Wer stellt denn seine Steuererklärung ins Netz?
Keine Geheimnisse
In Norwegen sind die Eckdaten sämtlicher privater Steuererklärungen für alle Bürger einsehbar. Das stärkt das Vertrauen in den Staat und die Steuermoral.
• Text: Matthias Hannemann
Wer in Norwegen wissen will, wie viel sein Nachbar oder sein Chef verdient, muss nur ins Internet schauen. Dort findet er die skattelistene, die Steuerlisten, die für jeden Bürger einsehbar sind. Sie enthalten neben Namen, Geburtsjahr und Wohnort drei zentrale Elemente der Steuererklärung: das steuerpflichtige Einkommen, das Netto-Vermögen sowie die Höhe der Steuern, die der jeweilige Bürger bezahlt hat. Die Listen sind über eine Website der Steuerbehörde durchsuchbar, zudem gehen sie komplett an die Medien, die daraus Ranglisten der Topverdiener im Land und den Regionen erstellen.
Sicher, das steuerpflichtige Einkommen sagt nichts über die Steuerabzüge aus, die ein Bürger geltend macht, die angegebene Summe erlaubt keine Rückschlüsse über Art und Höhe der Einnahmequellen, und das angezeigte Vermögen, das auf automatisierte Auskünfte von Banken und verschiedenen Registern wie der „Wertpapierzentrale“ zurückgeht, ist ebenfalls wenig aussagefähig - aus der Summe lassen sich weder seine Zusammensetzung noch die Höhe der Schulden ablesen.
Und trotzdem: Kann sich jemand solche Listen in Deutschland vorstellen, wo das Steuergeheimnis quasi heilig ist?
Die Norweger sind davon überzeugt, dass die skattelistene sinnvoll sind - weil sie das Vertrauen in das Steuersystem und die Steuermoral stärken. Hans Christian Holte, der Leiter der norwegischen Steuerbehörde Skatteetaten, erklärt: „Wir glauben daran, dass Transparenz zum Aufbau und Erhalt von Vertrauen beiträgt. Deshalb kann jeder Bürger wesentliche Teile der Steuererklärungen seiner Mitbürger einsehen. Jeder Norweger kann sehen, wie das Steuersystem funktioniert und Steuereinnahmen zur Gemeinschaft beitragen“.
Die Wurzeln der Offenherzigkeit reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Schon damals, in einer Gesellschaft, die vor allem aus Bauern und Fischern bestand und einen eigenen Staat aufzubauen versuchte (Norwegen zählte bis 1814 zu Dänemark, danach zu Schweden und wurde erst 1905 unabhängig), gab es öffentlich einsehbare Steuerlisten auf Papier. Sie lagen bei den Ämtern aus, sodass jedermann die eingetragenen Zahlen überprüfen und sehen konnte, dass auch die anderen bis hin zu den Amtsträgern und reicheren Bauern Steuern bezahlten.
Es war eine egalitäre, auf Gleichheit gerichtete Gesellschaft, die sich 1814 eine demokratische Verfassung gab, den Adel abschaffte und jeden skeptisch betrachtete, der aus ihr hervorragte. So ist es noch heute - geprägt von vielen Jahrzehnten, in denen sozialdemokratische Regierungen an der Macht waren und den Wohlfahrtsstaat schufen.
Schon deshalb erklären viele Norweger, wenn man sie auf die Steuerlisten anspricht, keine Probleme mit der steuerlichen Offenheit zu haben: „Ich bin mit meinem Normaleinkommen doch gar nicht interessant“, heißt es beispielsweise. Andere heben die Vorteile hervor: „Die Listen sind vor allem wichtig, damit Dinge wie Korruption, Steuerbetrug oder die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen aufgedeckt werden können.“ Im Übrigen gelte die Macht der Gewohnheit: „Mit den Steuerlisten ist es wie beim Nacktbaden. Beim ersten und zweiten Mal schaust du noch aufgeregt hin, aber dann verliert sich der Reiz.“
Hinzu kommt, dass die Norweger grundsätzlich ein positives Verhältnis zum Staat haben: Dieses Land, das seine Verfassungsfeiern als fröhlichen Kinderumzug begeht, brachte keine Diktaturen wie Deutschland hervor - der Staat wird als hilfreiches Gemeinschaftsprojekt empfunden. Diese Sicht teilen die Norweger mit ihren Nachbarländern. Auch dort setzt man in Sachen Steuern auf Transparenz. In Finnland können die Eckdaten aller Steuererklärungen an Behördenrechnern nachgeschlagen oder telefonisch erfragt werden. Auch dort schreiben die Zeitungen, sobald aktuelle Daten vorliegen, über Topverdiener und Prominente.
In Schweden, wo man sich ebenfalls per Anruf über das Einkommen anderer Leute informieren kann, gibt es außerdem - kostenpflichtige - private Dienstleister, die mit Verweis auf das „Öffentlichkeitsprinzip“ die Daten beim Staat beantragen und anschließend aufarbeiten. So kommt seit mehr als hundert Jahren der „Taxeringskalender“ heraus, in dem die Steuerdaten jeweils einer Region veröffentlicht werden. Über „Ratsit.se“ lassen sich zudem einzelne Blätter bestellen, falls man sich zum Beispiel nur für die Daten des Nachbarn interessiert. Auf der Website kann man auch sehen, wer verheiratet ist, einen Hund hat, welches Auto fährt und, über einen Link, was das Auto wert ist.
Allerdings darf man sich die Steuerlisten in Norwegen nicht als unumstritten vorstellen. Spätestens als die Zeitungen um 2001 begannen, die Papierlisten ins Internet zu heben, entwickelte sich eine jahrelange Debatte zum Sinn und Zweck des Verfahrens. „Viele Zeitungen, darunter wir, haben vollständige Listen im Netz veröffentlicht“, ließ beispielsweise im Oktober 2001 die Regionalzeitung Laagendalsposten aus Kongsberg wissen. „Dadurch kann nun jeder nach Lust und Laune nach seinem Nachbar, Ex-Mann, Kollegen oder der Schwiegermutter suchen (…) Die Steuerlisten im Internet haben die Möglichkeit der Bürger zur Kontrolle und Überwachung der Steuereinnahmen demokratischer gemacht als jemals zuvor.“
Neben den Zeitungen gehörten vor allem die Sozialdemokraten zu den Befürwortern einer umfassenden Transparenz. Sie hatten zwar Bauchschmerzen, weil mit der Veröffentlichung des Datensatzes auf den Internet-Seiten der Medien eine Kommerzialisierung der Daten einherging. Zugleich sehen sie die Listen aber bis heute auch als unerlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche Diskurse.
Kritik kam dagegen aus dem konservativen und libertären Lager, von der Datenschutzbehörde sowie dem Bund der norwegischen Steuerzahler, der von einer möglichen „Verletzung der Menschenrechtskonvention“, der Stigmatisierung von Geringverdienern und der Angst vor Kriminellen sprach, die über die Internet-Listen nach lohnenden Opfern Ausschau halten könnten.
2011 verloren die Zeitungen die Möglichkeit, die Steuerlisten als vollständig durchsuchbare Datenbank ins Netz zu setzen. Das übernahm nun die Steuerbehörde, die den Zugang auf Inhaber einer elektronischen ID beschränkte. 2014 führte eine neue Regierung aus Konservativen und Rechtspopulisten zudem eine Funktion ein, die für etwas mehr Privatsphäre sorgt. Seitdem erfährt jeder Bürger Namen, Geburtsjahr und Wohnort desjenigen, der seine Daten abruft. Die Folge: Die Zahl der Suchanfragen pro Jahr sackte von 16 Millionen auf 1,6 Millionen, die Zahl der Nutzer wurde von 926 000 Norwegern auf 440 000 mehr als halbiert. Mit Blick auf die Neuerungen 2011 und 2014 spricht „Skattedirektør“ Holte von einem Übergang von „vollständiger“ zu „kontrollierter Transparenz“.
Die Medien dürfen unterdessen weiter den gesamten Datensatz auswerten und Top-Listen daraus erstellen. Das seriöse Finanzblatt Dagens Næringsliv etwa veröffentlicht auf seiner Website Top-20- Listen für das ganze Land sowie jede Region, sortierbar nach Einkommen, gezahlter Steuer und Vermögen. Nutzer können zudem ihre eigenen Daten eingeben und in einer hübschen Wellengrafik sehen, wo sie mit ihrem Einkommen, Vermögen und ihren Steuern im Vergleich zur Gesamtbevölkerung liegen.
Einige ihrer Schlagzeilen scheinen im Sinne der demokratischen Kontrolle zu sein: „Das verdienen die Parteispitzen: Staatsminister und Arbeiterpartei-Führer Jens Stoltenberg hat das höchste Einkommen und die höchste Steuersumme unter den Parteichefs. Aber die mit dem größten Vermögen ist Liv Signe Narvarsete vom Zentrum“, titelte etwa der öffentliche Rundfunk NRK 2010. „Jens bezahlte fast keine Steuern. Der NATO-Chef hatte laut Steuerlisten rekordniedrige Einnahmen, aber das ist nicht die Wahrheit“, hieß es sechs Jahre später über Stoltenberg in Nettavisen. Aber auch zweckfreie Neugier wird befriedigt: „Das verdienen Norwegens wichtigste Blogger“, „Diese Leute trugen am stärksten zu unserer Gemeinschaft bei“, „Dies hier sind die reichsten Norweger unter 30“, „Das verdienten Norwegens Sportprofis“. Steuern als Material für die Klatschspalte.
Wissenschaftliche Studien zum Effekt der Steuerlisten sind rar. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2014 legt nahe, dass die Angst vor Öffentlichkeit Selbstständige zu einer etwas ehrlicheren Angabe ihrer Einnahmen bewegt als zu Zeiten der Papierlisten: Die Einnahmen, die Inhaber kleiner Unternehmen in ihren Steuererklärungen angaben, waren in den ersten Jahren nach 2001 um drei Prozent höher als in den Jahren zuvor („Taxes on the internet“). Ob das auch heute noch gilt, wo jede Suche vom Durchsuchten nachvollzogen werden kann, ist schwer zu sagen. Wenn man bei der Suche anonym bleiben will, kann man theoretisch auf Freunde und Bekannte und entsprechende Dienstleister zurückgreifen. Aber die Hürde ist eine andere als in den Jahren zwischen 2001 und 2014.
Behördenleiter Hans Christian Holte ist dennoch überzeugt: „Wir haben wenig Studien, aber wir sehen durchaus positive Effekte. Wir erhalten zum Beispiel viele Tipps zu etwaigen Steuervergehen, zwei- bis dreitausend im Jahr. Die dürften zum Teil mit den Steuerlisten zusammenhängen.“ Außer- dem sei das Vertrauen der Bürger ins Steuersystem tatsächlich so groß, dass seine Behörde 2015 einen Reputationspreis gewann.
Liegt das nur an den Listen? Nein, sagt Holte, das Vertrauen stamme auch von der Vereinfachung des Steuersystems seit den Neunzigerjahren: „Die Bürger bekommen mittlerweile eine ausgefüllte elektronische Steuererklärung, die auf den Daten von Arbeitgebern, Behörden und Finanzinstituten beruht. Sie müssen die Zahlen nur überprüfen, gegebenenfalls Korrekturen angeben und hinzufügen, was sich möglicherweise absetzen lässt - wie zum Beispiel der Weg zur Arbeit - oder dem System unbekannt ist, wie vorhandenes Vermögen im Ausland. „Das Ganze kommt dermaßen gut an“, sagt Holte, „dass ich mich sorge, dass die Leute zu viel Vertrauen in das System haben.“
Zu viel Vertrauen! In das Steuersystem! Das klingt wie auf einem anderen Stern. Und auch Hans Christian Holte ist skeptisch, ob das norwegische Modell woanders funktionieren würde. Er kennt die staunenden Gesichter, wenn ausländische Besucher von den skattelistene hören. Auf einer Konferenz mit britischen Parlamentariern wurde das norwegische System schon einmal umgetauft: Sie nannten es „Tax Porn“. //
brand eins 2020
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