„Ich muss immer Geld bei mir haben“ Abbas Khider war im Gefängnis, floh aus dem Irak, studierte Hei

Apr 16, 2020 23:15

„Ich muss immer Geld bei mir haben“

Abbas Khider war im Gefängnis, floh aus dem Irak, studierte Heidegger in Deutschland. Er erzählt, wie er sich mit Jobs auf Baustellen in Libyen durchschlug und warum er zwanghaft Bares in der Hosentasche trägt

Interview: Christian Mayer
und Nakissa Salavati

Eigentlich sollte Abbas Khider auf Lesereise sein. Kürzlich ist sein neuer Roman „Palast der Miserablen“ erschienen (Hanser Verlag), eine Geschichte über eine abenteuerliche Jugend in Bagdad. Aber die Zeiten sind schwierig, auch für preisgekrönte Schriftsteller wie ihn. Am Telefon klingt der 47-Jährige, der in Berlin lebt, als müsse man das Leben und seine Tücken nicht allzu ernst nehmen, selbst wenn es für ihn oft ernst war. Daher klingt es auch dann nicht düster, wenn er erzählt, wie er mit 20 Dollar Startgeld seinen Weg nach Europa antrat.

SZ: Abbas Khider, reden wir über Geld. Sie haben gerade einen neuen Roman herausgebracht, wollten auf Lesereise gehen. Bekommen Sie jetzt einen Lohn?

Abbas Khider: Natürlich nicht.

Was hätten Sie verdient - ohne Corona?

Ich hatte 24 Lesungen geplant, da hätte ich etwa 10 000 bis 12 000 Euro erhalten, die für ein Jahr reichen müssen. Das fällt jetzt weg, ich lebe von meinen Ersparnissen.

Und das geht?

Ich habe das Glück, dass ich bereits eine Leserschaft habe, ich habe keine Brotsorgen. Ich schlafe, mein Bauch ist voll. Wissen Sie: Als Autor hat man nie absolute Sicherheit. Ich kann und will nichts anderes machen.

Na ja, wenn man die Känguru-Chroniken Teil V schreibt, hat man schon Sicherheit. Aber Sie schreiben immer eine völlig neue Geschichte ...

Bei mir ist es so: Ich will nicht nur inhaltlich, sondern auch formell jedes Mal etwas Neues machen. Das gibt mir Lebendigkeit. Wenn ich dieses Gefühl nicht habe, kann ich nicht schreiben.

In Ihrem neuen Buch „Palast der Miserablen“ erfährt man viel über eine Jugend in den Achtzigerjahren im Irak. Das klingt sehr nach Ihrer Geschichte. Können Sie das trennen?

Das ist sehr schwierig. Ich arbeite immer mit Erfahrungen, die ich gemacht habe, schreibe über Menschen, die ich kenne. Andererseits ist die Hauptfigur im Roman eine ganz andere Person als ich. Durch die Augen dieser Figur habe ich die Geschichte des Irak komplett neu kennengelernt. Historische Ereignisse, Kriege und Aufstände, die Finanzkrise in den Neunzigern sind genau so passiert, aber ich begreife sie durch die Hauptperson neu. Ich werde durch diese Beschreibungen verletzlich, ziehe meine Haut ab. Am Ende kann ich nicht trennen, was autobiografisch ist und was nicht.

Sie beschreiben ein Blechviertel in Bagdad. Haben Sie diese Armut auch erlebt?

Wir gehörten zu den Ärmsten in Bagdad. Meine Eltern waren Analphabeten. Wir waren neun Geschwister und lebten alle in einer Dreizimmerwohnung, am Rande der Stadt, damals hieß der Teil „Saddam City“. Meine Eltern haben auf dem Basar als Dattelverkäufer gearbeitet. Sie konnten nie sparen. Sie konnten nur, das war ihnen wichtig, unseren Hunger stillen. Obwohl ich eine schlechte Beziehung zu meinem Vater hatte, weil er ein ängstlicher Mensch war und Saddam Hussein als Helden sah, bewundere ich meine Eltern. Sie wollten, dass wir die Schule und die Uni besuchen, sie wollten, dass wir erfolgreich werden. Tatsächlich sind alle Geschwister Lehrer, Akademiker, Informatiker. Wenn ich daran denke, was ich jetzt meinem Kind geben kann, hier in Deutschland, ist das unvergleichbar. Wie viel Kinderspielzeug ich in meiner Kindheit hatte!

Was hatten Sie denn?

Ich kann mich an ein Plastikauto erinnern, einen Ball und dann hat uns mein Onkel mal „Atari“ mitgebracht, eine Art Playstation.

Fühlten Sie sich als Kind arm?

Ich habe meine Familie immer als Halt empfunden, egal, ob Geld da war oder nicht. Für Kinder ist es fast egal, ob man in einem Palast oder in einer kleinen Wohnung lebt. Familie ist Zuflucht, egal, wie die Zeiten sind.

Sie hatten noch einen zweiten Halt, die Literatur. Gab es bei Ihnen zu Hause überhaupt Bücher?

Bei uns gab es nur zwei Bücher: den Koran, obwohl meine Eltern Analphabeten waren, aber das war heilig. Und den Jahresbericht der Regierung. Ich hatte eine religiöse Phase und kam in dieser Zeit zur Sprache und Literatur, war fasziniert von der Poesie und von Dramen. Durch das Lesen fühlt man sich mit anderen Menschen und Gesellschaften verbunden. Ich hatte das Gefühl, Menschen sind sich nicht fremd, die Geschichten ähneln sich! Was Victor Hugo in „Die Miserablen“ beschreibt, habe ich in meinem Viertel selbst gesehen, die Umstände waren ähnlich, Armut, Diktatur, Polizeistaat. Als junger Mann konnte ich mich im Viertel außerdem mit dem Lesen von anderen abgrenzen - einige Jungs haben mich bewundert, andere wiederum haben mich für durchgeknallt gehalten.

Woher hatten Sie die Bücher?

Es gibt in Bagdad bis heute einen Büchermarkt, dort treffen sich freitags immer die Literaturliebhaber. Darüber habe ich in meinem neuen Roman geschrieben. Schriftsteller, Künstler, Buchhändler reden dort über Bücher - das war für mich eine Entdeckung, eine Schatzkammer. Man brachte damit allerdings seine Familie in Gefahr: Wer in einer Diktatur verbotene Bücher besitzt, muss mit dem Schlimmsten rechnen, auch für sein Umfeld. In meinem Fall war das leider so.

Als Sie 19 waren, wurden Sie verhaftet und eingesperrt.

Wegen der Bücher. Außerdem habe ich Flugblätter, Gedichte von anderen Autoren und regimekritische Parolen geteilt. Ich war mit Leuten zusammen, die verbotene Literatur gelesen haben, einige von ihnen arbeiteten mit Parteien im Ausland zusammen. Deshalb landete ich im Knast. Ich saß ein Jahr, sechs Monate und vier Tage. Unter der Erde. Wegen Literatur!

In Ihrem Buch schildern Sie Folter und Haft. Kann man solche Erfahrungen überhaupt angemessen beschreiben?

Es ist sehr schwierig, darüber zu schreiben. Entweder man versucht, die Ereignisse in ihrer ganzen Grausamkeit knallhart und dokumentarisch wiederzugeben. Das ist fast ein Ding der Unmöglichkeit und seelisch ein sehr schmerzhafter Prozess. Primo Levi hat mit seinem autobiografischen Buch „Ist das ein Mensch?“ gezeigt, dass es geht. Oder aber man versucht mit Distanz, vielleicht sogar Situationskomik und Humor, diese schrecklichen Dinge zu erzählen. Einige Autoren, die Konzentrationslager oder andere Orte der Gefangenschaft erlebt haben, haben es auf diese Weise versucht. Und wissen Sie was? Viele aus der ersten Gruppe, die harten Realisten unter diesen Autoren, wählten irgendwann den Freitod. Die anderen, die in Erzählungen eher auf Humor vertrauen, haben eine höhere Lebenserwartung, sie werden alt mit ihren Geschichten.

Sie haben sich als Schriftsteller für die zweite Variante entschieden. Sie erzählen vom Leben und den Überlebenden.

Ja, das ist eine Überlebensstrategie.

Sie waren nach Ihrer Flucht aus dem Irak in vielen Ländern, ehe Sie nach Deutschland kamen. Wie schlägt man sich da durch - ohne Geld?

Als ich den Irak 1996 verlassen habe, haben meine Geschwister für mich gesammelt. Weil sie so arm waren, haben sie gerade mal 20 Dollar zusammengekriegt. Mit diesen 20 Dollar landete ich in Jordanien - ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne Bekannte. Ich habe auf der Straße übernachtet, habe wenig gegessen, jahrelang war das so. In vielen Ländern war ich illegal, zumindest in Libyen durfte ich in den Neunzigern ohne Visum leben und arbeiten. Aber es war immer gefährlich.

Mit welchen Jobs haben Sie überlebt?

Bäcker, Reinigungskraft und Verkäufer in einem Basar, auch viel auf der Baustelle, das war am besten bezahlt: Mit der Arbeit einer Woche konnte man drei Wochen überleben, auch wenn man fix und fertig war. Mit diesem Geld versuchte ich durchzuhalten. Das ist ein harter Kampf, es geht immer nur um den nächsten Schritt, es gab ja auch keine Wahl, man braucht Geld, um zu überleben. Wohin soll man auch gehen? Man ist entwurzelt, und wenn es in einer anderen Stadt einen Job gibt, geht man eben dorthin.

Sie wollten aber weg, nach Europa.

Ja. Auch Libyen war ja eine schlimme Diktatur unter Gaddafi, er hat aus dem Land eine einzige Wüste gemacht. Ich habe vier Jahre lang versucht, mich durchzuschlagen. Aber ich hatte ein Ziel: Irgendwann musst du ankommen. Ohne Ziel hätte ich es nicht geschafft.

Wie hat Sie dieser Mangel damals geprägt? Halten Sie Ihr Geld zusammen?

Wenn ich an Geld denke, weiß ich: Geld kommt und geht. Andererseits: Menschen wie ich, die große Geldsorgen hatten und Krieg erlebt haben, brauchen immer eine Sicherheit. Ist das nicht komisch? Ich muss immer Geld bei mir haben. Und wenn es nur zehn Euro sind. Es darf nicht auf einem Bankkonto liegen, nein! In der Hosentasche, bei mir. Wenn es knallt, dann habe ich was.

Sie kamen im Jahr 2000 nach Deutschland und haben mit ungeheurem Ehrgeiz und Fleiß die Sprache gelernt und ein Philosophiestudium abgeschlossen. Bildung, um zu überleben.

Ja. Wenn man weiß, was man erreicht, ist alles leichter, dadurch hat man Sicherheit, das kann eine Berufsausbildung sein oder ein Uniabschluss. Das war mir klar. Anfangs wollte ich einfach nur versuchen zu existieren, trotz der Behörden und anderer Hindernisse, die einen leicht kaputt machen können. Ich sagte mir immer: Du musst dranbleiben. Ich wollte es wenigstens versuchen.

Aber musste es unbedingt die deutsche Philosophie mit Heidegger und Nietzsche sein? Das verstehen ja auch Muttersprachler und deutsche Akademiker kaum.

Tja, es war eben das, was ich mir im Irak gewünscht hatte: Literatur und Philosophie! Wenn man plötzlich die Möglichkeit hat, sich diesen Traum zu erfüllen, entwickelt man etwas mehr Ehrgeiz. Das passiert nicht jedem, dieses Glück.

Leben in Deutschland ist nicht für alle einfach. Sie haben erzählt, wie Sie Rassismus erleben, ständig von der Polizei kontrolliert werden. Nur wenn Sie eine Zeitung oder ein Buch lesen, lässt man Sie in Ruhe. Ist Bildung ein Schutzschild?

Ich denke schon. Vor allem in Bayern ist mir das passiert mit der Polizei. Wir wissen ja, wie die Polizisten dort drauf sind. Ich habe in München studiert, und manchmal schlenderte ich bei der Uni herum - dann hält ein Auto an und Polizisten wollen meinen Ausweis sehen. Es war immer das Gleiche. Wenn ich allerdings die Süddeutsche Zeitung unterm Arm trug, ließen sie mich in Ruhe, sogar so einen ausländischen Menschen wie mich! Ich mache das seitdem routiniert, wenn Polizisten irgendwo auftauchen, sei es im Zug oder in der Öffentlichkeit. Heute kann ich darüber lachen. Aber so ist die Realität.

Kurz vor Corona gab es ein großes Thema in Deutschland, das gerade aus dem Fokus geraten ist: Die Anschläge in Halle und in Hanau haben viele Deutsche verängstigt, viele sind wütend.

Schon seit Jahren habe ich das Gefühl, dass im Land etwas nicht stimmt. Jahrelang haben wir erlebt, wie Menschen mit Worten Gewalt ausüben, androhen zu töten. Viele Intellektuelle, Künstler und auch Politiker haben solche Beschimpfungen schon erlebt, es gab schwarze Listen mit angeblichen Feinden des Volkes - und nichts ist passiert, als ob man das Ganze ignorieren und verdrängen will, als ob man es nicht wahrnehmen möchte. Ich lebte in vielen Ländern und ich weiß, wie Fanatiker und Faschisten ticken. Ich weiß auch, was eine schwarze Liste bedeutet. Seit Jahren wussten wir, dass es irgendwann knallt. Ich war nicht überrascht, als die Attentate in Hanau, Halle oder Kassel verübt wurden.

Sie sind seit 2007 deutscher Staatsbürger.

Wie fühlt sich das an, ein neuer Pass?

Dieser deutsche Pass gab mir ein Gefühl von Freiheit, ich wurde ein anderer Mensch, mit einem anderen Status. Es ist unbeschreiblich, es hat weder mit Glück oder Freude, auch nichts mit nationalen Gefühlen oder Zugehörigkeit zu tun. Zuvor hatte ich in Deutschland diesen blauen Asyl-Pass, damit war ich sehr eingeschränkt. Mit dem deutschen Pass kann ich mich frei bewegen. Wie oft in meinem Leben stand ich vor Botschaften und Konsulaten, in Libyen, Tunesien, später auch in der Türkei. Wenn ich das alles zusammenrechne, die ganze Zeit, die ich mit Warten verbracht habe, wie oft ich vertröstet oder weggeschickt oder wie Dreck behandelt wurde!

Sie haben sich die deutsche Sprache angeeignet, sie vielleicht sogar regelrecht bezwungen. Wie wichtig war das, um in Deutschland anzukommen?

Man wohnt ja nicht in einem Land; man wohnt in einer Sprache. Für mich ist Schreiben tatsächlich leichter als Reden. Wenn ich schreibe, kann ich mit der Sprache machen, was ich will, ich kann einen Satz auch wieder ändern, ich kann, mit etwas Zeit, eine Seite perfekt gestalten. Sprache ist nicht nur ein Schlüssel zu einer Gesellschaft, sie ist auch eine Macht. Man kann sich, wenn man das Handwerk der Sprache beherrscht, auch gegen Übergriffe wehren, man kann Sprache nutzen, um anderen zu helfen, die etwas Ähnliches erlebt haben wie man selbst.

Das klingt selbstbewusst.

Die deutsche Sprache hat mir unendlich viele Türen geöffnet. Das spielt in meinem Leben eine große Rolle. All die Menschen, die nie die Möglichkeit gehabt haben, ihre Geschichten zu erzählen, die nie das Glück hatten, dass jemand ihre Stimme hört, haben es viel schwerer. Ich bin einer von ihnen - eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Ich hätte in einem der Kriege im Irak sterben können, im Gefängnis oder auf der Flucht. Aber jetzt bin ich hier. Mein Leben ist wie ein Geschenk, und davon kann ich etwas abgeben, in Form von Geschichten. Das ist vielleicht naiv, aber die deutsche Sprache hat mir das möglich gemacht.

Süddeutsche 17..4.2020

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