Robert Menasse: Selige Zeiten, brüchige Welt

Sep 26, 2010 20:20

Entgegen meiner Vorankündigungen möchte ich nun doch zunächst diese Rezension vorziehen ...



Leo Singer, Sohn wohlhabender, jüdischer Exil-Heimkehrer im Wien der 60er Jahre und eigentümlicher Antiheld dieses Romans, ist der Inbegriff dessen, was man für gemeinhin unter einem ewigen Philosophiestudenten und stets zaudernden, wenngleich auch nicht unbegabten Taugenichts versteht .
Geradezu besessen von Hegels Phänomenologie des Geistes und der grandiosen Vision einer Umkehrung und damit Vollendung des dialektischen Gedankens, versäumt es der willensschwache Singer entgegen besserer Möglichkeiten jedoch immer wieder aufs Neue, auch jenseits des akademischen Betriebs auf eigenen Beinen zu stehen. Stattdessen leidet er als unfreiwilliges Muttersöhnchen beständig unter dem harschen Regiment einer überbehütenden und dennoch lieblosen, pedantischen und nie zufrieden zu stellenden Mutter. Und obschon Singers Geist nichtsdestotrotz stets rege bleibt und sich unentwegt an der Lösung theoretischer Problemstellungen und Streitfragen versucht, verstreichen sowohl seine Wiener Studentenjahre, als auch die späteren Jahre seines gelehrten Oblomow-Daseins nahezu ausnahmslos in behaglich lähmender Untätigkeit und Lethargie, ohne dass es ihm jemals gelingt, etwas von tatsächlicher Bedeutung zu Papier zu bringen.
Die psychisch labile Judith Katz, eine frühere Kommilitonin, abgetakelte Literaturwissenschaftlerin und ebenfalls Kind jüdischer Emigranten, entwickelt sich in dieser langen Phase des verhinderten Aufbruchs schließlich zu Singers wichtigster Bezugsperson und Wegbegleiterin. Und obgleich Singers verhaltene Annäherungsversuche letzten Endes meist an seiner ungelenken, unerfahrenen Schüchternheit und der grundsätzlichen Verschiedenheit beider Charaktere scheitern, erweist sich ihre wiederkehrende Gegenwart für ihn als inspirativ. Sie, seine Fleisch gewordene Antithese, gegen die es sich schreibend aufzulehnen gilt, fungiert fortan als Identitätsstifterin und Quell all seines philosophischen, jedoch immer bloß fragmentarischen Schaffens. Der Beginn einer selbstzerstörerischen Amour fou unter Intellektuellen, die angesichts seines eigenen Scheiterns als Literaturschaffender schließlich in einer letzten, drastischen Maßnahme Singers gipfelt …

Menasse versteht sich wie kein anderer zeitgenössischer Autor der deutschsprachigen Literatur auf großformatig angelegte, detailverliebte Außenseiter-Erzählungen. Auch Selige Zeiten, brüchige Welt ist ein solcher seiner schriftstellerischen Geniestreiche. Im Gestus niemals übersteigert pompös oder schwülstig und trotzdem immer ausdrucksstark, skizziert er mit präziser Feder, schlichten, aber keinesfalls aller Poesie entsagenden Worten und einem untrüglichen Sinn für leise Zwischentöne und die Tragikkomik beider Hauptfiguren deren langjährigen Weg hin zum unausweichlichen, gemeinsamen Ruin. Bei diesen handelt es sich zwar ohne Zweifel um der Literaturwissenschaft geläufige Prototypen gebrechlicher Neurotiker, was dem Roman dank der glaubwürdigen, plastischen, gängige Klischees stets gekonnt umschiffenden Darstellung jedoch keinerlei Abbruch tut.
Trotz der zuweilen unerträglich grotesken Unbeholfenheit seiner lebensunfähigen Protagonisten, gelingt es Menasse gleichwohl immer wieder, den Leser aufs Neue für diese einzunehmen. So leidet und fiebert man beispielsweise ganz ohne anmaßendes Pathos mit, wenn sich Singers sperrige Erkenntnisse zu Hegels Philosophie ungeachtet aller Anstrengungen dennoch nie zu einem großen, niedergeschriebenen Ganzen fügen wollen und kann sich eines stillen Schmunzelns trotzdem nicht immer völlig erwehren.
Doch Menasse weiß auch formvollendet zu verstören. Er dringt tief ein in die bodenlosen Abgründe der menschlichen Psyche und beschreibt die aus jenen finsteren Winkeln emporsteigenden Ungeheuerlichkeiten doch derart nüchtern, reserviert und untheatralisch, dass es einen ob solcher Abgeklärtheit schaudert. Man fragt sich schließlich bestürzt, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass kultivierte Menschen von solcher Bildung wie Katz und Singer sich derart kompromiss- und schonungslos zugrunde zu richten vermochten, ohne dass weiter Anteil daran genommen wird. Was am Ende bleibt, ist eine alarmierte, bitter auf allem lastende Fassungslosigkeit, die auch der halbversöhnliche Schluss nicht völlig neutralisieren kann.

Fazit:
Selige Zeiten, brüchige Welt ist ein radikales, unbedingt lesenswertes und tiefgründiges Buch für Freunde anspruchsvoller Literatur; ein Juwel von einem modernen Roman, gespickt mit unzähligen philosophischen Bonmots, der seinesgleichen gegenwärtig noch sucht. Ein niemals langatmiges, hochbeachtliches, gelungenes Werk über den Entstehungsprozess eines ebenso ambitionierten, jedoch niemals gelingenden Werkes.
Selbst Menasses stetiger Rückgriff auf Hegels komplexe Weltanschauung ist hierbei nicht sonderlich problematisch und dürfte sich im Kontext auch dem geisteswissenschaftlich nicht sonderlich kundigen Laien erschließen, ohne den übrigen Lesegenuss erheblich zu vermindern.
5 von 5 Sternen.

Teresa Maienschein

Robert Menasse: Selige Zeiten, brüchige Welt
5,95 Euro (Taschenbuch)
366 Seiten
Suhrkamp Verlag Frankfurt/M.; 1. Auflage 2002
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3518399415

robert menasse, roman, modern

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