Zur Feier der ersten vernünftigen Mathe-Vorlesung in meinem (kurzen) Studentenleben (und weil ich das schon seit ungefähr zwei Wochen tun will): Zitate!
Und wehe, mich fragt noch einmal jemand, was ich an Zahlen und Mathe so toll finde. Oder an Daniel Kehlmann. - Das hier beantwortet wirklich alles.
Erinnerst du dich noch an deine Schulzeit? An die analytische Geometrie? Keine Angst, ich habe nicht vor, dich mehr als nötig zu langweilen. Aber ich muss dir eine bestimmte Kurve schildern und ihre seltsamen Erlebnis. Ein einfaches Beispiel: die Funktion y = 4/x. Setzen wir für x vier ein, bekommen wir... - richtig: eins. Bei drei erhalten wir vier Drittel oder auch 1,3 periodisch, eine dumme Zahl ohne Humor oder Eleganz. Nehmen wir zwei... - jawohl, Ergebnis auch zwei. Eins: Ergebnis vier. Und null?
Eben. Ich möchte wissen, ob es einen Menschen gibt, dem es nicht durch und durch schwindlig wird, dem nicht kalte Schauer durch den Magen laufen und der nicht plötzlich die eisige Weite des Weltalls um sich spürt, wenn er nur ernsthaft versucht, sich vorzustellen, was mit der Vier geschieht, wenn sie durch null dividiert wird. Der Mathematiker macht es sich leicht und schreibt mit dünner Feder n. d. neben die Rechnung, nicht definiert, das Eingeständnis, dass seine Wissenschaft aus den Fugen springt, wenn sie versucht, den puren Schrecken und die reine Ewigkeit zu berühren. Und die Geometrie? Sie zeichnet auf, wie die Kurve auf beiden Seiten des Koordinatenkreuzes langsam ansteigt, um sich plötzlich, je näher sie der Achse kommt, stärker und stärker zu neigen und dann, auf den letzten Millimetern, in die Höhe zu schießen und über die Blattkante hinaus ins Nichts. Man nennt das eine Unendlichkeitsstelle, und die Figur, die entsteht, sieht den Umrissen eine dickbauchigen Blumenvase ähnlich, deren Hals, anstatt anständigerweise nach ein paar Zentimetern zu Ende zu sein, sich irgendwo im wolkigen Himmel verliert. Ich weiß noch, wie ich mich an den Kanten meines schlingernden Tisches festhalten musste, als ich zum ersten Mal den Lauf dieser armen und einfachen Kurve verfolgte: Sie kommt aus dem Bereich niedriger Alltagszahlen, steigt vor unseren Augen auf, nimmt für einen Moment den Wert „unendlich“ an und sinkt wieder ab, dorthin, woher sie gekommen ist. Aber sie wart dort, um Himmels willen, sie war doch wirklich dort! Unter unserem Blick hat eine Linie, das Produkt unserer kühlen Berechnung, die Grenzen der Welt überwunden und kehrt nun wieder, als wäre weiter nichts passiert.
Daniel Kehlmann
Beerholms Vorstellung