

«Es war undenkbar, Philippe Pétain hinzurichten»

Vor 75 Jahren musste sich Philippe Pétain, Staatschef des Vichy-Regimes, wegen Verrats und Kollaboration mit Nazideutschland vor Gericht verantworten. Ein Gespräch mit dem Historiker Henry Rousso über die Bedeutung dieses Prozesses und darüber, dass Pétains Person bis heute Sprengkraft birgt.

NZZ Nina Belz, Paris 25.07.2020

Die letzten Julitage des Jahres 1945 sind in Paris aussergewöhnlich heiss. Die Menschen erfrischen sich an Brunnen oder springen in die Seine. Einige hundert lassen es sich aber nicht nehmen, sich trotz der brütenden Hitze in einen kleinen, übervollen Saal des Pariser Justizpalasts auf der Ile de la Cité zu drängen. Dort beginnt am 23. Juli, keine drei Monate nach der Kapitulation Nazideutschlands, der Prozess gegen Henri Philippe Pétain. Der ehemalige Staatschef des sogenannten Etat français, des Vichy-Regimes, ist des Angriffs auf die innere Sicherheit des Staates angeklagt; zudem wird ihm das «gute Einvernehmen mit dem Feind», also die Kollaboration mit Hitlerdeutschland, vorgeworfen.

Herr Rousso, welche Funktion hatte der Prozess gegen Philippe Pétain?
Er war der Höhepunkt jener Zeit, die man in Frankreich die «Säuberung» nannte. Deren Geschichte ist komplex. Sie begann vor der Befreiung Frankreichs 1944 mit Exekutionen von Kollaborateuren durch die Résistance und dauerte bis quasi Ende der 1940er Jahre. Das Hohe Gericht, das über Pétain und auch über andere Minister und Verantwortliche des Vichy-Regimes urteilte, hat seine Arbeit 1949 beendet. Pétain als Chef eines Regimes, das sich als legal und legitim ansah, musste die Verantwortung für die meisten Fehler übernehmen, die man dem Regime zur Last legte. Die Franzosen hatten auf diesen Moment gewartet. Ein Prozess ist ja auch immer ein Moment der Wahrheit, was zwar nicht heisst, dass die Wahrheit ans Licht kommt, aber dass sich die Protagonisten ausdrücken. Und für diese Zeit war dieser Moment sehr wichtig.

Kam er nicht etwas früh - kaum drei Monate nach Kriegsende?
Nein, beziehungsweise: Man darf das nicht vom 8. Mai her sehen. Die wichtigeren Ereignisse in Frankreich waren die Landung der Alliierten und die danach stetige Befreiung des Landes. Als das Hohe Gericht Ende 1944 gegründet wurde, befand sich Pétain noch in deutscher Gefangenschaft. Aber er tat alles dafür, nach Frankreich zurückzukehren, denn er wollte vor Gericht gestellt werden. Nach seiner Ankunft im April 1945 - er reiste übrigens über die Schweiz - wurde er festgenommen. Pétain war nicht der Erste, der vor das Hohe Gericht gestellt wurde. Die Säuberung, die übrigens enorme juristische, politische und soziale Probleme verursacht hatte, war im Juli 1945 bereits in vollem Gang.

Man unterscheidet die juristische von der wilden Säuberung. Besonders die sogenannte wilde Säuberung hat grosse Unruhe ausgelöst . . .
Ja, sehr sogar. Frankreich erlebte nach dem Ende der Besatzung eine gewichtige Periode des Unrechts und der Gewalt, die Spuren hinterlassen hat. Im Grossen und Ganzen hat mein Institut rund 9000 bis 10 000 Personen gezählt, die ohne Prozess exekutiert worden sind. Die meisten von ihnen waren entweder Milizionäre, Polizisten oder Mitglieder von Parteien, die kollaboriert haben. Vor allem die Massenhinrichtungen passierten vor der Befreiung, mitten im Krieg, zum Beispiel durch Milizen, die ihre eigenen Gerichte errichtet hatten. Doch das waren eher Repressionen und Vergeltung. Nach der Befreiung von Paris wurden nach und nach Instanzen eingerichtet, die da waren, um Kollaborateure zu verurteilen. Zur wilden Säuberung zählt auch das Phänomen der «femmes tondues». Man hat ihnen, denen man sexuelle Beziehungen mit Deutschen unterstellte, die Köpfe geschoren - und das Phänomen war viel verbreiteterer als zunächst angenommen. Die Säuberung ist ein sehr schwieriges Kapitel des Krieges, aber man kann sie nicht verstehen, ohne dass man bedenkt, was die Bevölkerung unter der Besatzung erlitten hat.

Inwiefern war die juristische Säuberung eine Rachejustiz?
Die Verantwortlichen eines gefallenen Regimes vor Gericht zu stellen, ist ein strukturelles Problem dessen, was man heute demokratische Transition nennt. In Frankreich gab es zudem die Herausforderung der schieren Masse: Es gab mehr als 300 000 Dossiers. Wie konnte man eine solch grosse Zahl vereinbaren mit dem Fakt, dass Richten ja nicht nur hiess, die Leute zu verurteilen, sondern auch freizusprechen? Und dann noch vor einer Magistratur, die aus dem Regime hervorgegangen war . . . Die Justiz war übrigens eine der ersten Berufsgruppen, die man gesäubert hat. Doch als jemand, der sich mit der Säuberung doch recht gründlich befasst hat, sage ich: Es hätte schlimmer sein können. Es war eine sehr strenge und relativ lange Säuberung, sie dauerte gut ein Jahrzehnt. Aber eine, die mehr oder weniger ihre Rolle erfüllt hat. In keinem europäischen Land, das als Rechtsstaat bezeichnet werden konnte, war sie ein leicht zu lösendes Problem.

Warum hat de Gaulle dafür gesorgt, dass Pétain nicht hingerichtet wurde, wie es etwa mit dem Regierungschef Pierre Laval geschah?
Es war undenkbar, Pétain hinzurichten - trotz den sehr schweren Verbrechen, deren er sich schuldig gemacht hatte. Zunächst war da sein Alter: Man exekutiert keinen 89-Jährigen; aus diesem Grund hat das Gericht selbst verlangt, dass die Strafe nicht vollstreckt wird. Einen Mann hinzurichten, der General war im Ersten Weltkrieg, ist zudem sehr schwierig. Diese zwei Gründe wiegen eigentlich schwer genug. Doch kommt hinzu, dass Pétains Hinrichtung zu einer weiteren Spaltung Frankreichs geführt hätte. Pétain war zumindest zu Beginn der Besatzung Frankreichs jemand, der viel Unterstützung hatte. Die Strafmilderung de Gaulles war ein humanitärer Akt und hatte nichts mit der Schwere der Vorwürfe gegen ihn zu tun. Wenn man den Beschluss des Gerichts liest, dann sieht man, dass die Gründe für die Verurteilung extrem schwerwiegend und zahlreich waren. Dennoch glaube ich: Die Frage, ob er exekutiert werden solle, hat sich nie wirklich gestellt.
Pétain stirbt am 23. Juli 1951, mit 95 Jahren auf der Ile d’Yeu, wo er die letzten Jahre seiner Haft in einem Privathaus verbrachte. Seinem Wunsch, im Beinhaus von Douaumont beigesetzt zu werden, wo die unbekannten Gefallenen der Schlacht von Verdun liegen, gibt die Regierung nicht statt. Pétain wird auf der Atlantikinsel begraben.

Sie haben festgestellt, dass es im Jahr von Pétains Tod ein Wiedererstarken des Pétainismus gab. Wie äusserte sich das?
Ja, das war das Jahr des ersten Amnestiegesetzes, ein zweites folgte zwei Jahre später. Im Gegensatz zur Strafminderung impliziert die Amnestie das juristische Vergessen. 1951 sind zudem vier Pétainisten in die Abgeordnetenkammer gewählt worden, unter ihnen der Anwalt Pétains, Jacques Isorni. Diese Tendenz hat sich in den Folgejahren noch verstärkt.

Ist diese Entwicklung mit dem Tod Pétains verbunden? Und ist sie nicht ein Zeichen dafür, dass die Säuberung gescheitert ist?
Ja, gescheitert ist sie mit mindestens einem ihrer Ziele, nämlich eine nationale Einheit wiederherzustellen, indem sie die Kollaboration stigmatisierte. Das hat nicht funktioniert. Der Tod Pétains hat aus ihm eine Art Märtyrer gemacht. Es gab eine Art der fast religiösen Verehrung, die schon 1940 existierte und die wiederkam. Pétain war in seiner ganzen Art ein Anti-de-Gaulle, und der Anti-de-Gaullismus ist Ende der 1950er Jahre mit dem Algerienkrieg explodiert. Schliesslich wird Pétain auch zum Symbol einer nationalen Rechten - einer nationalistischen Rechten eher -, die den Weg der Kollaboration gewählt hat, um den Kommunismus zu bekämpfen. Es war ein gewichtiges Argument der Kollaborateure zu sagen, sie hätten sich nach Deutschland orientiert, um damals schon die rote Gefahr zu bekämpfen. Das Argument ist heute noch bei manchen Exponenten der Rechten zu finden. Ihr Ziel ist es, Pétain und damit einen französischen Nationalismus zu rehabilitieren. Es wundert mich manchmal, denn man muss sagen, dass Pétain kein grosser Politiker war.

Gibt es eine Verbindung zwischen den Anhängern Pétains beziehungsweise deren Erben und der extremen Rechten der Le Pens?
Ich sehe das Rassemblement national (RN) nicht als direkten Erben des Pétainismus. Der Vater Le Pen hat noch versucht, die Verbindung herzustellen, hat es aber nicht wirklich geschafft. Seine Tochter hat ja eher die andere Richtung eingeschlagen, sie versucht sich eher ein gaullistisches Profil zu geben . . . Doch es ist irgendwie grotesk und unerträglich, wenn man die Leute vom RN sieht, wie sie Jean Moulin, eines Helden der Résistance, gedenken.

Philippe Pétain ist seit bald siebzig Jahren tot. Und doch hat er immer noch das Potenzial, Polemiken auszulösen - jüngst durch Präsident Macron, der beim Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs Pétain «einen grossen Soldaten» nannte, auch wenn er danach «unheilvolle Entscheidungen» getroffen habe. Woher diese Sprengkraft?
Die Besatzung Frankreichs war eine Zeit der sehr tiefen Spaltung, nicht nur politisch, auch sozial und in der Art, wie man den Krieg erlebt hat. Diese Teilung wird nie verschwinden. Sobald Sie Spannungen in der Politik sehen, können Sie sicher sein, dass die Erinnerung wieder hervorgeholt wird. Für mich ist die Besatzung eines der wichtigsten Ereignisse der französischen Geschichte - es hat eine epische Komponente. Frankreich, zweitstärkste Armee der Welt, wird 1940 innert weniger Wochen besiegt. Und 1945 sitzt das Land am Siegertisch. Wir wissen, warum, aber es bleibt irgendwo eine aussergewöhnliche Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.

Sie haben bei den Franzosen ab den 1980er Jahren das «Vichy-Syndrom» diagnostiziert - eine geradezu obsessive Art, sich mit den dunklen Jahren der Kollaboration zu beschäftigen. Ist Frankreich heute geheilt?
Ich weiss nicht. Vichy und Pétain bleiben explosive Themen, die Polemik auslösen können. Aber trotzdem: Das, was in den letzten dreissig Jahren passiert ist, hat die Gesamtsituation verändert. Frankreich hat viel Erinnerungsarbeit gemacht, Reparationen geleistet, seine Mitverantwortung an der Deportation der Juden anerkannt. Heute gibt es nicht mehr viele Themen, die unbesprochen sind.

NZZ 25.7.2020

geschichte, frankreich

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