Titel: Die Geschichte von Sankt Martin und der Ziege
Autor: kuroari
Kategorien: ff25 (zweite Runde), Prompt 11 „St.Martin"
Fandom: Disneys Der Glöckner von Notre Dame
Word Count: 13.081
Hauptcharaktere: Clopin, Esmeralda, Frollo
Genre: Genfic
Alterseinstufung: G
Disclaimer: „Der Glöckner von Notre Dame/Notre Dame de Paris“ gehört Victor Hugo, die Rechte an den Figuren in der Form wie sie in dieser Geschichte auftreten gehören Disney.
Anmerkung: Das hier ist Teil 1, weil die Geschichte für LJ zu lang war, eigentlich ist es nämlich ein Oneshot ^^". Teil 2 poste ich direkt dahinter. Sonst: Vielen Dank - wie immer - an meine Betaleserin Duchess. Diese Geschichte hier spielt 12 Jahre vor dem eigentlichen Film und geht anhand eines Beispiels ein wenig darauf ein wie Clopin es eigentlich geschafft hat, sich an die Spitze der Zigeuner zu setzen =)
Inhalt: Frollo hat den Bürgern verboten, einen anderen Martinszug als demseinen zu bilden und den Zigeunern ist es untersagt, während des Martinstages auch nur den großen Zeh auf die Straße zu setzen. Aber Clopin Trouillefou, ein junger Zigeuner, der gerade erst mit seiner Gruppe in Paris angekommen ist, will sich nicht einsperren lassen, und mit der Hilfe eines neuen Freundes, seinem Zögling Esmeralda, ein paar mutigen Zigeunern und einer Ziege stellt er einen eigenen Martinszug auf die Beine.
Graue Wolken ballten sich wie hohe Türme vor dem Himmel über Paris, der sich an diesem Abend früh dunkel verfärbte; der Spätherbst hielt die Stadt fest im Griff. Eisige Windböen hatte den ganzen Tag staubfeinen Nieselregen gegen die dreckigen Hauswände gedrückt und diesen wie jeden Morgen versteckte dichter Nebel die Türme der unzähligen Glockentürme und natürlich die der Kathedrale Notre Dame, der schönsten und mächtigsten aller Kathedralen von Paris. Doch selbst Notre Dame de Paris selbst sah so schmutzig braun und grau wie der Rest der Stadt aus im Zwielicht der anbrechenden Nacht.
Nun war Paris ohnehin nie eine besonders farbenfrohe Stadt. Doch an diesem Abend, dem des elften Novembers des Jahres 1470, fehlten selbst die kleinen bunten Punkte, die man auf den Marktplätzen stehend oder in den Seitengassen hin- und herhuschend so gut beobachten konnte, weil sie sich so wunderbar vom Rest abhoben, wenn man - wie beispielsweise der damals achtjährige Quasimodo, der im Glockenturm von Notre Dame wohnte - die Stadt aus der Vogelperspektive betrachtete. Dafür liefen nun, als der Regen für einen Moment aufgehört hatte, hektisch Soldaten und Novizen mit Fackeln in den Händen herum, kleine Glühwürmchen, die sich auf dem Weg zum Justizpalast immer wieder beinahe gegenseitig überrannten. Von dort aus startete der Martinszug, angeführt vom hochehrwürdigen Richter Claude Frollo höchstpersönlich. Dieser Zug würde dann einen verschlungenen Weg über einige große Uferstraßen und Brücken nehmen, um schließlich vor den Toren von Notre Dame zu enden. Derart wollten also die Bürger von Paris als aufrichtige Leute Gottes den barmherzigen Martin von Tours und mit ihm den Feiertag aller Armen, Unterdrückten und vom Glück verlassenen feiern. Das heißt, so wollte Frollo, dass die Bürger es wollten und hatte deshalb wie bei jedem Feiertag jegliche Arten von Festen und, beim Martinstag wichtig, anderen Umzügen außer dem von ihm selbst angeführten unter hohe Strafe stellen und verbieten lassen. Selbstverständlich hatte Frollo zuvor auch eine Sonderregelung ausgesetzt, dass jeder Zigeuner der and diesem Abend auch nur einen Fuß auf die Straße setzte sofort in den Kerkern des Justizpalastes sein Ende finden sollte, was das Fehlen von Quasimodos bunten Punkten erklärte.
Die Zigeuner waren als an diesem einzigen wie für sie geschaffenem Feiertag aus dem Antlitz von Paris verbannt worden und da man sie auf den Gehsteigen nicht sehen wollte, versteckten sie sich darunter. In den alten Katakomben, wo sich, gleich den Häusern, die die Pariser Straßen säumten, die Knochen der Pesttoten vom schlammigen Wasser am Boden bis unter die steinerne Gewölbedecke stapelten, lag der Hof der Wunder. Dieser riesige Raum, ehemals Staustelle für Dreck und Abwässer, war mehr schlecht als recht trockengelegt. Doch die Zigeuner hatten die tristen, glitschigen Steine mit bunten Tüchern behangen, ihre bemalten Wohnwagen hineingeschoben und ihn so zu ihrem zu Hause erklärt.
An diesem Abend, an dem sie sich gezwungenermaßen alle gleichzeitig dort befanden, war es so laut im riesigen Raum des Hofes der Wunder, dass die Ratten und anderes, weniger appetitliches Ungeziefer erschrocken in die feuchten Gänge flüchtete. Von überall waren Stimmen, die in unendlich vielen Sprachen und Dialekten sprachen, zu hören, sie prallten an den Wänden ab und vermischten sich zu einem Summen, dem in einem vom Bären attackierten Bienenstock nicht unähnlich. Dabei war es nicht so sehr die Menge der Zigeuner, die die angespannte Stimmung auslöste - vier- bis fünfhundert Menschen waren es lediglich, und in dem Gewölbe fanden sie ausreichend Platz -, sondern die aufgezwungene Gefangenschaft, die alle so nervös machte und den ganzen Hof der Wunder in ein Pulverfass mit schwelender Lunte verwandelte.
In einer Ecke nahe der großen Torflügel, dem Hauptaus- und Eingang, hatte sich eine Gruppe von Zigeunern gesammelt, die diese Anspannung in einer heftigen Diskussion entlud. Einer von ihnen, ein Mann mit kohleschwarzen Haaren, die bis zur Schulter reichten und ihm außerdem noch unter dem Rand des mit roter Feder und breiter Krempe ausgestattetem, ausgefransten grünen Hutes hervorschauend, strähnenweise ins Gesicht hingen, stand in der Mitte der kleinen Runde. Er war noch jung, nicht übermäßig groß und so dünn, als hätte man ihn aus Strohhalmen zusammengesteckt. Weder das, noch seine mit bunten Flicken übersäte, heruntergekommene Kleidung und auch die Tatsache, dass er nicht einmal Schuhe trug, ließen ihn in irgendeiner Form respekteinflößend wirken. Trotzdem stand er, selbstbewusst und breitbeinig, mit dem Zeigefinger nachdenklich über seinen kurzen Ziegenbart streichend, zwischen den anderen - größtenteils älteren und weitaus kräftigeren - Männern, als wäre er ihr Anführer.
"Ihr lasst euch also von diesem, was, Klaus Frollo einfach so von den Straßen vertreiben?", fragte er, und Missmut schwang in seiner Stimme mit. "Habt ihr überhaupt keinen Stolz?"
"Claude Frollo heißt er", knurrte ein älterer, narbengesichtiger Mann und fuhr sich mit einer Hand durch das verfilzte braune Haar. "Und wenn du Lust hast kannst du ja gern mal ausprobieren, wie lang du und dein Stolz da draußen mit einer Soldatenlanze im Bauch überleben, Trouillefou."
"Du kennst Frollo eben nicht", setzte ein beleibter Zigeuner mit Hakennase etwas versöhnlicher hinzu und legte eine behandschuhte Hand auf Clopins Arm. "Er meint’s ernst. Er hat schon überall Wachen aufgestellt. Und Sankt Martin wird vom Hauptmann der Wache selbst gespielt, um sicher zu gehen, dass die Leute bloß nicht vergessen, welche Leute er herbeikommandieren kann, sollten sie sich ihm wiedersetzen."
Clopin öffnete den Mund, hatte dann aber doch keine Lust, zum dritten Mal seine Argumente vorzubringen, wandte sich stattdessen wortlos, die Stirn umwölkt, um und lies die Männer allein.
"Diese Neuen, die noch von Nichts eine Ahnung haben, machen immer Ärger - vor zwei Tagen erst in Paris angekommen, vor ein paar Jahren erst auf der Welt, und schon will er alles auf den Kopf stellen. Als ob er was erreichen könnte - außer dass man ihm seinen Kopf von den Schultern trennt", meinte der Mann, dessen Gesicht mit Narben verunstaltet war, missmutig und deutete auf eben die zerstörten Stellen Haut, die ihn entstellten. "Ich weiß wovon ich spreche wenn ich sag', man legt sich besser nicht mit Frollo an."
"Er wird's schon noch lernen", erwiderte der dicke Zigeuner, für den das Thema offensichtlich erledigt und der kleine Ein-Mann-Aufstand niedergeschlagen war und wandte sich einem Nahestehendem zu, um auf ein anderes Gesprächsthema zu kommen.
Während die Gruppe den Unruhestifter schnell aus ihren Gedanken verbannte, zupfte ein junger Mann, der das ganze Gespräch an einer Wand lehnend verfolgt hatte, nachdenklich an seinem Ohrring und folgte Clopin nach kurzem Zögern.
Clopin Trouillefou war in eine andere Ecke des Wunderhofes entschwunden, wo, in der Nähe ein paar hastig aufgestellter, verwaschener Zelte, einige Kinder spielten. Eines von ihnen, ein Mädchen von acht Jahren, dessen volles schwarzes Haar ihr hübsches Gesicht umrahmte, sah mit ihren strahlend hellgrünen Augen auf als Clopin auf sie zuhielt. Dann ließ sie ihre offensichtlich schon sehr leidgeprüfte Puppe in die Tasche ihres weiten, grün-roten Kleides gleiten und lief zu Clopin. Ein Blick in sein normalerweise immer fröhliches, aber nun zu einer finsteren Miene verzogenes Gesicht genügte dem klugen Mädchen, um die schlechten Nachrichten zu begreifen.
"Also hast du nichts erreicht… wir müssen den ganzen Abend hier unten verbringen?", fragte sie enttäuscht. Clopin nahm sie auf den Arm und nickte.
"Ich hab alles versucht, Esmeralda. Aber die lassen sich einsperren wie Ratten und wir zwei alleine wären wohl kein besonders eindrucksvoller Martinszug." Und Freiwild für die Wachen, fügte er in Gedanken hinzu. "Dieser Frollo muss ein grausamer Mann sein, wenn er die Zigeuner so einschüchtern kann", murmelte Clopin mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen.
"Das ist er allerdings."
Clopin zuckte zusammen, als die tiefe Stimme, die diese Worte sprach, hinter ihm erklang, und drehte sich um. Dort stand ein Mann, der von der Statur her am ehesten mit einem ausgewachsenen Bären verglichen werden konnte; seine Oberarme war um einiges dicker als Clopins Oberschenkel. Aber er konnte nicht viel älter als Clopin sein.
"Ich hab' bei eurem Gespräch zugehört", mit einer Handgeste deutete er in Richtung der Männer, mit denen Clopin gesprochen hatte. "Du hast dir gerade keine Freunde gemacht."
Seltsamerweise klang das fast wie ein Kompliment.
Clopins Stirnrunzeln verschwand und er grinste breit und zuckte die Schultern. "Das hatte ich auch nicht vor. Wer bist du?"
"Tobar - und du bist Clopin Trouillefou, wenn ich mich nicht verhört habe." Tobar warf einen Blick auf Esmeralda, sah dann aber wieder Clopin an. "Und wer ist die junge Dame auf deinem Arm?"
"Ich heiße Esmeralda", sagte das Zigeunermädchen mit fester Stimme, bevor Clopin für sie antworten konnte. Sie hasste es, wenn man über ihren Kopf hinweg sprach. Tobar sah sie überrascht an, grinste dann aber sein breites Grinsen, dass eine Reihe gelber Zähne entblößte. "Esmeralda, aha. Na, erlaubst du mir mit deinem… Vater? Bruder?"
Clopin schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht mit Esmeralda verwandt. Ich hab sie großgezogen." Das Wort 'nur', dass man bei einer schüchterneren Person, als Clopin sie war, im letzten Satz hätte finden können, hatte er bewusst verschluckt. Ein kind großzuziehen war kein 'nur'.
"Gut. Darf ich trotzdem mal kurz mit Clopin alleine reden, Esmeralda?"
"Ich hab keine Ahnung, wie ich dich davon abhalten sollte", erwiderte Esmeralda flapsig und mit hochgezogenen Augenbrauen, dann rutschte sie aus Clopins Armen. Die beiden Männer sahen ihr nach, als sie sich wieder unter die anderen Kinder mischte.
"Ein interessantes Mädchen", bemerkte Tobar und zog sein blaues Kopftuch zurecht, unter dem schwarze Haare hervorquollen, und das ihn ein wenig wie einen Piraten aussehen ließ.
Clopin nickte stolz.
"Natürlich, sie ist ja auch bei mir aufgewachsen - obwohl, das Meiste steckte wohl schon in ihr. Kommt aus einer großartigen Familie - aber von der sind alle anderen tot." Ein Schatten huschte über sein Gesicht, eine Erinnerung, die sich bei diesem Satz wie ein klammer Mantel um sein Herz legte, doch er schüttelte sie im wahrsten Sinne des Wortes ab.
"Egal. Was willst du?", wandte Clopin sich wieder an Tobar.
"Ach ja." Tobar tippte sich an die Schläfe, als wäre ihm soeben der wirklich Grund seines Besuches eingefallen. "Was du eben gesagt hast, fand ich interessant."
"Wie, über Esmeraldas Familie?"
"Nein, über den Martinszug. Ich hab nicht alles gehört, nur das du sagtest, wir sollten uns nicht einsperren lassen von Frollo und seinen Wachen, dass wir auch ein Recht hätten, teilzunehmen."
"Ach, das mit dem Recht, dass war Geschwätz, da sind mir die Ideen ausgegangen. Davon könnten wir da oben bestimmt niemanden überzeugen", meinte Clopin mit einer wegwerfenden Handbewegung in Richtung Decke, beeilte sich aber, als er die Enttäuschung in Tobars Gesicht sah, hinzuzufügen: "Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir Zigeuner bei dem Martinszug dabei sein könnten."
"Was ist mit dem Gesetz, dass wir uns nicht zeigen dürfen - und mit den Wachen?"
"Was soll damit sein?", fragte Clopin ärgerlich und beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis in Richtung der Zigeuner. "Wir sind was? Ungefähr fünfhundert Leute hier unten? So viele Soldaten hat Frollo sicherlich nicht bereitgestellt, als das er uns alle schnappen könnte. Und selbst wenn - es würde ihn nicht weiterbringen." Clopin ließ sich auf eine der nassglitschigen Treppenstufen fallen, die auf einen der vielen höheren Absätze des Raumes führte, und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. "Das Volk würde hinter uns stehen. Klar, die hassen uns, aber es ist ein Feiertag. Die ganzen Kuttenträger beten in der Kirche, aber die Arbeiter da draußen wollen sich heute amüsieren. Die sind nicht so heilig, es bringt ihnen ja auch nicht so viel. Das ist einfach ein freier Tag für die. Ich habe schon gehört - mehrfach und lautstark", er schnitt, wie ein Kind, eine Grimasse in Richtung seiner vorherigen Gesprächspartner, "dieser Frollo macht einen eigenen Umzug mit dem Hauptmann der Wache als Sankt Martin und lauter Priestern, die irgendein lateinisches Zeug singen. Oh ja, das wird bestimmt eine richtig ausgelassene und heitere Sache." Clopin schnaubte verächtlich. "Mir kann hier unten keiner einreden, dass die Bürger von Paris nicht eher einer großen Gauklertruppe folgen würde, die Musik macht und die Geschichte des Sankt Martin auf irgendeinem Marktplatz aufführen lässt, als diesen verstaubten Klosterbrüdern. Das war in allen Städten so, durch die ich bis jetzt gekommen bin. Und Klaus - Claude - was auch immer! Frollo kann nicht ganz Paris in den Kerker stecken!"
Tobar schien der Idee nicht abgeneigt - natürlich, auch er hoffte ja auf einen Ausweg aus diesem halben Kerker, darum war er ja Clopin erst nachgegangen -, doch die für die Zigeuner so lebensnotwendige Vorsicht war zu tief in ihm verankert, als dass er sich so einfach hätte überzeugen lassen. Seine Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht.
"Du hast recht", sagte er, "aber die Meisten werden hier nicht von alleine weggehen. Sie haben gesehen, wozu Frollo fähig ist." Er trat einen Ball, der aus zusammengeknautschten und -geknoteten Tüchern bestand, und direkt vor seine Füße kullerte, zurück zu den Kindern. "Ihre Angst ist zu groß", setzte er bedauernd hinzu
Clopin tippte sich mit den Zeigefinger an das Kinn; alleine die geringste Hoffnung, dass er den Martinstag doch nicht in diesem stinkenden Loch in den Katakomben verbringen musste erschien es ihm wert, sich einen Plan zurechtzulegen. Außerdem regte sich in seiner Brust der Stolz; er wollte nicht eingesperrt werden wie ein Vogel im Käfig. "Kennst du dich hier aus?", fragte er schließlich. "Ich meine, kennst du die Leute hier unten?"
"Ich wohne seit zwei Jahren in Hof der Wunder, und einige sind schon genau so lange hier", bestätigte Tobar nach kurzem Zögern.
"Und wie viele glaubst du, kommen mit, wenn es einen Martinszug für uns gibt?", bohrte Clopin weiter. Tobar dachte abermals kurz nach.
"Bei so etwa zwanzig bin ich mir sicher, die machen alles mit, was einigermaßen gefährlich ist - könnte nur sein, dass die schon draußen rumrennen. Und dann gibt es natürlich noch ein paar, die mitkommen würden, wenn es so ein Anführer schaffen könnte sie zu mobilisieren. In der Gruppe fühlen sie sich sicherer - bei Frollos Soldaten kein Wunder. Aber so schnell finden wir doch niemanden, der einen Umzug zusammenstellt… oder… warte, nein, dass machst du nicht."
Tobar sah Clopin mit zusammengezogenen Augenbrauen an, doch der blickte scheinbar geistesabwesend auf seine nackten Füße. Dann sprang er so plötzlich auf, als hätte er auf den Boden direkt neben seinen Zehen einen Skorpion entdeckt.
"Natürlich! Ich führe den Zug an!", rief er aus, und setzte dann mit gestrafften Schultern hinzu: "Wie schwer kann das schon sein?"
"Aber deine Gruppe ist doch gerade erst aus Ostfrankreich gekommen! Du kennst dich in Paris gar nicht aus!", widersprach Tobar, der das dumme Gefühl hatte, Clopin einen sehr gefährlichen Floh ins Ohr gesetzt zu haben.
"Na und? Dafür habe ich doch dich", erwiderte Clopin, in einem Ton, der so verblüfft war, als würde er sich wundern, dass Tobar das nicht sowieso klar war.
"Wie… was, mich?! Seit wann denn das?"
"Seit jetzt." Clopin sah ihn mit einem Grinsen an, dass es Tobar kalt den Rücken herunterlaufen ließ; er sah aus wie ein kleiner Dämon. "Oder bist du etwa zu feige? Ich meine, wenn du dich nicht traust…" Er ließ den Satz offen im Raum stehen und betrachtete aufmerksam seine dreckigen Fingernägel, aber das Grinsen war nicht verschwunden und mit einem Seitenblick versicherte er sich, dass seine Worte die gewünschte Wirkung zeigten.
"So ein Schwachsinn!" Die Antwort kam ganz automatisch; wie auch Clopin war Tobar jemand, der kaum etwas mehr hasste, als wenn man seinen Mut in Frage stellte. Und als sein Gehirn eine Sekunden später seinen Worten nachkam, wollte Tobar sie auch nicht zurücknehmen. Etwas unsicherer, aber immer noch mit hochmütig erhobenem Kopf, sagte er: "Ich lasse mich doch von ein paar Helmträgern, die nicht mal vernünftig mit ihren Zahnstochern von Kurzschwertern umgehen können, nicht einschüchtern."
"Na, das ist doch wunderbar." Clopin packte Tobars Arm und zog ihn näher heran. "Dann trommelst du jetzt die Leute zusammen, von denen du sicher weißt, dass sie sich raustrauen. Sag ihnen, sie sollen Fackeln mitbringen, aber noch nicht alle anzünden, und Instrumente, falls sie welche spielen können. Um den Rest kümmere ich mich und meinen Plan erkläre ich dann."
Tobar wusste, dass es jetzt zu spät war, um einen Rückzieher zu machen, und das war kein schönes Gefühl - eigentlich hatte er den jungen Zigeuner hauptsächlich wegen seines Mutes kennenlernen wollen, und nicht wirklich, um ein Himmelfahrtskommando zu starten. Mehr Worte als Taten. Aber als er in Clopin vor Aufregung glühende Augen sah, fasste er wieder Mut. Irgendwas gab ihm das Gefühl, dass es klappen würde. Klappen musste! Selbst wenn es ein bisschen so klang als wäre Clopins 'Rest', um den er sich kümmern wollte, eigentlich der Plan an sich. "Gut."
Tobar gab sich redlich Mühe, so viele Zigeuner wie möglich dazu zu bewegen, gegen Frollos hartes Gesetz zu verstoßen, und diese Bemühungen waren sogar von bescheidenem Erfolg gekrönt. Zwölf der vorher von ihm erwähnten Unruhestifter hatte er bei sich, als er Clopin zurückkehrte, fünf Freunde von ihm, die sich von ihm hatten überreden lassen, mitzukommen, und etwa zwanzig wagemutige Männer und Frauen, die sich der Gruppe spontan angeschlossen hatten.
Dieses bunt zusammengewürfelte Angebot von Zigeunern, dass von einer Greisin bis zu einem Elfjährigen an der Seite seines großen Bruders reichte, stand nun in einem Halbkreis um Clopin angeordnet und begutachtete ihn kritisch, als wäre er ein Pferd, dass sie kaufen wollte, dessen Verkäufer sich aber weigerte, die Zähne des Tieres zu zeigen.
Eine große Frau, deren braunes Haar zu einem lockeren Knoten auf dem Kopf zusammengesteckt war, und an deren Ohren riesige goldene Ohrringe baumelten, stieß Tobar ihren spitzen Ellenbogen in die Seite. "Der da soll uns führen?", fragte sie ungläubig.
Tobar nickte nur.
"Dieses Strichmännchen ist doch noch jünger als wir beide", schnaubte sie.
"Ja, ich weiß, Marona. Aber ich glaube er kann das", zischte Tobar zurück, den Blick auf Clopin gerichtet.
"Ist ja toll. Und woher?" Maronas Stimme klang verächtlich.
"Keine Ahnung", sagte Tobar wahrheitsgemäß. "Aber ich hab das im Gefühl. Oder so. Du wirst schon sehen" Nach einem weiteren abschätzenden Blick auf Clopin, der immer wieder Blicke über seine Schulter warf, als würde er auf etwas warten, dass aus dieser Richtung auftauchen sollte, aber sonst völlig gelassen wirkte, nickte er noch einmal bekräftigend. "Der kann das."
Marona verzog spöttisch den Mund und wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment begann Clopin zu sprechen. Mit in die Hüften gestützten Händen stand er vor der ihm unbekannten Zigeunerschar.
"Ihr seid mehr als ich erwartet habe", sagte er, offensichtlich erfreut darüber. "Ich bin Clopin Trouillefou und ich erzähle euch jetzt, was ich mit euch vorhabe - dass es um den Martinszug geht wisst ihr hoffentlich schon."
Zustimmendes Gemurmel, Kopfnicken. "Sicher, aber was bist du, die Martinsgans?" und ähnliche Kommentare fielen, doch Clopin ignorierte sie.
Er wandte sich an Tobar. "Einer dieser Typen", er machte eine vage Handbewegung in die Richtung der Männer, mit denen er vor kurzem diskutiert hatte, "meinte, Frollo und sein Martinszug hätten so eine Art festgelegten Weg?"
Tobar nickte langsam. "Ja, ich habe gehört sie nehmen immer die selber Route, vom Justizpalast über die Brücke zum Ostufer, dann über eine Brücke nordwestlich von der Île de la Cité rüber zum anderen Ufer, von dort wieder auf die Insel rauf und über die Rue de la Cité in Richtung Notre Dame."
"Gut, gut." Clopin nickte eifrig und strich sich über seinen kurzen Bart. "Sehr gut", sagte er noch einmal zu sich selbst, dann blickte er wieder auf. "Auf den Vorplatz von Notre Dame ziehen wir auch. Wir müssen einfach darauf achten, dass wir Frollos Zug nicht zu früh kreuzen."
Nun war es Marona, die dazwischenrief. "Was macht es für einen Unterschied, wann wir den Zug kreuzen?! Sobald sie uns sehen, hacken sie uns in Stücke! Und es stehen überall Wachen, vor denen wir uns versteckt halten müssen!"
"Nein, das werden sie nicht", widersprach Clopin entschieden. "Und versteckt halten werden werden wir uns auch nicht, im Gegenteil. Wir werden singen und spielen und dafür sorgen, dass so viele Menschen wie möglich sich uns anschließen - die ganzen Bürger, die Frollos Kuttenträger nicht aus ihren Häusern locken konnten. Und wenn uns dabei eben zwei oder drei Wachen sehen - na und? Es stehen keine Armeen an jeder Straßenecke. Ihr werdet doch wohl mit ein paar zwischen Blechplatten gequetschten Kerlen fertig! Sobald uns genug Bürger folgen, kann uns ohnehin nichts mehr passieren, dann können wir Frollos Zug auch treffen! Ich habe es Tobar schon erklärt." Er wies auf den Mann, dessen Namen er genannt hatte. "Ich kenne zwar diesen Frollo nicht und er mag uns Zigeuner hassen, aber er riskiert bestimmt keine Straßenschlacht am Martinstag."
Die Idee von der Clopin berichtete, war augenscheinlich nicht der Phantasie eines Idiotens entsprungen. Aber die Art, in der er sie vortrug, zog die kleine Ansammlung von Männern und Frauen fast noch mehr in den Bann und gewann sie gleichsam dafür wie die Idee an sich wie auch für den selbsternannten Anführer. Beinahe jedes von Clopins Worten war von einer meist schon übertriebenen Geste begleitet, seine Stimme war laut und klar, als hätte er das ganze zuvor einstudiert und jeder Satz war mit der treffenden Tonlage unterlegt. Er war wie ein Schauspieler ohne Bühne und in seiner überdreht-begeisterten Art, in der sein Gesicht sich zu einem breiten Grinsen verzog wenn er sich vorstellte, wie sie Frollos Männern ein Schnippchen schlugen, lag etwas Einnehmendes. Ja, es ist gefährlich, schien er ihnen sagen zu wollen, ja, vielleicht ist es auch ein bisschen verrückt, aber ist es wirklich besser, hier unten zu bleiben?
Die Antwort lautete schon aus Prinzip nein. Der Funken war übergesprungen.
"Aber wir haben kein Pferd, auf das wir Sankt Martin setzen können. Wir haben nicht mal einen Sankt Martin. So können wir keinen Martinszug machen", warf Marona ein. Zwar stand sie der Sache nicht mehr zu kritisch gegenüber, aber sie behielt ihre Meinung und Zweifel nie für sich. Doch Clopin nickte nur, als wäre er dankbar, dass sie ihm diesen Satz als einigermaßen brauchbare Überleitung geliefert hatte.
"Daran habe ich auch schon gedacht." Abermals wandte er sich um. "Und ich glaube… ja, da hinten kommt unser Sankt Martin schon - mit Pferd."
Die Blicke der Zigeuner folgten Clopins. Aus dem Schatten eines der flickenbesetzten Zelte trat ein Mädchen und kam auf die Gruppe zu. Sie hatte sich ein langes rotes Tuch um den Hals gebunden hatte. Dieses Tuch war so lang, dass es die gesamte rechte Hälfte ihres Körpers bedeckte. Die linke Seite des behelfsmäßigen Umhangs fehlte. Sie hielt sie in der Hand. Die langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden und unter dem Umhang konnte man erkennen dass das Mädchen eine Hose und Hemd aus braunem Stoff trug. An einem Strick führte sie eine große, braune Ziege, die ihr brav hinterher trottete.
Tobar erkannte Esmeralda sofort, die sich da so behelfsmäßig als Sankt Martin verkleidet hatte, und zusammen mit ihrem 'Streitross' neben Clopin stehen blieb, einen unsicheren Blick in die Runde warf und sich dann, zwar mit geradem Rücken und hochgehaltenem Kopf, aber dennoch mit hochrotem Gesicht noch etwas näher an seine Beine heranschob.
Einen Moment lang herrschte Stille, die aber bald von Clopin unterbrochen wurde.
"Das ist Sankt Martin", erklärte er mit fester Stimme, die jeden Zweifel ausräumen sollte, als er Esmeralda hochhob und auf den Rücken der Ziege setzte, die sich nur kurz etwas verwirrt umsah und dann wieder in ihre Gleichgültigkeit verfiel. Die seltsame Besetzung für Sankt Martins Pferd war aus der Not heraus geboren; wo sollte man schon im Hof der Wunder ein Pferd herbekommen?
"Das ist ein kleines Mädchen auf einer Ziege", bemerkte ein schlaksiger Mann nach einigen Sekunden mit einem meckernden Lachen.
Clopin taxierte ihn, während er Esmeralda die lose Hälfte ihres Umhangs abnahm. "Na und?"
Er stellte sich abermals breitbeinig hin, die Arme vor der Brust verschränkt. "Ich bin noch nicht lange hier, ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit der hiesigen Soldatenschaft anzulegen. Aber ihr kennt euch doch aus. Also beantwortet mir eine Frage: ist der Hauptmann der Wache eine bessere Besetzung für die Rolle des demütigen, barmherzigen Sankt Martin als Esmeralda hier?"
Clopin hatte die richtigen Worte gefunden, was seinem Glück und seiner Erfahrung gleichermaßen zuzuschreiben war; er kannte den Hauptmann der Wache tatsächlich nicht und hatte mit seinen Worten einfach ins Blaue geschossen. Doch da er wusste, dass es kaum irgendwen, vom Fußsoldaten bis zum obersten Admiral, im Militär gab, der bei den Zigeunern beliebt waren, wähnte er sich aus der sicheren Seite und behielt recht. Sofort wurden Protestrufe laut:
"Frollos Schoßhund demütig?! Da kann man ja den Teufel persönlich eher an die Spitze des Zuges setzen!" "Dieser Fettwanst kann doch froh sein, wenn seinem Pferd während des Zuges nicht die Beine wegknicken!" "Der hat doch noch nie eine Kirche von innen gesehen!" "Wenn der heilige Martin nicht auch ständig besoffen war, dann halten sich die Unterschiede zwischen den beiden in Grenzen - was anderes saufen kann dieser Hauptmann doch nicht."
"Martin de Tours war eher ein Weib als das er Ähnlichkeit mit diesem Tottel Aubert Sauvageau hatte, der sich hier seit einem Jahr Frollos befehlen folgt wie ein unbedarfter Schwachsinniger und seinen Sold nur für Wein verschwendet!", fasste Tobar energisch zusammen.
Clopin breitete die Arme weit aus, wobei eine seiner Hände auf Esmeralda deutete. "Da seht ihr's!", triumphierte er, erleichtert, dass der Hauptmann ihm mit seinem Lebenswandel unwissenderweise in die Hände gespielt hatte. "Unser Martin mag ein Mädchen sein und auf einer Ziege reiten, aber dafür hat er - sie - ein gutes Herz und Verstand! Und der der Bürger von Paris, na, vielleicht hat er ein schönes Pferd, aber er ist ein Idiot, für den Barmherzigkeit nur ein weiteres Wort ist, dass er nicht mal fehlerfrei schreiben könnte!"
Die Zigeuner lachten, obwohl die meisten von ihnen - wie auch Clopin - selbst über recht mangelhafte Kenntnisse verfügten, was die Schriftsprache anging.
"Also zeigen wir ihnen, dass wir Zigeuner uns nicht wie Käfigtiere einsperren lassen!", stachelte Clopin weiter an, und diesmal wurde lauthals Zustimmung bekundet; sogar Marona stimmte mit ein. Clopin wollte bereits mitmachen doch dann fiel ihm, mit dem Blick auf die andere Hälfte des Umhanges in seiner Hand, etwas ein.
"Wir brauchen noch einen Bettler", sagte er und sah sich nach dem Jüngsten in der Gruppe um - das Alter von Esmeralda als Sankt Martin und dem Bettler sollte nicht so weit auseinanderliegen. Schließlich entdeckte er den dürren Jungen mit den vollen roten Locken, der noch immer an der Seite seines großen Bruders stand und Clopin mit großen, gewittergrauen Augen bewundernd musterte.
"Du", forderte ihn Clopin auf und zeigte mit dem Finger auf ihn. "Komm her!"
Der Junge sah seinen Bruder zögernd an, der ihn sanft nach vorne schobe.
"Du bist…" Clopin runzelte die Stirn.
"Kako", sagte Kako.
"Nein, jetzt bist du der Bettler", antwortete Clopin und band ihm den halben Umhang um den schmutzigen Hals. "Und darum musst du natürlich ganz vorne laufen, direkt neben Sankt Martin. Traust du sich das?"
Kako warf einen schnellen Blick ins Publikum - er war ein schüchterner Junge, der ohne den Rückhalt anderer meist nicht mal die Entscheidung treffen konnte, was er zu Mittag essen wollte und ihm war mulmig zumute, vor allem weil er eigentlich nur ganz hinten Laufen und seine Flöte hatte spielen wollen. Aber Schwäche zeigen kam nun natürlich nicht in Frage, schließlich wollten sie, alle die hier standen, doch die Mutigsten sein, die einzigen, die es wagten, Frollo die Stirn zu bieten. Die Zigeuner blickten ihn erwartungsvoll an.
"Na… na klar", antwortete er und zeigte Clopin ein etwas verrutschtes Lächeln.
Auf dem Weg zum Ausgang schlossen sich dem kleinen Zug noch einige Zigeuner an, die entweder übermütig oder neugierig waren oder ohnehin nichts zu verlieren hatten, so dass sie bis sie den ersten schlammigen Tunneln erreicht hatten sechsundvierzig waren, ein recht ansehnlicher Zug. Das meiste jedoch, was man den Mutigen, möglicherweise auch etwas Übermütigen und auf jeden Fall Unvorsichtigen mit auf den Weg gab - besonders ihrem jungen Anführer, Clopin, der, flankiert vom elfjährigen Bettler und Tobar, stolz in seiner Hand den Führstrick der Ziege hielt, auf der Esmeralda saß, und mit der anderen eine Fackel -, war Hohn und zahlreiche Prophezeiung, dass sie alle auf dem Scheiterhaufen landen würden. Doch die Martinszugteilnehmer, angespornt von Clopin unerschöpflichen Optimismus und ihrem eigenen gegenseitigen Mutmachen, scherten sich nicht darum. Schließlich, als sie an der Gruppe der Männer vorbeikamen, die die ganze Sache mit der Diskussion ebenfalls aber unwissenderweise angeregt hatten, begann Clopin sogar demonstrativ, laut eine Melodie zu singen, textlos zwar, doch fröhlich. Sie gehörte zu irgendeinem lebhaften Lied, dass er bei einer seiner Reisen aufgeschnappt hatte, deren Text er sich aber nicht mehr erinnern konnte.
Er hatte sich ohnehin nicht viel von dem Lied gemerkt, darum klangen einige Tonabfolgen schräg, die Melodie unsicher und abgesehen davon, dass Clopin gar nicht so genau wusste was ein Takt war, hielt er ihn in diesem Falle während seines endlosem Singsangs auch nicht ein.
Aber das Lied war da, um neben den Flammen der Fackeln in den Händen einiger Zigeuner etwas weiteres lustig Tanzendes einzubringen, damit sie nicht zu sehr mit dem Gefühl voranschritten, ihrem Tod entgegenzueilen. Nach einigen Minuten begannen schon einige, die Melodie, die, sich ständig verändernd, von ihrem Anführer gesungen wurde, mit einfachen Tonabfolgen auf ihren Instrumenten oder mit ihren eigenen Stimmen zu Begleiten. Auch diese passten nicht, darum klang das ganze furchtabr durcheinander, aber immerhin lustig und vertrieb düstere Gedanken wie eine Windböe, die einen Stoß abgestorbene Blätter davon wehte. So hallten also Tambourine, Fideln, Lauten und mehr oder weniger wohlklingender Gesang von den tristen Gängen der Katakomben wieder. Die, die weder singen wollten noch ein Instrument dabei hatten, schlugen die mitgebrachten, noch nicht angezündeten Fackeln rhythmisch gegeneinander.
Tobar war ehrlich erstaunt von Clopin, auch wenn er von Anfang an das unbestimmte Gefühl gehabt hatte, dass dieser Mann nicht vollkommen unfähig sein konnte. Nun ging er neben ihm, als ortskundiger Führer. Wahrscheinlich sah er als einziger im Zug, dass Clopins Gesicht im Licht der Fackeln etwas blasser als noch vor nur einer halben Stunde aussah, und seine Stimme bebte bestimmt nicht nur, weil er melodieunsicher war. Er hatte sehr wohl Angst, auch wenn er verstand, sie hinter einem breiten Grinsen zu verstecken. Möglicherweise war ihm aufgegangen, dass er mit Frollo als Gegner jemand völlig unbekanntem den Krieg erklärt hatte, dass er vielleicht gerade all diese Zigeuner, die ihm vertrauten, in den Tod oder die Zellen des Justizpalastes führte.
Tobar klopfte ihm auf die Schulter, als wollte er ihm seine Unterstützung versichern und meinte zu sehen, dass Clopin ihm einen dankbaren Seitenblick zuwarf.
Der Weg durch die langen Gänge - auch hier musste Clopin sich noch von Tobar leiten lassen, denn er selbst hätte sich möglicherweise in den labyrinthähnlichen Gangsystem verirrt - kam den Zigeunern während sie ihn gingen zu lang vor und sobald sie den Ausgang sahen viel zu kurz, denn jetzt sahen sie sich gezwungen, ihr waghalsiges Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Während sie die glitschigen Treppen zum Ausgang der Katakomben hinaufstapften - langsam, denn Esmeraldas Reittier konnte erst durch die vereinten Bemühungen des jungen Bettlers, Tobars, Esmeraldas und Clopins dazu bewegt werden, langsam die schmierigen, schlierenbewachsenen Treppenstufen hinauszusteigen -, streifte ein Gedanke durch Clopins Kopf, der mit dem Martinsumzug keine Verbindung hatte. Eigentlich, dachte er, ist der Eingang zu wenig gesichert. Man bräuchte Wachen in den Gängen der Katakomben, um wenigstens eine kleinen Vorwarnung geben zu können, falls jemand den geheimen Eingang entdeckt, sonst kann hier doch jeder reinspazieren. Aber es gab keinen Anführer des Hofes der Wunder, darum auch niemanden der die Autorität gehabt hätte, einen funktionierenden Wachdienst zu organisieren. Clopin machte sich aber die gedankliche Notiz, Tobar darauf anzusprechen, sobald das hier vorbei war und im Fall, dass sie es übeleben sollten.
Tobar schob die Platte auf dem alten Grab herunter und wie Ameisen aus einem Bau entstiegen die Zigeuner den Katakomben und sammelten sich auf dem toten Rasen des Friedhofes um das große Grab, das den Eingang darstellte. In der Dunkelheit waren sie so grau wie Priester, nur hier und da blitzte ein goldener Ohrring im Feuerschein der wenigen Fackeln, die sie bei sich trugen, und klimperten leise die Schellen eines Tambourins, auf das eine ungeduldige Frauenhand schlug.
Clopin drehte, nachdem er die Ziege zusammen mit Tobar auf den sicheren Grund gebracht hatte, sich noch einmal zu seinem Gefolge um.
"Sobald wir durch dieses Friedhofstor bin", wies er sie mit schelmischen Grinsen an, "werdet ihr meinen Gesang begleiten. Mal sehen, ob wir mehr Leute dazu bringen können, uns zu folgen, als Frollo. Also, ab dem Friedhofstor", wiederholte er noch einmal leise. Dann stapfte er los.
Esmeralda, die wieder ihren Platz auf der Ziege mit den Nerven aus Drahtseilen eingenommen hatten, saß leicht nach vorne gebeugt, ihre Hände im filzigen Fell des Tieres vergraben. Ihre grünen Augen sahen von der leicht erhöhten Position des Grabhügels in die Ferne, wo irgendwo zwischen den Häusern der andere Martinszug entlang führen musste. Das wusste sie aber nicht. Ihr Blick war lediglich auf die zwei hohen Türme von Notre Dame gerichtet. Clopin hatte ihr versprochen, dass sie vor der Kathedrale feiern würden.
Tobars zupfte an Clopins Ärmel, während sie den flachen, matschigen Hügel hinunterliefen. "Was für ein Lied wirst du singen? Wenn es sich von den Kirchgesängen unterschieden soll, muss es etwas fröhliches sein."
"Ich weiß noch nicht", antwortete Clopin völlig unbekümmert. "Ich kenne gar keine französischen Martinslieder, ich habe die meiste Zeit meiner Kindheit in Spanien und in anderen, nördlichen Ländern verbracht. Aber mit fällt bestimmt gleich ein Text ein. Und eine Melodie."
Tobar sah ihn überrascht an, doch dann lachte er leise in sich hinein. "Du scheinst dir ja gar keine Sorgen über irgendetwas zu machen."
"Nein", erwiderte Clopin, während er mit den langen Fingern die Spitze eines Grabkreuzes streifte. "Noch nicht", fügte er dann hinzu.
Tobar stieß das eiserne Tor des rostigen Friedhofzaunes auf und schlüpfte, gefolgt von Clopin mit der Ziege, die er immer noch führte, dem Bettlerjungen und schließlich dem Rest des Martinszuges nach draußen. Noch immer war es still, nur leises Zischen wie von Schlangen machte sich breit.
"Wann kommt denn endlich dein Lied, dass wir begleiten sollen?", fragt eine ältere Frau, doch die normale Zimmerlautstärke, in der sie sprach, klang auf der wie ausgestorben daliegenden Straße wie Gebrüll. Clopin schwenkte die Fackeln.
"Sofort", beruhigte er die Zwischenruferin. "Zündet zuerst so viele Fackeln an, wie ihr tragen könnt, ohne euch gegenseitig Hüte und Haar von den Köpfen zu brennen."
Die Zigeuner taten, was Clopin sagte; Tobar wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der die anderen Clopins Befehle bereits befolgten, als sei er schon lange Mitglied in ihrer Gemeinschaft, bis ihm klar wurde, dass auch er genau das getan hatte, was der junge Mann ihm gesagt hatte. Es war eigentlich nicht schwer - erst begeisterte er die Menschen, dann gab er Anweisungen, die sinnvoll erschienen und denen man in dieser Situation natürlich folge leistete, weil es keinen Grund gab, sich zu Wehr zu setzen. Ja, wenn Tobar genauer darüber nachdachte, war es vielleicht gar nicht so verwunderlich. Vielleicht was Clopin sowas wie ein geborener Anführer?
Nun war der Zug schon heller erleuchtet, die bunte Kleidung der Mitglieder hob sich deutlich ab vom Grau der Pflastersteine und der Hauswände, auf die die sich im Ostwind windenden und zuckenden Flammen tanzende Schatten warfen. Clopin fuhr sich mit einer Hand in den Kragen und fischte etwas aus der Innentasche seines flickenbesetzten, langen Hemdes - ein kleiner Dolch. Den hielt er erst hoch, verkündete stolz "Sankt Martins Schwert!" und drückte ihn dann der kleinen Esmeralda in die Hand, die, um ihrer Rolle gerecht zu werden, sich mit geradem Rücken aufsetzte und die Hand mit dem Dolch vorsichtig auf dem Widderrist der Ziege abstützte.
Clopin drehte sich zu Tobar. "Du führst uns an und vergiss nicht…"
"… so lange wie möglich von Frollos Zug weg, ich hab's verstanden. Ich hoffe nur, dein Plan geht auf, Trouillefou."
"Clopin. Und das wird er." Clopin grinste breit, dann hob er seine Stimme. "Wir sind so weit!", rief er. Dann begann er mit den Tönen einer neuen Melodie, während er, dicht neben Tobar, den Weg begann. Für einen Moment herrschte Verwirrung; niemand kannte das Lied - was keine große Überraschung war. Schließlich erfand Clopin es gerade.
"Im kalten Schnee da sitzt ein Mann,
Der hat nicht Kleid noch Mantel an,
Er wanderte von Tür zu Tür
Und bekam doch nichts dafür
Allernorts schickte man ihn fort
Vergessen jedes Bibelwort
Von den Mächtigen und Großen
Die den Armen von sich stoßen"
Tobar musste lächeln. Obwohl er, wie Clopin, keine Wörter wie Takt und Versmaß kannte, merkte er doch, dass einige von Clopins Reimen nicht so recht passen wollten. Aber inhaltlich war er genau das, was die Zigeuner jetzt hören wollte, und der dünne Mann, von dem er ein Stimmchen erwartet hatte, dass zu seiner Statur passte, sang so klar und laut, als nähme er seit Jahren die Dienste eines Gesanglehrers in Anspruch. Nur die Art wie er sang machte klar, dass er wohl nie eine Universität von innen gesehen hatten - die Schicksalsschläge des Bettlers mit waren besonders tiefen Noten unterstrichen, aber dann ließ er die Stimme wieder hoch hüpfen wie ein zuvor lang gezogenes Band, dass man zurückschnappen ließ. Es klang witzig.
Clopin ging nicht direkt zum Refrain über - scheinbar wollte er den Musikern die Chance geben, sich auf seine Melodie einzustimmen. Eigentlich fiel ihm aber einfach kein Text ein, und darum war er froh eine Rechtfertigung zu haben, die erste Strophe mehrfach wiederholen zu können.
Endlich hatte er sich etwas zusammengereimt, mit dem er fortfahren konnte - der Text war nun etwas kindischer, aber das war nicht so schlimm. Die Städter würden einen all zu kritischen Text ohnehin nicht schätzen und außerdem waren so wohl sein Sankt Martin und sein Bettler Kinder.
"Da saß der Bettler und litt Not
Und bat zu Gott und betete
Sonst würde noch der Schnee sein Tod
Und wie er da so einsam war
Völlig von Gott verlassen
Ratet mal wen er da sah
Auf den breiten Straßen"
"Das reimt sich nicht", wagte Tobar halblaut einzuwerfen und bekam dafür einen Tritt vor's Schienbein, den er gutmütig hinnahm als er Clopin und mit ihm den Zug in eine breite Seitenstraße führt, die nicht so gottverlassen war wie die schmale Gasse vor dem Friedhofstor. Hier zog der laute Zug nun bereits die ersten vorsichtigen Beobachter an. Es war zwar schon dunkel, aber noch recht früh am Abend, und Kinder spielten auf den durch halb geöffnete Türen erleuchteten Treppenabsätzen der Häuser und auf der Straße, wo durch Fenster spärliches, von Kerzen verbreitetes Licht ihre erstaunten Gesichter erleuchtete, als sie Clopin mit dem kleinen Sankt Martin auf der Ziege und den Rest des Zuges beobachteten. Ebenso wurden Fenster geöffnet und Türen aufgestoßen und viele verwirrte Gesichter zeigten sich.
Das Getuschel im Zug wurde lauter, einige Instrumente hörten auf zu spielen - der Mut schien auszugehen.
Clopin sah über seine Schulter zu den Zigeunern. "Sie sollen uns doch bemerken", zischte er. Dann schwenkt er seine Fackel, zog die Ziege etwas weiter nach vorne und rief so laut, dass man es die ganze Straße hinunter hören konnte:
"Mein Name ist Clopin Trouillefou, ich bin ein Zigeuner und das könnt ihr ruhig an Frollo so weitergeben. Wir, ich und meine Freunde, haben uns entschlossen, an diesem Martinstag nicht wie angeordnet irgendwo leise zu sein sondern zu feiern. Und jeder, dem Frollos Totenmesse zu langweilig ist, der soll uns folgen!"
Nicht nur Tobar zuckte bei diesen todesmutigen und sehr, sehr gefährlichen Worten zusammen. Frollo hatte Zigeuner für weniger (und hin und wieder auch für rein gar nichts) hängen lassen. Aber Tobar brauchte nur lebhaften Ausdruck auf Clopins Gesicht und das Glitzern in seinen Augen zu sehen und wusste, dass dieser junge Mann wusste, mit welchem Feuer er da spielte, und das Spiel liebte.
Clopins Unvorsichtigkeit wirkte aber offensichtlich. In jeder Straße durch die sie zogen wurden einige Eltern von ihren Kindern mitgezogen und genötigt, der Ziege und dem lustigen bunten Trupp zu folgen, und egal wie Frollo es sich wünschte, auch diese Eltern waren keine Engel. Genau so wenig wie die Tavernenbesucher, die den langweiligen Abend an den fleckigen Holztischen gerne gegen die willkommene Ablenkung durch den bunten Martinszug tauschten (und noch einiges an Alkohol mitbrachten, was die Stimmung der Erwachsenen beträchtlich lockerte). Während die Bürger gegenseitig versichert wurde, dass Frollo das Verbot bestimmt aufgehoben hätte - der Zigeuner hatte zwar etwas anderes behauptet, aber man wusste ja, diese Zigeuner redeten oft nur so vor sich hin, man konnte sie nicht ernst nehmen, sicher spielte der Mann dort sich bloß auf -, wuchs der Zug immer weiter an. An dem kleinen Platz, an der die Rue P. Lescot die Rue Berger kreuzte, folgten ihnen schon über hundert Bürger und Bürgerinnen.
Dem ersten Wächter waren sie bereits über den Weg gelaufen, doch der Mann hatte sich nicht als besonders mutig herausgestellt, und mehr als so schnell wie möglich seinen Befehlshabern Meldung zu erstatten traute er sich nicht, schon gar keinen direkten Eingriff in die verbotenen Festivitäten
Diese Meldung allerdings würde er mit Sicherheit abgeben.
Tobar sah dem davonhastenden Soldaten mit gerunzelter Stirn hinterher und drehte sich dann zu Clopin um - der machte sich wohl immer noch keine Sorgen und Tobar begann zu überlegen, ob sich das Aufflattern von Bedenken in den Katakomben, dass er bei Clopin meinte beobachtet zu haben, möglicherweise nur deshalb eingestellt hatte weil sich die Nervosität der Gruppe für einen Moment auf ihn übertragen hatte.
Mittlerweile hatte sich der Zug umformiert und Clopin, der immer noch vorne lief, war umringt von einer Traube von Kindern zwischen drei und zwölf Jahren, die alle die Ziege streicheln wollten, mit ihren quietschigen Stimmen Clopins Lied sangen - dass er immer weiter führte, über die Errettung des Bettlers bis hin zu Jesus, der Martin de Tours im Traum erschien - und überrascht schienen, dass es in diesem Fest, dass zumindest die Jüngeren unter ihnen nur unter Leitung der eisernen Hand von Frollo kennengelernt hatten, auch für sie einen Platz gab. Und dieser war auch noch ziemlich gut, den Clopin stellte sich als absoluter Kindernarr heraus - vielleicht, weil er ihnen so ähnlich war - und hüpfte mindestens so ausgelassen wie sie über das dreckige Straßenpflaster von Paris, zwischen den matschigen Pfützen und dem Straßenabfall hin und her.
Tobar legte dem jüngeren Zigeuner eine Hand auf die schmale Schulter, und unterbrach ihn dadurch dabei, wie er einem kleinen Mädchen zeigte, wie man mit zwei Wallnüssen jonglieren übte. "Clopin", zischte er. "Clopin, hör mir zu."
Clopin sah auf. "Was ist denn?", fragte er unwillig.
"Der Soldat, der eben abgehauen ist, wird seinen Befehlshaber und mit ihm eine Menge andere Soldaten holen. Wir bekommen echt Ärger", flüsterte Tobar ihm ins Ohr, indem er sich zu dem kleineren Mann herunterbeugte. Clopin ließ seinen Blick einen Moment lang über die ausgelassene Gesellschaft schweifen. Noch waren sie nicht genug. Eine Truppe von vierzig Soldaten könnte die Bürger leicht auseinander treiben und die Zigeuner gefangen nehmen lassen.
"Meinst du?", fragte er, nun anscheinend wieder in der Realität angekommen. "Na dann… gehen wir eben einen anderen Weg, dann finden sie uns nicht mehr so leicht", beschloss er, ohne eine Antwort abzuwarten. "Es werden ja wohl mehrere Straßen nach Notre Dame führen. Außerdem hatten wir das eh vor."
"Aber dann treffen wir Frollos Zug möglicherweise zu früh. Ich weiß nicht genau, welche Straßen er entlanggeht, nur die ungefähre Richtung."
"Das riskieren wir", meinte Clopin freimütig. "Was haben wir schon zu verlieren?"
"Zum Beispiel unser Leben?", fragte Tobar zurück und zog die Augenbrauen hoch. "Besonders verantwortungsbewusst bist du nicht. Wir haben immerhin zwei Kinder bei uns - von den ganzen Gören der Bürger hier ganz zu schweigen. Und ich wollte auch noch nicht sterben."
"Ich weiß genau was ich tue", behauptete Clopin. "Vertrau mir einfach. Es werden sich uns genug Leute anschließen und Frollo wird uns nichts tun."
"Wie kannst du dir so sicher sein?"
"Das ist Intuition." Clopin lächelte sein schelmisches Lächeln, dass es schwer machte, ihm etwas übel aber auch ihn ernst zu nehmen. "Vertrau mir", wiederholte er.
"Ich hoffe, dass du irgendeine Trumpfkarte hast, die du spielen kannst, Clopin…", seufzte Tobar, als er gemeinsam mit dem Anführer der Gruppe und dem Rest des Zuges wieder in den Refrain mit einfiel und den Zug in eine Straße führte, der schräg zu der momentanen Route verlief und die sie sie mit größter Wahrscheinlichkeit noch vor Notre Dame mit Frollos Zug zusammenstoßen lassen würde.
Clopin hatte keine Trumpfkarte und er machte sich so viele Sorgen wie Tobar, aber anders als sein, nun, um ihn als Freund zu bezeichnen war es zu früh, sein Gefährte trug er diese nicht offen zur schau. Ein Blick über die Schulter sagte ihm, dass die anderen Zigeuner offensichtlich von der Stimmung der tanzenden und singenden Bürger erfasst worden waren; im Anflug von Brüderlichkeit teilten die ehemaligen Tavernenbesucher sogar ihr Bier mit ihnen und immer mehr Fackeln zeigten sich. Der Zug war ein überdimensionaler Leuchtkäfer geworden, der jede Straße, in der er einrückte, beleuchtete und die Leute anlockte. Clopin selbst schien sich in dieses bizarre Lichtspiel der Flammen völlig einzufinden und mit den anderen gedankenlos zu lärmen, aber dem war nicht so. Noch hatte er den Überblick, aber sein schauspielerisches Talent und die Freude die er an eben diesem Akt des Schauspielerns und als Anführer des Zuges empfand, ließen nicht zu Tage treten, dass er die ganze Zeit stumm aus- und gegenrechnete wann sie mit wie vielen Soldaten fertig werden könnten.
Sollen sie doch kommen, Frollos hirnlose Soldaten, mit denen werden wir spielend fertig, beruhigte er sich selbst während einer kleinen Atempause, die er beim Singen einlegte, und nahm eine halbvolle Flasche entgegen, die ihm von irgendwem mit ein paar freundlichen Worten in die Hand gedrückt wurde und irgendetwas Alkoholisches enthielt.
Nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte, wandte er sich wieder den Kindern zu. Kako sprach mit hochrotem Kopf und zu Boden gewandtem Blick, wie es Jungen in seinem Alter in solchen Situationen oft taten, mit einem Mädchen in seinem Alter, deren spinnenwebenfeines blondes Haar und porzellanblasse Haut im Schein der Fackeln rötlich schimmerten. Esmeralda hatte ein Kleinkind vor sich auf die Ziege genommen, das sie behutsam festhielt, ein Mädchen mit Massen von braunen Locken auf dem Kopf, dass versuchte die Lieder mitzusingen, indem es die Laute, die es verstand, wiedergab, und begeistert mit den Patschehändchen klatschte. Die anderen liefen noch immer um 'ihren' Sankt Martin versammelt, spielten Fußball mit einem leeren Krug und riefen durcheinander. Clopin grinste einem Jungen, der zufällig zu ihm hochschaute, aufmunternd zu. "Sing du doch mal ein Martinslied, dass du kennst", forderte er ihn auf.
Der Junge zuckte zusammen. "Also, äh, ich kenn' eigentlich gar keine Lieder." Er übelegte kurz. "Aber meine Mutter hat immer das hier gesungen…"
Nun lernte auch Clopin das erste französische Martinslied, dessen Melodie er trotz des angeheiterten Zustandes der meisten Mitglieder des spontanen Chors klar herauskristallisieren konnte, während er gegen den dunklen Himmel schon riesenhaft und mächtig die Türme Notre Dames aufragen sah.
So bunt und ausgelassen, wie Clopins Zug war, so komplett anders war der Zug, den Frollo durch die Straßen führte, deren Seiten von Menschen gesäumt wurden, die mit gesenkten Köpfen (manchmal auch nur, um ihr Gähnen zu unterdrückten) stumm den lateinischen Klostergesängen der Mönche lauschten, die sich in einer etwa fünfzehn Meter langen Reihe hinter dem Pferd des Hauptmannes einreihten. Zehn berittene Soldaten schützten den Zug, aber es gab keine Übergriffe, und so hockten sie mitgelangweiltem Gesichtsausdruck da und starrten ins Leere. An der Spitze saß der ehrwürdige Oberbefehlshaber der städtischen Wache - einen ebenso gelangweilten Blick in die wässrigblauen, geröteten Augen wie seine Untergebenen -, der wie sein Pferd lächerlich übertrieben geschmückt war dafür, dass er einen Mann spielte, der nichts mehr auf der Welt teilen konnte als seinen Mantel, weil er nicht anderes mehr besaß. Sein Pferd wurde geführt von dem Mann, der den Bettler auf mindestens ebenso unglaubwürdige Weise verkörperte, wie Aubert Sauvageau die des Sankt Martin. Er war klein, dürr, ein wichtiger Gerichtsdiener, der Frollo direkt unterstellt war, mit streng zurückgekämmten schwarzen Haaren und was er trug waren keine Lumpen sondern hochwertige Wolltücher, die man im gescheiterten Versuch, den Eindruck abgerissener Kleidung zu erzeugen, mit Kohle angemalt hatte. Auf seinem Gesicht zeichnete sich deutlich ein angewiderter Ausdruck ab, wenn immer er den Blick über die einfach gekleideten Städter schweifen ließ, und an seiner Hand prangten mehrere mit haselnussgroßen Edelsteinen geschmückte Ringe. Frollo selbst flankierte das Pferd des Hauptmanns an der anderen Seite, trug eine Fackel und genoss das Ereignis, das er in solche wohlgeordneten Bahnen geleitet hatte, während seine dünnen Lippen lautlos jedes Wort der Lieder nachsprachen, die die Mönche sangen.
Der Zug der Zigeuner hatte sich mittlerweile noch weiter auf beinahe dreihundert Leute ausgeweitet - jetzt, wo Bürger die überzahl bildeten, schien es den anderen Parisern auch nicht mehr zu gefährlich, sich anzuschließen - als Clopin seine Geistesgegenwärtigkeit bewies und drei Zigeuner als Boten ausschickte, die die möglichen Straßen, die der Zug in Richtung Notre Dame einschlagen konnte, nach den Soldaten auskundschafteten. Zwei kamen mit Entwarnungen zurück, einer mit einem Gefolge von zwei Soldaten, die ihn jagten. Angesichts des großen Zuges, der ihnen da entgegenkam, blieben sie allerdings verblüfft stehen, und so schlüpfte der Zigeuner so schnell es ging zwischen die Feiernden und entwich somit seinen Feinden.
Einen Moment lang sahen die Soldaten sich an. Einer von ihnen war lang und trug einen braunen Schnauzer, der andere dicklicher und mit dem Gesichtsausdruck eines angriffslustigen Hundes versehen. Beide schienen noch recht jung; nicht nur ihr jugendliches Aussehen, auch das unsichere Gebaren das sich im Angesicht dieses offensichtlichen Regelbruchs bemerkbar machte, zeugte davon, dass sie kaum mehr Jahre als Clopin zählten. Nach dem sie sich, das Näherkommen der lärmenden Menge unruhig beobachtend, kurz beraten hatten, bewiesen sie allerdings auch den selben verzweifelten Mut wie der Zigeuner Clopin und traten auf ihn zu - ganz an der Spitze des Zuges, mit der Ziege am Zügel, dem Stolz gehobenen Kinn und umringt von Kindern war er ganz klar als Anführer zu erkennen -, wobei sie allerdings neben ihm herrennen mussten, denn zum Stehen bleiben ließ sich Clopin von zwei Soldaten bestimmt nicht bewegen.
"Zigeuner, was soll dieser Aufstand hier? Ihr wisst genau, dass ihr euch am Martinstag in eure Löcher zu verkriechen habt!", fuhr der größere Clopin an, in dem er seinen Schnurrbart nervös zwischen den Fingern drehte. Doch Clopin hielt nur die Fackel höher und sang demonstrativ langsam den Refrain des Liedes zu Ende, bevor er sich mit freundlichem Lächeln zu dem jungen Soldaten umdrehte.
"Frollo wird uns nicht länger Vorschriften machen", erklärte er im Plauderton.
"Aber er hat andere Umzüge verboten! Erst recht für euch Zigeunerpack, euch hat er gleich den ganzen Martinstag verboten - zu recht!", setzte der dickliche Soldat hinzu.
"Frollo kann den Martinstag nicht verbieten", ertönte eine dünne, aber dennoch von Mut geprägte Stimme - es war Esmeralda, die sprach. "Niemand kann das."
"Wir sprechen nicht mit Kindern", erklärte der Soldat mit dem braunen Schnurrbart hochmütig und über Esmeraldas schwarzgelockten Kopf hinweg. Clopin zog einen Mundwinkel nach oben.
"Sie sagt mehr sinnvolle Dinge als ihr zwei zusammen", bemerkte er mit einer gewissen Gehässigkeit in der Stimme und fuchtelte mit der brennenden Fackel vor dem Gesicht des dickeren Mannes herum. "Also hört ihr gut zu - niemand kann uns den Martinstag und den Bürgern das Feiern verbieten, also feiert mit oder geht uns aus dem Weg, ihr haltet den ganzen Zug auf!"
"Jetzt reicht es! So redet kein Zigeuner mit mir!" Der dicke Soldat packte Clopins dünnen Arm - die Kinder, die die ganze Sache gespannt mitverfolgten, schnappten nach Luft, und Esmeralda drückte den Griff des Dolches in ihrer Hand fester - und versuchte, ihn zu sich zu ziehen, aber in diesem Moment schloss sich um seine eigene Schulter eine Hand so fest wie ein Schraubstock.
"Lass ihn in Ruhe", ertönte Tobars dunkle Stimme hinter ihm. Der Soldat drehte sich erbost um, doch als er sah, dass am Gürtel des beeindruckend großen Zigeuners vor ihm die Scheide eines nicht allzu kleinen Schwertes baumelte und sein finsteres Gesichtsausdruck klar machte, dass er nicht stoppen würde die ausgelassene Heiterkeit des Zuges etwas zu bremsen in dem er von ihm gebrauch machte, ließ der Soldat Clopin eilig wieder los.
"Und jetzt haut ab", meinte Tobar unwirsch und stieß den Soldaten weg von sich. "Und lasst euch hier nicht mehr blicken. Frollo hat nicht mehr die Kontrolle über uns Zigeuner."
Das war zwar hoffnungslos übertrieben, aber eine Flasche Wein, Clopins Sorglosigkeit und Zuversicht und die Nähe zu dem ausgelassenen Festzug ließen selbst Tobar in seinen Äußerungen unvorsichtig werden.
Die beiden Soldaten hingegen, reichlich eingeschüchtert, liefen um Frollo zu benachrichtigen - wie auch der Bote, den der Leutnant losgeschickt hatte, dessen Soldat den Zigeunerzug als erstes entdeckt hatte. Doch erstere wagten nicht, den gleichen Weg wie der Zug zu nehmen und mussten sich einen Umweg durch das verwirrende Straßensystem von Paris suchen, letzterer eine längere Strecke zurücklegen.
So kamen beide nicht rechtzeitig an.
Frollos Zug hatte eine Art Halbkreis gezogen, der sie vom Justizpalast über die Pont au Change von der Île de la Cité herunterführte, dann Richtung Nordwesten über den Quai de la Mégisserie, der in den Quai du Louvre auslief, dann in südwestlicher Richtung über die Pont des Arts auf die andere Uferseite der Seine. Von dort aus hatten sie sich, wie zuvor schon, in Ufernähe gehalten und waren dem südöstlich verlaufenden Quai de Conti, der in den Quai des Grands Augustins überging gefolgt. Von dort aus gelangten sie auf die Petit Pont, die Brücke die sie auf die breite Rue de la Cité und somit wieder auf die Île de la Cité zurückführte.
Fortsetzung
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