Per Anhalter durch die Südsee Dem Traum von paradiesischen Inseln hinterher: auf Frachtschiffen unt

Jun 09, 2020 22:48

Per Anhalter durch die Südsee

Dem Traum von paradiesischen Inseln hinterher: auf Frachtschiffen unterwegs von Bora Bora nach Tahiti

Von Jochen Temsch

Bei Marlon Brando hat das ein bisschen anders ausgesehen. Als die Farbverfilmung der „Meuterei auf der Bounty“ Ende der Siebzigerjahre im Fernsehen lief, bereicherte sie meine Kindheitsfantasie an einem verregneten Samstagnachmittag in der schwäbischen Provinz mit exotischen Bildern, die ein halbes Leben lang nicht verblassen sollten. Tahiti mit seinen umliegenden Inseln: eine schöne, friedliche, fruchtbare Sphäre aus Palmen, Sand und Vulkankegeln, beschienen vom weichen Licht einer nie bewölkten Sonne, bevölkert von sanftmütigen Menschen - eine andere, sehr weit entfernte Welt. Die Matrosen der Bounty, vom grausamen Kapitän Bligh geschurigelt und von den Südseeschönheiten getröstet, wollten natürlich nicht mehr weg. Und ich, ich wollte nichts dringender als eines Tages dorthin. Der Inbegriff eines Südseeschiffes war für mich seitdem ein Dreimaster der britischen Admiralität, der mit geblähten Segeln die Wellen durchpflügt. Doch Jahre später tuckerte ein Haufen Schrott inmitten seiner schwarzen Abgaswolken in den Hafen von Bora Bora.

Vor dem grell von einer gnadenlosen Sonne ausgeleuchteten Hintergrund der schlanken Kokospalmen, des mehlweißen Sandes und des türkisfarbenen Pazifiks wirkte das Frachtschiff Vaeanu wie ein Kaffeefleck auf einer Kitschpostkarte. Das war ein echtes Frachtschiff, das Waschmaschinen, Zementsäcke und Autoteile transportierte, kein zum komfortablen Kreuzfahrtschiff umgebauter Luxusdampfer wie etwa die bei Touristen populäre Aranui 5, die mit allem Pipapo zwischen Papeete und den Marquesas verkehrt. Beulen im Rumpf, Ölflecken auf dem Hebekran, der überpinselte ehemalige Name Hamburg und atollgroße Rostflecken ließen auf eine nicht bestandene TÜV-Prüfung in Deutschland mit anschließendem Recycling im Linienbetrieb Französisch-Polynesiens kurz vor der Zeit meines Stimmbruchs schließen. „Oh Gott!“, rief Todd, mein unterwegs aufgegabelter Reisekumpel aus Colorado, „wann bekam ich eigentlich meine letzte Tetanusimpfung?“

Wir hatten uns in einer stürmischen Nacht in der Gemeinschaftsküche des einzigen Campingplatzes von Bora Bora kennengelernt. Er wollte Porridge mit Wasser zubereiten. Ich briet Schwertfisch-Steaks im Saft selbstgepflückter Limetten und in Kokosmilch, die ich unter dem blutigen Einsatz eines Schraubenziehers eigenhändig gezapft hatte. Am Nachmittag hatte ich beim Schnorcheln beobachtet, wie Fischer über eine Stunde lang mit einem kräftigen Fisch kämpften und ihn schließlich mit der Seilwinde auf ihr Boot zogen. Sie schnitten ein paar Stücke ab und reichten sie mir über die Reling. Ähnlich mühsam, wie den Fisch zu erlegen, war nun, den ängstlichen Amerikaner davon zu überzeugen, dass es durchaus „safe“ ist, im Ausland Fangfrisches in die Pfanne zu hauen - und dass es allemal besser schmeckt als pampiger Frühstücksbrei aus einer aufgeweichten Pappschachtel mit Quäker-Logo. Aber Todd war misstrauisch. Kurz zuvor war ihm eine Tasche aus dem Zelt geklaut worden - ausgerechnet auf der Millionärsinsel. Aber Geld haben dort vor allem die Touristen und die französische Beamtenelite. Ein großer Teil der polynesischen Bevölkerung bekommt nichts ab von den beiden wichtigsten Wirtschaftszweigen, Tourismus und Perlenhandel. Frankreich leistet sich die Inseln postkolonial als Überseeterritorium, pumpt riesige Geldsummen, Subventionen und Wiedergutmachung für Atombombentests, hinein. Trotzdem gibt es viel Armut und Arbeitslosigkeit. Von Anfang an hatten Todd und ich genug Gesprächsstoff über die Realität des Reisens im Vergleich zu den Mythen und Klischees.

In einem waren wir uns einig: Die Südsee ist der größte Mythos von allen. Wenn man einen Globus nimmt und Europa betrachtet, die Kugel dann eine halbe Umdrehung weiterbewegt, auf die andere Seite der Erde, dann ist alles nur noch weit und blau. Der Pazifische Ozean: im Norden Hawaii, im Süden Neuseeland, im Osten die Osterinsel - diese Landhäufchen bilden ein Dreieck, alles dazwischen ist Polynesien. Das Wort bedeutet „viele Inseln“. Und auf einer besonders kleinen, die kein Globus mehr abbilden kann, standen wir am Gasherd und verloren uns in Gedanken.

Marlon Brando hat diese Erfahrung der eigenen Nichtigkeit in seiner Biografie „Songs My Mother Taught Me“ in wunderbare Worte gefasst: „Hier bin ich nun, auf einem winzigen Fleckchen Erde mitten in einem riesigen Ozean, auf einem Planeten, der in der Mitte eines unvorstellbar großen Areals liegt, das wir Weltraum nennen, und ich schlafe auf Tierskeletten (denn nichts anderes sind Korallenriffe).“ So beschreibt er sein eigenes Atoll Tetiaroa, das er während der Dreharbeiten zur „Meuterei auf der Bounty“ entdeckte, für 99 Jahre pachtete und mit seiner auf Bora Bora geborenen Filmpartnerin und Geliebten Tarita Tumi Teriipaia bewohnte.

Nur dass so eine Landstreicherart von Übernachtung am Strand heutzutage nicht geduldet wird. Tahiti und seine Inseln sind Urlaubsorte für die Superreichen, für chilenische Großgrundbesitzer, russische Bauunternehmer oder amerikanische Broker auf Honeymoon. Kein Rundreiseziel für einen schwäbischen Fast-noch-Studenten und einen Verkäufer von Outdoorklamotten aus Denver, beide vier, fünf Wochen lang ohne Plan unterwegs von Bora Bora über Tahaa, Raiatea und Huahine nach Moorea und die Hauptinsel Tahiti. Zum Abschied wünschte mir ein Freund zu Hause: „Viel Spaß auf Diri Dari!“ Die üblichen Unterkünfte, Overwater-Bungalows für manchmal mehrere Hundert, oft aber mehr als tausend Euro pro Nacht, kamen für uns jedenfalls nicht infrage. Stattdessen suchten wir die kleinen, schattenlosen Campingplätze, die in keinem Reiseführer standen. Wir gingen irgendwo von Bord, stellten uns an die jeweils einzige Ringstraße des Eilands und hoben den Daumen, bis jemand im Pick-up hielt.

So kamen wir leicht ins Gespräch. Mit der alleinerziehenden Mutter aus Lyon, die mit ihrem kleinen Sohn auf Tahiti aussteigen und einen Job suchen wollte, ihr Geld aufgebraucht hatte und auf dem Zeltplatz gestrandet war; mit dem australischen Studentenpaar, das sich jeden Nachmittag mit einer Flasche Gin und zwei Dosen Tonic Water in die Lagune legte; mit der Polynesierin, die im Dschungel wohnte, aussah wie 50, aber erst Mitte 30 war und acht Kinder in einer primitiven Hütte zur Welt gebracht hatte. Zu essen gab es, was sich in Wald und Supermarkt fand. Mangos, Papayas, Kokosnüsse ließen sich überall reif und gratis ernten. In den Regalen kleiner Shops lagen importierte französische Spezialitäten wie Streichkäse oder Leberpastete und grüne Äpfel aus Neuseeland.

Die Hafenbüros waren in Frachtcontainern untergebracht, die meistens verschlossen in der Backofenhitze standen. Die Tahitianer waren von einer schläfrigen Gleichgültigkeit, die Todd als „polynesian paralysis“ bezeichnete. Diese äußerte sich unter anderem in der Lähmung des Sprachvermögens bis auf einzelne, kurze Antworten. Fährt ein Schiff von hier nach Huahine? Ja. Nimmt es auch Passagiere mit? Nein. Gibt es noch eine andere Möglichkeit? Ja. Und welche? Von sich aus wollte niemand eine zusammenhängende Auskunft geben. Fragen, am nächsten Morgen noch einmal fragen, warten - so vergingen die Tage. Wir saßen an den Molen, schauten aufs Meer und wurden mit der Zeit selbst ein bisschen tahitianisch. Schließlich lernten wir, eine alte Inselweisheit auf die Schifffahrpläne und überhaupt aufs Leben zu übertragen: „Die Kokosnuss wird gegessen, wenn sie vom Baum fällt.“ Das heißt: Der Frachter kommt, wenn er anlegt, und er fährt, wenn er ablegt. Vielleicht. Egal. So eilig hatten wir es nach zwei Wochen nicht mehr, die eine Fototapete aus Palmen, Sand und Meer gegen die andere auszutauschen. Waren wir eigentlich schon auf Makatea oder noch auf Mehetia? Stand die Strandbar mit dem letzten kalten Dosenbier auf Maiao oder Maupihaa?

Dann gingen wir wieder einmal an Bord und kauerten an Deck, einen Pareo untergelegt, auf Tuchfühlung mit den Ärmsten der Einheimischen, für die das Fliegen auch zu teuer war. Die Passage von Huahine nach Tahiti dauerte elf Stunden, eine Berg-und-Tal-Fahrt durch heftigen Seegang. Mal schoss der Mond wie ein Gummiball über den Himmel - es war natürlich das Schiff, das umherwirbelte -, mal war der Mond von Wolken bedeckt, alles schwarz und unsere Orientierungslosigkeit vollkommen. Die Vorstellung, hier unterzugehen und niemals gefunden zu werden, schnürte uns die Mägen zu. Am Anfang grinsten die Einheimischen über die Angst in unseren Augen, später teilten sie ihre süßen Bananen mit uns und radebrechten auf Französisch. Erst als wir am nächsten Morgen endlich ein Riff passierten und in die Lagune einfuhren, so seicht, dass wir die Rochen von Deck aus über den Grund schweben sahen, lag das Schiff wieder ruhig. Eine alte Frau mit roter Hibiskusblüte hinterm Ohr schenkte Todd zum Abschied eine verbeulte schwarze Perle und lächelte mit schadhaften Zähnen. Wir waren angekommen, in der Realität.

Seit den Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts nährten Seeleute den Mythos der Inseln. Louis Antoine de Bougainville, der Tahiti 1768 anlief, schildert den herzlichen Empfang durch die Einheimischen, ihr süßes Nichtstun, ihre blanken Brüste. Georg Forster, der als junger Naturforscher mit Captain Cook gesegelt war, notierte, wie der Anblick der Frauen, „so nackt, als die Natur sie gebildet hatte“, die Matrosen um den Verstand brachte. Die Missionare kamen etwas später, brachten lange Kleider und Krankheiten. Doch Paul Gauguin schrieb noch um 1900: „Die Zivilisation verlässt mich allmählich.“ Dabei war Tahiti längst von kolonialistischen Bürokraten durchorganisiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es gerade so verklärend weiter: Thor Heyerdahl ließ sich auf seinem Floß Kon-Tiki von der pazifischen Strömung in die Südsee treiben. Exotik und Abenteuer statt Bomben und Schützengräben - zur damaligen Zeit eine Sehnsucht weltweit. Heimkehrende GIs, die im Pazifik stationiert gewesen waren, trugen das Flair des vermeintlich paradiesischen Inseltreibens in die USA, wo es Teil der Popkultur wurde. Bars, Restaurants und Motels im Südsee-Look waren in Mode. Auch Elvis schwamm bei dem Trend mit, klampfte die Ukulele und drehte den Kinofilm „Blue Hawaii“. In der Paradies-Lyrik der Reisebranche erscheint die Südsee bis heute als idealer Ort des freien, ungezwungenen Lebens.

Das habe ich so nicht gefunden. Aber solche duftende Blumen, so ein Meer und solche Sonnenuntergänge wie in der Südsee gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Das klingt vielleicht nicht nach besonders viel. Sie gesehen haben zu dürfen, ist aber eine ganze Menge.

Süddeutsche 10.6.2020

weltreise, südsee

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