Apr 08, 2020 19:29
„Er geht immer bis zur Kante“
Ludwig van Beethoven prägte den Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim wie kein anderer Komponist. Ein Gespräch über eine große Leidenschaft, die man jetzt wieder übers Internet erleben kann
Interview: Julia Spinola
Kaum ein Musiker hat sich so lange und intensiv mit Beethoven auseinandergesetzt wie der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim. In seiner Berliner Stadtvilla genießt er zurzeit die verordnete Ruhepause, spielt ausgiebig Klavier und spricht über sein Leben mit Beethoven. Vom 9. bis zum 13. April kann man Barenboims Zyklus sämtlicher Symphonien in einer Aufführung mit dem West Eastern Divan Orchestra über die Website des Boulez-Saals verfolgen. Am 10., 19. und 24. April wird Barenboim im Boulez-Saal in Solo-Recitals unter anderem Beethovens „Diabelli-Variationen“ spielen. Die Konzerte sind per Live-Stream zu erleben.(www.boulezsaal.de/de/intermission)
SZ: Sie sind ein Künstler, der niemals ruht. Wie kommen Sie mit der aktuellen Situation der Ausgangsbeschränkungen zurecht?
Daniel Barenboim: Das ist ein Irrtum. Es gibt Menschen, die denken, dass ich mich unentwegt zum Arbeiten zwinge, aber das stimmt gar nicht. Musik ist einfach der wichtigste Teil meines Lebens. Wenn Musik Alkohol wäre, wäre ich jeden Tag betrunken. Ich komme sehr gut damit zurecht, zu Hause zu sein. Ich spiele viel Klavier und genieße es, Zeit für Stücke zu haben, die ich lange nicht gespielt habe. Beethovens „Diabelli-Variationen“ zum Beispiel hatte ich zwanzig Jahre lang nicht gespielt. Nun konnte ich mich wieder intensiv mit ihnen beschäftigen. Es war geplant, dass ich sie diesen Sommer bei den Salzburger Festspielen aufführe. Wer weiß, ob es dazu kommen kann.
Kann Musik den Menschen jetzt helfen, die Einsamkeit in der häuslichen Isolation zu überwinden?
Das hängt davon ab, welche Bedeutung Musik für den jeweiligen Menschen hat. Man muss Musik atmen und denken, nicht nur hören. Zu Beethovens Zeit war die Musik ein organischer Teil der Kultur. Wir wissen, was er alles gelesen und studiert hat, wie er sich politisch engagiert hat. Die Musik war damit unmittelbar verbunden, jeder Ton in Beethovens Werken ist Teil einer humanistischen Botschaft. Diese Geisteshaltung existiert heute nicht mehr. Das liegt daran, dass es keine wirkliche musikalische Erziehung mehr gibt. Man kann heute ein Kulturmensch sein, ohne einen Ton Musik zu hören.
Kann die humanistische Botschaft Beethovens auch Menschen erreichen, die nicht mit Musik aufgewachsen sind?
Natürlich, grundsätzlich schon, aber es wird immer schwieriger, weil man allerorten mit sogenannter Musik berieselt wird: in den Restaurants, in Flugzeugen, im Film, im Fernsehen. Man vergisst, dass die Grundvoraussetzung, um Musik erfahren zu können, Stille ist. Ich habe jedoch einmal ein besonderes Beispiel dafür erlebt, wie Beethovens Musik einen Menschen erreicht hat, der nicht mit ihr vertraut war. Als ich mit dem West Eastern Divan Orchestra 2011 in Katar beim Doha-Festival die „Eroica“ aufgeführt habe, wollte der damalige Emir nach dem Konzert einige Worte an das Orchester richten. Er bedankte sich für die Aufführung und sagte: „Ich bin nicht mit Musik erzogen worden und verstehe nichts von Musik. Aber heute gab mir diese Sinfonie von Beethoven das Gefühl, dass ich Zeuge einer sehr wichtigen und tiefen menschlichen Aussage geworden bin.“ Das fand ich bemerkenswert.
Beethoven spielte in der Geschichte des West Eastern Divan Orchestra von Anfang an eine wichtige Rolle. Warum?
Als das Orchester vor zwanzig Jahren gegründet wurde, hatten sechzig Prozent der Musiker noch nie in einem Orchester gespielt und zwanzig Prozent hatten noch nie ein Orchester live gehört. Die musikalische Erziehung war also sehr wichtig. Beethoven kann man nicht spielen, ohne zu denken. Fingerfertigkeit reicht ebenso wenig wie eine allgemeine Idee von Schönheit. Jeder Ton ist ein Teil einer Aussage. Die Beethoven-Sinfonien sind zentral für jedes Orchester, weil jede Sinfonie eine andere Welt darstellt. Das gilt nicht für alle Komponisten. Die vier Brahms-Sinfonien zum Beispiel sind wunderbar, aber sie kommen aus einer Welt. Die „Pastorale“ und die „Eroica“ dagegen könnten von zwei verschiedenen Komponisten sein, so unterschiedlich sind sie.
Mit gerade mal 17 Jahren haben Sie in Tel Aviv Ihren ersten Zyklus sämtlicher Beethoven-Klaviersonaten öffentlich gespielt. Wie war der Weg dorthin?
Die erste Sonate, die ich aufgeführt habe, war die Sonate in G-Dur, op. 14,2. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Etwa vier Jahre darauf spielte ich mehrere Sonaten für das amerikanische Label Westminster ein: die Pathétique, die Mondscheinsonate, die Appassionata, die Waldstein-Sonate und die Hammerklaviersonate. Heute verstehe ich, warum die Menschen damals erstaunt waren, dass ein so junger Pianist mit diesem Repertoire auftritt, aber damals war es ganz selbstverständlich für mich. Ich hatte das große Glück, einen hochintelligenten Vater zu haben, der auch mein Lehrer war. Er lehrte mich von Anfang an, in und mit der Musik zu denken. Bei uns zu Hause hat jeder Klavier gespielt oder unterrichtet. Immer, wenn es bei uns geklingelt hat, kam also jemand zur Klavierstunde. Als ich drei Jahre alt war, dachte ich daher, dass alle Menschen Klavier spielen. Die meisten Pianisten besitzen schon eine gewisse Lebenserfahrung, wenn sie beginnen, öffentlich aufzutreten. Und diese Lebenserfahrung fließt dann in die Musik ein. Ich dagegen habe zuerst von der Musik, und ganz besonders von Beethoven, gelernt und anschließend versucht, die aus der Musik gewonnenen Erfahrungen in mein Leben einzubringen. Ich bin also den umgekehrten Weg gegangen. Aber für mich war er richtig.
Was kann man aus der Musik fürs Leben lernen?
Man lernt zum Beispiel in der Musik viel darüber, wie sich Konflikte auflösen lassen. Bestimmte Spannungen, die es in der Musik gibt, brauchen Zeit und Ruhe, um sich aufzulösen. So ist es auch im Leben. Für mich war Beethoven immer einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Komponist, sowohl im Studium als auch danach. Er ist ein Symbol dafür, was Kunst ist. Er war ein unglaublich mutiger Komponist, der immer an die Grenzen gegangen ist, und darüber hinaus. Dieser Drang, bis zur Kante zu gehen, das erzeugt in seiner Musik eine ganz besondere Spannung. Bei Beethoven spüre ich auch all das, was man als Mensch nicht erleben kann, den Tod zum Beispiel. Beethovens Musik ist immer mehrdimensional, wenn sie lacht, lacht und weint sie gleichzeitig.
Welche Beethoven-Pianisten haben Sie in Ihrer Jugend beeinflusst?
Ich habe schon als Kind in Buenos Aires alle großen Pianisten gehört. Die drei wichtigsten Beethoven-Spieler waren für mich Edwin Fischer und Claudio Arrau, die ich live erlebte, und Artur Schnabel, dessen Aufnahmen ich kannte. Ich habe damals auch eine große Liebe zu Artur Rubinstein entwickelt, aber zunächst weniger auf Beethoven bezogen. In den Siebzigerjahren habe ich dann als Dirigent mit ihm und dem London Philharmonic Orchestra die Beethoven-Klavierkonzerte aufgenommen. Besonders interessant fand ich als Kind den Unterschied zwischen Edwin Fischer und Artur Schnabel. Schnabel wollte jeden einzelnen Gedanken der Sonaten artikulieren, er hat die Sonaten auf eine sehr logische Weise durchdrungen. Dagegen wirkte Fischers Beethoven-Spiel geradezu kindlich-staunend und einfach. Schnabels Aufnahmen erschien mir mit den Jahren als etwas zu kalkuliert. Aber beide haben sie mich sehr geprägt. Ich versuchte damals, die Logik von Schnabels Beethoven-Spiel nachzuvollziehen, um auf dieser Basis die Einfachheit von Fischer zu suchen. Die Synthese aus beidem war schon als Kind mein Ideal.
Wie hat sich Ihr Beethovenspiel über die Jahre verändert?
Die Veränderungen erfolgten sehr allmählich und organisch. Wir aufführenden Musiker haben eine sehr privilegierte Existenz: Jedes Mal, wenn wir ein Stück spielen, lernen wir wieder etwas Neues. Gleichzeitig müssen wir jedes Mal wieder von null anfangen, denn der Klang ist flüchtig, er ist am Ende der Aufführung verschwunden. Es ist sehr wichtig, den Notentext genau zu lesen - was oft nicht passiert - und Begründungen zu finden für das, was dort steht. Warum steht hier ein Crescendo, warum dort ein Akzent? Auch wenn wir nie wissen werden, ob unsere Antwort der Intention von Beethoven gleicht, ist entscheidend, dass wir eine Antwort finden. In einem Kurs, den ich gegeben habe, fragte ich einen jungen Pianisten einmal, warum er an einer bestimmten Stelle ein Forte spiele, obwohl die Partitur ein Piano verlangt. Er antwortete: Ich fühle es so. Ich habe ihm geantwortet, dass er dieses Recht nicht habe.
Zwischen Ihrer ersten und der zweiten Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten lag Ihre Entwicklung als Dirigent. Wie hat das Dirigieren Ihr Klavierspiel beeinflusst?
Es hat mir erlaubt, mich selbst besser zu hören. Das Dirigieren zwingt einen, sehr genau zuzuhören. So fiel mir zum Beispiel plötzlich auf, dass ich an bestimmten Stellen zu viel Pedal benutzt habe oder dass ich das Tempo an manchen Stellen unwillentlich geändert habe. Das Dirigieren trainiert das Ohr ungemein.
Welchen Stellenwert haben die Klaviersonaten in Beethovens Gesamtwerk?
Im Œuvre aller Komponisten, die für mehrere Gattungen komponiert haben, gibt es eine, die für sie wie eine Art Tagebuch funktionierte. Bei Mozart sind es die Klavierkonzerte und die Da-Ponte-Opern. Bei Beethoven sind es die Klaviersonaten und die Streichquartette. Dort war er total offen und hat sich am natürlichsten ausgedrückt.
Und wie würden Sie die Entwicklung innerhalb der Sonaten skizzieren? Beethoven fängt ja an wie Haydn …
Ja, aber Achtung: Schon in der 3. Sonate blickt der langsame Satz sehr weit nach vorn, bis hin zu den letzten Klaviersonaten. Und auch der langsame Satz der 4. Sonate könnte aus der späten Schaffensperiode stammen. Die frühen Sonaten haben oft eine wunderbare Virtuosität im besten, also nicht oberflächlichen Sinne des Wortes. In der Sonate op. 10,3 ist wieder der langsame Satz ein Wunder: Da erklingt der Tristan-Akkord, unglaublich, noch im 18. Jahrhundert! In Berlin habe ich die Sonaten gerade zum ersten Mal in chronologischer Reihenfolge gespielt. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Im Wiener Musikverein werde ich sie so spielen, dass man an jedem Abend einen Eindruck des gesamten Beethoven bekommen kann. Sonaten aus allen drei Schaffensperioden werden in den Konzerten jeweils kombiniert.
Welche Sonate stellt pianistisch und musikalisch die größten Anforderungen?
Die Schwierigkeiten sind sehr unterschiedlich. Manch eine der frühen Sonaten ist spieltechnisch wirklich anspruchsvoll: op. 2,3 zum Beispiel oder op. 10,3. Aber die Hammerklaviersonate bleibt natürlich in jeder Hinsicht eine Ausnahme, allein schon durch die Länge. Der langsame Satz dauert mehr als 20 Minuten, und man muss ihn sehr strategisch aufbauen, um die Spannung zu halten - so wie Wilhelm Furtwängler einmal sagte, dass man beim Spielen des ersten Akkordes immer den letzten schon hören müsse.
Wie ist Ihre Einstellung zu den Metronomzahlen der Hammerklaviersonate?
Das Tempo ist vielleicht die allerwichtigste Entscheidung, die ein Musiker treffen kann, aber es muss die letzte sein. Es gibt eine schöne Anekdote von Furtwängler: Sergiu Celibidache sprach ihn nach einer gemeinsamen Tournee darauf an, warum er die fünfte Beethoven-Symphonie an unterschiedlichen Abenden in völlig unterschiedlichen Tempi dirigiert habe. Und Furtwängler antwortete ihm: Natürlich, je nachdem, wie es klingt! Tatsächlich muss man in einer sehr trockenen Akustik schneller spielen als in einer Kathedrale. Daher kann das Metronom nur eine Idee geben. Bei fast allen Komponisten sind die Metronomangaben ohnehin zu schnell, weil sie entstanden, bevor sie das Werk gehört hatten. Pierre Boulez sagte mir einmal: Wenn ich komponiere, koche ich mit Wasser. Wenn ich dirigiere, koche ich mit Feuer.
Welche Beethoven-Dirigenten haben Sie besonders geprägt?
Das war Wilhelm Furtwängler. Ich habe ihm vorgespielt, als ich 11 war, und durfte seine Proben zu „Don Giovanni“ besuchen. 1954 habe ich dann in Salzburg ein bis heute unvergessenes Beethoven-Konzert von Furtwängler gehört mit der 8. Sinfonie, der Großen Fuge und der 7. Sinfonie. Das hatte eine ungeheure Intensität. Ich hatte so etwas noch nie davor gehört - und danach auch nicht. Es gab bei Furtwängler ein Zusammenspiel von Denken, Analysieren und Emotion wie bei keinem anderen Dirigenten. Die Freiheiten, die er sich genommen hat und für die er gelegentlich auch kritisiert worden ist, kamen bei ihm aus einer strukturellen Überzeugung. Das ist für mich das Modell geblieben. Vor vielen Jahren habe ich einmal mit Carlo Maria Giulini darüber gesprochen. Er sagte diesen wunderbaren Satz: Furtwängler symbolisiere für ihn sämtliche der besten Eigenschaften des Musizierens.
Süddeutsche 9.4.2020
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