Lied vom Stempeln

Feb 23, 2016 21:45


Wenn ich morgens aus dem Hauptgebäude durch den kurzen unterirdischen Gang in den Nebentrakt gehe, dort im Treppenhaus in den ersten Stock hinaufsteige und meinen Chip vor das elektronische Türschloss halte, um die Bürotür zu öffnen, höre ich aus der Küche schräg gegenüber oft den Eierkocher und das regelmäßige typische Klacken, das entsteht, wenn man Käsescheiben schneidet und das Messer auf das Schneidbrettchen knallt. Der Kollege und ich nicken nur kurz, wenn ich hinübergehe, um den zweiten Kaffee des Tages in der Bialetti-Maschine zu machen. Zwischendurch kocht das Teewasser einer dritten Kollegin, manchmal wische ich die Brotkrümel von der Anrichte, wenn ich den Espressokocher säubere.



Mittags bin ich einer von vielen, die das Gebäude nicht verlassen, um die die Kantine des Max-Planck-Instituts hinüberzugehen. Viel zu selten nehme ich mir Essen von zu Hause mit ins Büro, in der Regel gehe ich gegen 11 Uhr hinüber in die Mathematik-Fakultät, um mein Mittagessen zu kaufen, das ich dann allein esse und doch zusammen mit den anderen Kollegen, jeder für sich in seinem Büro.

Nicht selten wird es gegen 18 Uhr noch einmal unruhig. Schneideräusche aus der Küche, ein vorgezogenes Abendessen vielleicht, ein letztes Obst vor dem Heimweg; jetzt hat es niemand mehr eilig. Was man im Büro isst, muss man zu Hause nicht essen.



Der perfide Grund für dieses Verhalten: Wir stempeln. Wir werden für Anwesenheit bezahlt; der großindustrielle Geist des neunzehnten Jahrhunderts weht durch die Flure. Es zählt nicht das Ergebnis, hier zählt der Luftverbrauch im Büro. Hätte ich keine Familie, ich würde auch in den Fluchten hinter der Stechuhr leben. Frühstück und Abendessen, wie die alleinstehenden Kollegen. Dafür wird man schließlich bezahlt. Hier zählt nicht das Erreichte, hier zählt nicht, ob man schneller gearbeitet hat oder mehr Dinge gemacht. Ich habe eine Familie. Ich mache Minusstunden.

Hier zählt nur die Differenz aus zwei Spalten in einer großen Tabelle - hier zählt jede einzelne Zeile.
Es macht mich wahnsinnig. Es verdirbt mir all das, was mir gefällt.



Manchmal arbeite ich Abends noch ein paar Stunden zu Haus. Dann trage ich Arbeitszeiten in die Tabelle ein, die niemand nachvollziehen, niemand kontrollieren kann. Das Stempeln ist lächerlich sinnlos, ein greller schmerzhafter Schwachsinn.
Es macht mich wahnsinnig. Trotz allem.
Vielleicht ist das gewollt.
Ich will das nicht.

(Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf fallenbeck.com.)
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