Apr 24, 2011 18:03
HE SCARES ME SO - Jesus Christ Superstar @ Ronacher, Ostern 2011
Wahre Lobeshymnen hatten mich in den letzten Jahren über JC Superstar erreicht - von Standing Ovations wurde berichtet, von Perfektion und von einer nie erlebten Begeisterung. Die Ankündigung, daß die Vereinigten Bühnen Wien dieses Stück wieder zu Ostern mit Drew Sarich in der Hauptrolle zeigen würden, trieben meine Neugierde und meine Spannung bis ins Unermeßliche. Und wenn man mit solchen Erwartungen ins Theater geht, gibt es nur zwei Möglichkeiten, wie man es hinterher wieder verläßt: Entweder ist man unglaublich enttäuscht, weil die Erwartungen nicht annähernd erfüllt wurden, oder man wird so unvorstellbar positiv überrascht, daß man nicht weiß, wie man das Erlebte auch nur ansatzweise in Worte fassen soll...
Traditionell schon wird JC Superstar in Wien konzertant aufgeführt. Kein großes Bühnenbild, keine aufwändigen Kostüme, dafür aber eine erstklassige Besetzung.
Einen aus dieser Darstellerriege kannte ich nicht. Und leider war genau dieser auch meine größte Enttäuschung. Mischa Mang als Judas empfand ich als Fehlbesetzung. Ein Mann mit einer guten Rockstimme, der jedoch in dieser wichtigen und ausdrucksstarken Rolle blaß und farblos blieb. Viel Selbstdarstellung, wenig Glaubwürdigkeit. Das angedeutete Nägelkauen, als er „nervös“ zwischen Annas und Kaiphas stand, wirkte für mich aufgesetzt und unecht. Sein Blick schwankte ständig zwischen verschrecktem Kaninchen oder einem aus dem Irrenhaus Entlaufenen. Aber Judas war kein Irrer. Judas war ein zutiefst zerrissener Mensch, für den die Sache aus dem Ruder zu laufen drohte. Einer, der das Richtige tun wollte, aber zu den falschen Mitteln gegriffen hat. Auch die Sterbeszene war enttäuschend: Verzweiflung? Reue? Angst? Leider nein. Und Mischa hatte auch ziemliche Mühe, die hohen Töne, mit denen er wohl seine Panik ausdrücken wollte, zu halten. Schade.
Caroline Vasicek hat meinen Blick auf Maria Magdalena grundlegend verändert. Bisher empfand ich Maria Magdalena als die Alibifrau der Kirche, die nur deutlich machen sollte, wie gütig Jesus war, daß er sich auch solch gefallener Mädchen angenommen hat. Doch Carolina‘s Magdalena war anders - eine starke Frau, die sich plötzlich mit ungeahnten Gefühlen für einen Mann konfrontiert sieht, vor denen sie sich anfangs fürchtet („He‘s just one more“) und doch nicht fliehen kann. In Caroline‘s Augen, in ihrer Stimme fand sich Liebe pur und ihr letztes „I love him so“ war nur noch ein Hauch mit absolutem Gänsehautfeeling. Sehr berührend auch, wie sie Jesus bei „Everything‘s alright“ beruhigt und wie ein Baby in den Schlaf gewiegt hat.
Alexander di Capri als Pilatus hat mich positiv überrascht. Gut, „Pilate‘s Dream“ war keine Glanzleistung. Diese weichen, gefühlvollen Lieder sind nicht Seins, und ich mag es auch nicht, wenn er die Vokale so unnatürlich in die Länge zieht. Beeindruckt war ich bei „Jesus and Pilate“. Sehr intensives Schauspiel zwischen ihm und dem am Boden liegenden Jesus. Man sah seinem Pilatus an, daß es ihn innerlich fast zerrissen hat, Jesus zum Tod verurteilen zu sollen. Und wie er fieberhaft nach einem Ausweg gesucht, Jesus fast angebettelt hat, ihm doch einen Grund zu geben, ihn nicht kreuzigen zu müssen.
Rob Fowler hat als Simon Zelotes wie erwartet die Bühne gerockt. Eine tolle Stimme, für die es verdientermaßen den zweitgrößten Applaus gab. Völlig konträr dagegen sein Annas, den ich schon für seine arrogante Haltung und seinen blasierten Gesichtsausdruck einfach nur gerne geschüttelt und von der Bühne geworfen hätte.
(Bemerkung am Rande: Ich fand es sehr cool, daß Drew, der weiter hinten auf der Bühne stand, die ganze Zeit mitgerockt ist. Bei ihm merkt man einfach, daß Musik sein Leben ist.)
Dennis Kozeluh als Kaiphas sah mit dunkler Sonnenbrille und Ledermantel aus, als wäre er direkt aus Matrix entsprungen. Und die Tiefe seiner Stimme ist schon sehr beeindruckend.
Drew Sarich als Jesus Christus oder: Wie kann ein Mensch nur *so* singen? Viel zitiert, deswegen aber nicht weniger wahr: Drew Sarich spielt die Rolle des Jesus nicht, er lebt sie. In jeder Sekunde, mit jedem Blick, mit jedem Ton und mit jeder Geste. Es schmerzt, wenn er nach seiner Verhaftung die am Rücken „gebundenen“ Hände löst, um zu singen, und sie selber keine Sekunde später so unbarmungslos wieder zurückreißt, als würden zwei Wärter hinter ihm stehen. Er ist sich auch nicht zu schade dafür, mit dem Gesicht am Boden zu liegen - gedemütigt, verspottet und geschlagen.
Dieser Jesus ist auch nicht der strahlende, perfekte Messias, der zwar am Ölberg mal kurz zweifelt, sich aber ansonsten willig in sein Schicksal fügt. Drew‘s Jesus hat viele Facetten: Er liebt, hofft und vergibt. Aber er ist auch voller Wut, Zorn und Angst und in manchen Szenen verdammt selbstgefällig.
Sehr schön dargestellt beim Hosanna. Man sah ihm an, wie sehr er es genoß, so gefeiert und hofiert zu werden. Ich möchte sagen, daß es fast schon was selbstherrliches an sich hatte, als er von seinen Anhängern auf die Schultern gehoben wurde. Doch innerhalb einer Sekunde änderte sich alles. Nämlich als die Frage gestellt wurde: „Would you die for me?“. Das Lächeln und Strahlen erlosch und in seinen Augen stand deutlich die Frage: „Was? Sterben? Das war nicht ausgemacht!“
Die Tempelszene war sehr cool. Jesus, der auf das Gerüst am Bühnenhintergrund kletterte und seine Wut auf die Wucherer rausschreit. Doch binnen Sekunden verrauchte all seine Wut und Aggression, als er die vielen Kranken und Verzweifelten sah. Anfangs noch versucht, jedem zu helfen, begannen die Menschen, ihn zu umzingeln, an ihm zu zerren und man gewann den Eindruck, als würden sie ihn mit ihren Armen und Händen in ertrinkende Tiefen ziehen wollen, bis er schließlich selbst erkennen mußte: „There is too many of you!“
Gethsemane ist ein Lied, das einem die Kehle zuschnürt und das Gefühl gibt, es keinen Moment mehr länger ertragen zu können. Hochemotional und voller Dramatik, ein Wechselbad der Gefühle von einem auf den anderen Moment.
Am Anfang war Jesus noch ganz leise und sacht, fast wie ein kleines Kind, das den Vater bittet, ihn doch zu verschonen, man möchte fast sagen, ihn nicht zu bestrafen. Doch schon das „take this cup away from me“ ließ seine Verzweiflung spüren, und plötzlich sprang er in diese Wut, als er begriff, daß sein Schicksal eigentlich besiegelt war, er sich aber noch nicht damit abfinden konnte: Sag, daß es nicht wahr ist!!! Warum ich?!?! Was hab ich falsch gemacht?!?! Sein Blick war festgehaftet gen Himmel gerichtet, einen imaginären Jemand, Gott, fixierend - voller Angst, panisch, vorwurfsvoll. So ergreifend, daß einem dabei das Gefühl beschlich, Gott würde jede Sekunde vom Himmel herabsteigen, um sich bei seinem Sohn für alles zu entschuldigen. **
Drew bringt sich bei diesem Lied fast selber um, so sehr steigert er sich in diese unterschiedlichen Gefühle rein. Sein Schauspiel ist packend und stark, und die Verzweiflung so greifbar, daß man als Zuschauer weinen, schreien und toben möchte - alles zur gleichen Zeit, aufgrund dieser unfaßbaren Ungerechtigkeit, die diesem Mann widerfährt.
Ich liebe, liebe, liebe diese hohen und heiseren Töne, die niemand so singen kann wie Drew und mit denen er seine ganze Panik und Pein in die Welt hinausschreit.
Gethsemane tut weh. In mir hat sich alles zusammengekrampft und irgendwann ist mir bewußt geworden, daß ich mir selber die Finger brechen werde, wenn ich nicht endlich loslasse. Ich habe gezittert wie Espenlaub und gedacht, ich ertrinke in diesem Meer von Tränen, das mir in Sturzbächen die Wangen runtergeströmt ist. Noch nie zuvor bin ich während eines Stückes zum Applaus aufgestanden. Aber nichts und niemand hätte mich in diesem Moment noch auf meinem Sessel halten können.
Zum Durchatmen jedoch blieb keine Zeit.
Die Auspeitschung war wie Folter - Folter für die Seele. Und ein großartiges Beispiel dafür, wie intensiv Vorstellungskraft sein kann.
Man sah keine Peitsche, man hörte nur die Hiebe. Aber man sah Drew, der auf der Bühne kniete, die Hände auf den Rücken gebunden. Und man sah in sein Gesicht, in dem sich die Qualen in jeder Sekunde bis auf‘s Äußerste widerspiegelten. Jeder Hieb war anders - manche ertrug er fast stoisch, unter einigen brach er beinahe zusammen und bei anderen hat er einfach nur geschrieen. Ich wollte meinen Blick abwenden, um es nicht länger ertragen zu müssen, weil mich jeder Peitschenhieb selbst bis ins Mark getroffen hat. Und doch war genau das völlig unmöglich - zu fesselnd und zu ergreifend war das, was Drew auf der Bühne bot.
Bei „Herodes Song“ dachte ich bisher immer: Was für ein kluger Schachzug von Andrew Lloyd Webber, mitten in all dem Leid und den starken Emotionen eine solche Revuenummer einzubauen. Einmal durchatmen, bitte. Jetzt weiß ich, daß Mr. Webber noch viel genialer ist als angenommen: Denn das Lied ist keine leichte Kost, es geht ganz tief unter die Haut, und man ist verdammt dazu, machtlos mitanzusehen, wie Herodes den ganzen Hohn und Spott über dem wehrlosen Jesus ausgießt. Als er ihm dann auch noch diese grellbunte Brille auf die Nase gedrückt hat, hätte ich ihn am liebsten angeschrieen, so verzweifelt und hilflos hab ich mich gefühlt.
Das Ende schmerzt. Der gekreuzigte Jesus befiehlt seinen Geist zu Gott und verläßt die Bühne, während zwei Kreuze im Bühnenhintergrund langsam zu brennen beginnen. Die Instrumentalvariante von Gethsemane ist so unendlich traurig und alles, was einem bleibt, ist wie gebannt auf diese zwei brennenden Kreuze zu starren, hilflos gefangen in einem Wirrwarr von Gefühlen, mit denen man versucht, fertigzuwerden. Ich habe noch nie erlebt, daß so viele Menschen um mich herum geweint haben. Und ich hab mich selbst dabei erwischt, wie mir irrationale Gedanken wie „Das kann nicht sein!“ und „Er darf nicht tot sein!“ durch den Kopf geschossen sind.
Die Musik endet, die Feuer verlöschen, absolute Stille im Zuschauerraum. 10 Sekunden, 20 Sekunden, 30 Sekunden - man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Ergriffenheit jedes Einzelnen war spür- und greifbar und niemand wagte es, diese zu stören. Manchmal ist Stille die fast größere Auszeichnung als Applaus. Irgendwann hat sich doch jemand „erbarmt“ und dann ist das Theater förmlich explodiert. Frenetischer Beifall, Jubel, Pfiffe, wie noch nie erlebt. Fünf oder sechs Vorhänge. Meine Hände schmerzten und doch hätte ich noch ewig dort stehen können, weil es einfach so unglaublich großartig gewesen ist.
Fazit:
Diese Version von Jesus Christ Superstar ist nichts für zarte Seelchen. Sie geht ganz tief unter die Haut, zwingt einen mitzufühlen und mitzuleiden, manchmal fast bis zur Unbarmherzigkeit. Ich war noch niemals nach einer Show so unfaßbar kaputt und emotional leer. Drei Shows, drei Achterbahnfahrten. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich eine vierte Show noch durchgestanden hätte.
Die "Hauptschuld" daran trägt ohne Zweifel der überragende Hauptdarsteller:
Drew Sarich spielt mittlerweile in seiner ganz eigenen Liga. Er variiert seine Stimme so perfekt in den einzelnen Gefühlslagen, daß man sich fragt, ob dieser Mann schon jemals falsch gesungen hat. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch bereit sein kann, einen solchen Seelenstriptease auf der Bühne abzuliefern, so viel von sich selbst preiszugeben und sich dabei fast auszuradieren.
Doch die größte Kunst, die Drew in absoluter Perfektion beherrscht, ist es, aus den leblosen Hüllen seiner Rollen Menschen werden zu lassen. Menschen mit all den Facetten und Gefühlen, die man darstellen kann. Und genau darum packt, fasziniert und begeistert sein Jesus und dessen Schicksal so sehr. Weil er uns genau da trifft, wo es am Meisten weh tut. Nämlich mitten im Herz.
Besetzung:
Jesus - Drew Sarich, Judas - Mischa Mang, Maria Magdalena - Caroline Vasicek, Kaiphas - Dennis Kozeluh, Simon/Annas - Rob Fowler, Pilatus - Alexander di Capri, Petrus - Norbert Kohler, Herodes - James Sbano, Soulgirls - Cornelia Braun, Melanie Ortner, Marle Martens
Ensemble:
Angelina Markiefka, Jennifer Pöll, Barbara Schmid, Dora Strobel, Robert D. Marx, Gernot Romic, Sebastian Smulders, Florian Theiler
** frei zitiert nach Barbara Sailer, facebook Gruppe "Tanz der Vampire im Ronacher (Wien), 24. April 2011 um 21:43 Uhr
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