„Wikipedia-Einträge sind immer eine Baustelle“ Katherine Maher, die Chefin der Stiftung hinter dem

May 21, 2020 14:54

„Wikipedia-Einträge sind immer eine Baustelle“

Katherine Maher, die Chefin der Stiftung hinter dem Online-Lexikon, über Glaubwürdigkeit und Einträge von Männern über Männer

Interview: Kathrin Werner

Katherine Maher, 37, ist eine der mächtigsten Frauen des Internets. Die Chefin der Wikimedia-Stiftung hält Wikipedia am Laufen, eine der meistbesuchten Websites der Welt. Wikimedia hat rund 400 Mitarbeiter weltweit. Die Einträge im Online-Lexikon schreiben mehr als 200 000 Freiwillige. Maher hält alles zu-sammen. Trotzdem ist ihr deutscher Wikipedia-Eintrag gerade mal acht Sätze lang.

SZ: Frau Maher, kann man Wikipedia vertrauen?

Katherine Maher: Wikipedia ist ein guter Anfang, wenn man sich über etwas infor-mieren will. Aber wenn man eine Entschei-dung treffen will, die ernsthafte Konse-quenzen haben kann, finanziell oder per-sönlich, sollte man wahrscheinlich auch noch woanders recherchieren. Im Großen und Ganzen ist Wikipedia korrekt. Artikel zu sehr umstrittenen Themen sind qualitativ sogar noch besser. Aber Wikipedia-Einträge sind immer eine Baustelle, sie sind offen für Bearbeitungen und für Kritik. Man sollte seinen Lernprozess bei Wikipedia anfangen, aber lieber nicht beenden.

Sicher vor Fake News und Manipulation ist Wikipedia ja auch nicht.

Gerade im Vergleich zu anderen Medien-plattformen wird Wikipedia immer korrekter. Wir haben nicht die gleichen Probleme mit Fake News, vor allem weil unser Modell ein anderes ist. Damit eine Information auf Wikipedia stehen kann, muss sie belegt sein, von einer zuverlässigen Quelle. Alles kann jederzeit von anderen Wikipedia-Autoren und der Allgemeinheit überprüft werden. In einer Welt, in der die Menschen nach Informationen suchen, von denen sie wissen, woher sie kommen, ist es verständlich, dass das Vertrauen in Wikipedia steigt. Das bedeutet aber nicht, dass man jeder einzelnen Angabe trauen kann.

Die Wikipedia-Seiten zum Coronavirus sind Informationsquelle für Millionen. Hat das Ihr Verantwortungsgefühl geschärft?

Es war eine Erinnerung an die große Ver-antwortung, die Wikipedia trägt. Noch vor einem Jahr hätten wir in anderen Zusammenhängen über die Integrität von Informationen gesprochen, vor allem über Desinformation in der Politik. Heute sprechen wir über Gesundheitsinformationen, aber die Ansprüche sind die gleichen geblieben: neutraler Standpunkt, verlässliche Quellen. Wir haben uns in der Corona-Pandemie gut geschlagen, weil die Community der freiwilligen Autoren sich an Regeln halten, die wir schon etabliert hatten.

Wie viel wird Wikipedia gerade gelesen?

Es sind schon mehr als 5000 neue Artikel zu dem Thema entstanden. Schon vorher hatten wir einen zu Coronaviren allgemein, jetzt sind welche zu diesem konkreten Virus und der Erkrankung und etliche zu den sozialen und wirtschaftlichen Folgen hinzugekommen. Und wir brechen einen Leserrekord nach dem anderen. Erst waren es 575 Millionen gelesene Artikel pro Tag, dann 600 Millionen, dann 700 Millionen. Das betraf nicht nur Artikel zum Virus, sondern auch die normale Wikipedia-Nutzung stieg, weil die Menschen zu Hause und die Schulen zu waren und so weiter.

Wie verhindern Sie, dass Verschwörungs-theoretiker, Interessengruppen oder Un-ternehmen Artikel manipulieren?

Politiker zum Beispiel versuchen ständig, die Artikel über sich umzuschreiben. Das ist natürlich ein Interessenkonflikt, schließlich ist es sehr schwer, sich selbst gegenüber neutral zu sein. Die anderen Wikipedia-Bearbeiter achten darauf. Artikel über Personen des öffentlichen Lebens haben stets mehrere Bearbeiter. Wenn je-mand eine Änderung vornimmt, bekom-men alle eine Mitteilung und können sie prüfen. So etwas passiert hundert, wenn nicht tausend Mal pro Tag, auf den Seiten von Politikern, Parteien oder Firmen. Wir machen das gut, auch wenn man natürlich Beispiele finden kann, wo es nicht so rundlief. Wenn es um sehr prominente Menschen wie Angela Merkel oder um heiß debattierte Themen wie Wahlen geht, schützen wir die Seiten, sodass sie nur Menschen bearbeiten können, die schon länger und zuverlässig für uns schreiben.

Gibt es nicht einen Konflikt zwischen dem Wunsch nach Transparenz und der Ano-nymität der Wikipedia-Autoren?

Das hat sich nicht gezeigt. Wir erlauben den Bearbeitern, unter einem Pseudonym zu schreiben. Alle ihre Bearbeitungen sind aber mit ihrem Profil verknüpft. Wir inte-ressieren uns mehr für die Qualität der Ar-beit als für die Identität. Wer gute Arbeit macht, kann dann zum Beispiel auch an dem Angela-Merkel-Artikel mitschreiben.

Wo steht die Community politisch? Es gibt ja immer wieder Vorwürfe, sie sei zu links oder rechts. Je nachdem, wen man fragt.

Die Ländergruppen haben verschiedene Persönlichkeiten. Was in dem einen Land als links gilt, wirkt in anderen mittig oder gar konservativ. Wikipedia fühlt sich über-all wissenschaftlicher Sorgfalt verpflichtet und auch gewissen Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit. Mancherorts gilt das ja als politisches Statement.

Wikimedia sitzt direkt in San Francisco, ganz in der Nähe der großen Tech-Konzerne. Und die geben Ihnen Millionenspenden. Wie bleiben Sie unabhängig?

Unabhängigkeit ist tief in der Community verwurzelt. Es gibt eine Feuerschutzwand zwischen dem redaktionellen Prozess und dem Teil, den wir als Stiftung machen, also die Sites zu betreiben und die Communi-tys zu betreuen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht beeinflussen, was die Community schreibt, ob es nun um Tech-Firmen oder um Kunst geht. Außerdem arbeiten 70 Prozent unserer Mitarbeiter sowieso nicht in San Francisco, sondern rund um die Welt. Es war uns immer wichtig, eine Organisation mit einer globalen Perspektive zu sein, nicht mit einer Silicon-Valley-Perspektive. Die Spenden der Tech-Firmen stammen übrigens hauptsächlich von sogenannten Matching-Aktionen. Wenn ein Mitarbeiter einer der Tech-Firmen 25 Dollar spendet, schießt der Arbeitgeber 25 Dollar zu. Und sie machen noch nicht einmal fünf Prozent unseres Gesamtbudgets aus. Wenn es je eine Abhängigkeit von einem Großspender gäbe, würden wir unsere Fundraising-Strategie überprüfen.

Wie wird sich Ihre finanzielle Lage jetzt in der Rezession entwickeln?

Zwischen 80 und 85 Prozent unserer Ein-nahmen kommen von Kleinspendern, die Durchschnittsspende liegt bei 15 Dollar. Deshalb fühlen wir uns auch einzig gegen-über unseren Nutzern verpflichtet. So wie jede andere gemeinnützige Organisation denken wir jetzt darüber nach, wie es fi-nanziell weitergehen wird. Wir erwarten einen Spendeneinbruch weltweit und prü-fen gerade, wie wir unsere Kosten senken und gleichzeitig dafür sorgen können, dass die Website weiterläuft.

Die Hälfte der Wikimedia-Führungsfiguren sind Frauen. Warum?

Wir heuern sehr bewusst an. Die Qualität der Führungskräfte steigt, wenn man auf-merksam für Talente ist, die nicht genauso aussehen wie eine stereotype Führungs-kraft - egal, welches Geschlecht, Hautfarbe oder sonstigen Hintergrund sie haben. Sie bringen verschiedene Blickwinkel mit und die machen die Organisation stärker.

Ihr eigener Lebenslauf führte auch nicht direkt an die Spitze einer IT-Plattform.

Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich mal in dieser Position lande, hätte ich keine Ahnung gehabt, worüber er oder sie überhaupt spricht. Mein Lebensweg war nicht geradlinig. Ich habe in Ägypten und Syrien gelebt, Arabisch gelernt und dachte, ich würde Professorin werden. Aber meine Interessensgebiete haben sich mit der Zeit erweitert. Nach der Uni habe ich in der Entwicklungshilfe gearbeitet und mich mit Menschenrechten und Demokratie-Arbeit beschäftigt. Das hat mich zu Wikipedia geführt. Zu Wikipedia bin ich nicht gekommen, um Chefin zu werden, sondern weil es mir um die Sache geht.

Frauen scheint es oft eher um die Sache zu gehen als um Geld oder Status. Bei Face-book könnten Sie sicher mehr verdienen.

Ich weiß nicht, ob das zwangsläufig etwas Weibliches ist. Aber es stimmt, dass Frauen oft so sozialisiert sind, dass sie andere Dinge anstreben als Männer. Man muss sie zum Beispiel oft zehnmal fragen, bis sie zugeben, dass sie gern Chefin werden wür-den. Und die Gesellschaft honoriert andere Dinge an Frauen als an Männern. In ge-meinnützigen Organisationen bekommen Frauen mehr Platz, erfolgreich zu sein, als in der Privatwirtschaft, die immer noch sehr männlich sozialisiert ist und weibli-chem Erfolg feindlich gegenübersteht.

Die Wikimedia-Führung unterscheidet sich da sehr von der Wikipedia-Community. Die ist in überwältigender Mehrheit männlich und weiß. Ist das nicht gefährlich, weil sie nur einen kleinen Teil der Welt widerspiegelt?

Das ist eines der großen Themen. Es gibt Voreingenommenheiten auf Wikipedia. Und zwar nicht nur in den Sachen, die ge-schrieben werden, sondern auch sehr in denen, über die nicht geschrieben wird. Je nach Sprache gibt es drei- bis fünfmal so viele Biografien über Männer wie über Frauen. Sogar in Artikeln, die eigentlich keinen Genderbezug haben, etwa über die Geschichte von München oder San Francisco, kommen Männer überproportional vor, manchmal sogar ausschließlich. Über die ganze Geschichte hinweg wurden die Rollen von Frauen kleingemacht und wurde über ihre Beiträge nicht berichtet. Wikipedia hat eine große Verantwortung, mit unseren eigenen Vorurteilen umzugehen, ist aber auch ein Spiegel der Vorurteile, die in den Sekundärquellen stecken, aus denen sich Wikipedia speist. Und es betrifft nicht nur Frauen, auch Themen über Europa, Nordamerika und Ideen, die von Natur aus westlich sind, sind überrepräsentiert.

Was tun Sie, um diverser zu werden?

Die Sache mit den Männern liegt zum Teil an Wikipedia selbst und zum Teil an der Ge-sellschaft allgemein. Frauen haben zum Beispiel weniger freie Zeit. Die Art und Weise, wie Artikel in der Wikipedia-Community belohnt werden und wie kontrovers über Änderungen diskutiert wird, zieht eher Männer an. Frauen tendieren dazu, in Teams zu arbeiten. Wir versuchen, mehr Anleitung zu geben und konkreter zu erklären, welchen übergeordneten Wert die Beiträge haben. Wir arbeiten dafür an unserer Software und an der Kultur.

Es ist zusätzlich wichtig, weil künstliche Intelligenz mit Wikipedia gefüttert wird.

Das macht mir Sorgen. Wenn Voreingenommenheiten in den Datensätzen sind, werden sie in der selbstlernenden Technik vervielfältigt, die auf ihnen beruht. Wenn nur 20 Prozent der Biografien Frauen behandeln, droht die falsche Verknüpfung, dass Frauen nur 20 Prozent der Entdeckungen, Erfindungen und Ideen beigetragen haben. Wenn man Vorurteile auf Wikipedia findet, kann man sie einfach beheben. Man kann als einzelner Nutzer aber nicht den Algorithmus einer künstlichen Intelligenz ändern. Wir arbeiten hart daran, zusammen mit KI-Experten weltweit.

Schreiben Sie eigentlich selbst manchmal Wikipedia-Einträge?

Ich habe kleinere Biografien von Frauen bearbeitet. Für eine komplette fehlt mir leider gerade die Zeit. Das ist befriedigende Arbeit, ein bisschen wie ein Puzzle, aber auch sehr aufwendig. Und am Ende des Tages gehe ich auch gern raus, schaue in die Sonne und vertrete mir die Füße, bevor es am nächsten Tag von vorn losgeht.

Katherine Maher, 37, steht der Wikimedia-Stiftung seit Juni 2016 vor. Vorher war sie deren Kommunikationschefin und arbeitete bei verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, darunter Unicef. Ihren Namen spricht man „Mar“ aus.

Süddeutsche 18.5.2020

wikipedia, mb

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