Jul 21, 2008 22:16
Das Wetter war ziemlich mittelmäßig, denn es war nicht wirklich schlecht, aber auch nicht so richtig gut. Dunkle Wolken verschleierten den Blick auf den Himmel und ließen alles ein wenig trostlos und grau wirken. Der Wind war schneidend, aber wenn er nicht wehte war es eigentlich ganz angenehm und doch verhießen die Wolken nichts Gutes. Na ja, ich war schlechtes Wetter mittlerweile gewohnt. Trotzdem schloss ich die obersten Knöpfe meines Mantels und klappte den Kragen hoch.
Langsam blickte ich mich um, um zu sehen wo genau das Taxi mich abgesetzt hatte. Ich hatte dem Fahrer nur gesagt, dass er mich nach Domino bringen sollte. Wohin genau war mir im Prinzip egal gewesen.
Ich hatte aus dem Fenster geschaut und mich gefragt was ich hier tat. Warum genau ich hier war. Genau wie ich mich das schon den ganzen Flug über gefragt hatte. Genau wie ich mich das auch jetzt noch fragte, während ich hier auf der Straße stand und mich etwas ratlos umsah.
Es dauerte nicht sehr lange bis ich bemerkte, dass ich in der Nähe meiner alten Schule stand. Direkt im Stadtzentrum.
Okay, damit wäre der einfache Teil erledigt. Ich wusste wo ich war. Die schwierigere Frage war, wohin ich gehen sollte und erneut durchzuckte mich die Frage warum zum Teufel ich eigentlich hier war.
Minutenlang blieb ich unschlüssig stehen und sah von links nach rechts und wieder zurück nach links. Der eine Weg sah genauso gut oder schlecht aus wie der Andere. Was die Wahl irgendwie nicht einfacher machte. Oh natürlich war ich nicht einfach nur so zum Vergnügen hier. Sicher nicht! Ich hatte ein Ziel. Nur hatte ich es nicht besonders eilig selbiges zu erreichen.
Schließlich seufzte ich tonlos und zog resignierend die Schultern ein wenig höher. Es brachte mich schließlich nicht weiter, wenn ich den ganzen Tag hier stand und überlegte welcher Weg der Beste wäre. Ich war schließlich nicht Alice und das hier war nicht das Wunderland. An einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, hätte ich vielleicht über diesen Vergleich geschmunzelt. Doch so wandte ich mich einfach nach links und marschierte drauf los.
Ich merkte schnell, dass ich mich dem Stadtkern näherte. Die Leute, die an mir vorbeihasteten, wurden zahlreicher. Die Bürgersteige und Straßen füllten sich, während ich weiter stoisch einen Fuß vor den anderen setzte und mich nicht wirklich darum kümmerte wohin ich ging oder wer mir entgegen kam.
Es waren eine Menge Leute unterwegs. Zumindest für Domino-Verhältnisse, doch ich war schlimmeres gewöhnt, weshalb ich es eigentlich noch recht ruhig fand. Trotz der vielen Menschen. Trotz der hupenden Autos. Trotz der kreischenden Kinder. Ich konnte sie perfekt ausblenden und die Geräusche, die sie machten, drangen nur wie entferntes Meeresrauschen an mein Ohr. Es interessierte mich eigentlich nicht.
Ich sah mich nicht wirklich um, erkannte aber trotzdem, dass sich nicht viel verändert hatte. Hier und da waren die Fenster eines Geschäftes, welches ich noch gekannt hatte, mit Brettern vernagelt. Einige Geschäfte waren einfach verschwunden, andere waren modernisiert oder durch neue ersetzt worden. Zwischendrin fehlte ein Haus, oder es war ein neues gebaut worden. Aber im Großen und Ganzen war immer noch alles beim Alten. Ein Lächeln huschte über meine Lippen, obwohl mir eigentlich nicht nach Lachen zu mute war. Mir war schon seit Tagen nicht mehr nach Lachen zumute und trotzdem lächelte ich, während ich die Straße entlang wanderte.
Zehn Jahre. Zehn lange Jahre war ich nicht mehr hier gewesen und trotzdem hatte sich überhaupt nichts verändert. Oder zumindest nicht viel.
Langsam ging ich weiter, bog um einige Ecken, wechselte ein paar Mal die Straßenseite, folgte aber ansonsten einfach dem Weg, der vor mir lag und wartete wo er mich hinführen würde. Nach einer Weile wurden die Menschen auf den Straßen weniger, woraus ich schloss, dass ich das Stadtzentrum langsam hinter mir ließ.
Meinen Blick hatte ich auf den Asphalt vor mir geheftet. Ich war schließlich nicht zum Sightseeing hier und eigentlich interessierten mich die Gebäude und Geschäfte genauso wenig wie die Menschen die zufälligerweise zur gleichen Zeit unterwegs waren wie ich. Doch ein plötzliches Gefühl ließ mich abrupt stehen bleiben und den Blick heben. Ich wusste nicht so genau wo es herkam und auf den ersten Blick sah die Straße, in der ich stand, nicht viel anders aus als die restlichen Straßen, durch die er bis jetzt gegangen war. Doch das Gefühl blieb. Hartnäckig setzte es sich in mir fest und ich wusste nicht warum. Schnaubend wollte ich weiter gehen und es ignorieren, als mein Blick plötzlich zu dem kleinen Straßenschild glitt.
Im Moment des Erkennens machte mein bisher so träges Herz einen Satz. Yugi! Das hier war Yugis Straße. Die Straße in der er wohnte, stellte ich erfreut fest. Ich drehte mich um und erwartete beinahe Großvater Mutou zu sehen wie er vor der Tür des Ladens fegte. Wie er aufsah und mir winkte und mir über die Straße zurief, dass sie neue Duell Monsters Karten hatten. So wie er es früher so oft getan hatte.
Doch natürlich wurde ich enttäuscht. Als ich mich umdrehte war da kein Großvater der fegte. Da war niemand. Nicht einmal der Spieleladen war noch da. Da, wo früher das kleine gemütlich Haus der Mutous gestanden hatte, in dem ich so viel Zeit verbracht hatte, ragte nun ein riesiger Gebäudekomplex aus Glas und Stahl in den Himmel hinauf. Er war fort! Der Spieleladen war fort!
Ein trauriges Lächeln erschien auf meinen Lippen, während sich mein Herz ein wenig zusammen zog. Vielleicht hatte sich doch mehr verändert als ich geglaubt hatte. Als ich zu glauben bereit gewesen war… Aber was hatte ich denn auch erwartete? Ich war sicher nicht der einzige gewesen, den es in die Welt hinaus gezogen hatte. Sicher waren auch einige der anderen fort. Hatten ihre Brücken und Zelte abgebrochen und waren weiter gezogen.
Plötzlich erinnerte ich mich wieder daran, wie ich auf dem Flughafen gestanden hatte. Vor zehn Jahren. Das Herz schwer vor Trauer, unterdrückter Wut und verletztem Stolz, aber fest entschlossen Domino zu verlassen und nie wieder zurück zu kehren. Und niemand war gekommen um mich aufzuhalten. Niemand. Und so war ich in den erst besten Flieger gestiegen, der mich raus gebrachte hatte. Raus aus Domino. Raus aus Japan und weit weg von dem Menschen, der mir so sehr wehgetan hatte und den ich trotzdem noch liebte.
Wie lange hatte ich schon nicht mehr daran gedacht? Und doch war die Erinnerung daran noch so frisch als wäre es gerade erst gestern gewesen. Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war vorbei. Lange vorbei. Das war zehn Jahre her und jetzt… jetzt war es sowieso zu spät.
Ich warf dem großen, modernen Gebäudekomplex noch einen letzten Blick zu, dann wandte ich mich ab und ging weiter. Schließlich war ich nicht hier um einen Trip in meine Vergangenheit zu machen. Oder vielleicht doch?
Der Wind frischte auf und automatisch zog ich die Schultern etwas höher, vergrub meine Hände tiefer in den Taschen des Mantels. Ich hätte nicht kommen sollen, dachte ich zum wiederholten Mal. Ja, ich hätte in London bleiben sollen. Dort wo ich mittlerweile hingehörte. Dort wo Leute waren die mich mochten und sicher vermissen würden, wenn ich nicht mehr da wäre. Dort wo ich jemanden gefunden hatte, den ich liebte, der sich von mir lieben ließ und der bedingungslos zurückliebte. Oder zumindest so bedingungslos wie Menschen lieben konnten. Denn im Prinzip war Liebe doch immer egoistisch und ein Wort wie ‚bedingungslos’ wollte da so gar nicht reinpassen.
Eigentlich hatte ich mit meiner Vergangenheit und meinem Leben hier in Domino abgeschlossen. Zumindest weitestgehend. Und abgesehen von einer gelegentlichen Weihnachtskarte von Tea und einem alljährlichen Anruf zum Geburtstag von Yugi, bei dem wir uns die meiste Zeit anschwiegen anstatt zu reden, hatte ich eigentlich keinerlei Verbindung mehr zu meinem alten Leben.
Ich hatte mich nicht gemeldet, nachdem ich damals so Hals über Kopf verschwunden war, genauso wenig wie jemand von meinen Freunden versucht hatte mich zu finden. Oder vielleicht hatten sie es auch versucht und ich war einfach unauffindbar? Ich wusste es nicht und im Prinzip spielte es auch keine echte Rolle.
Ich hatte nie versucht es ihnen zu erklären und sie hatten nie gefragt. Nicht aus Desinteresse, da war ich mir sicher. Sondern aus Angst. Vielleicht auch aus purem Unverständnis. Oder einfach aus Wut. Sie verstanden nicht warum ich einfach gegangen war. Warum ich hatte gehen müssen und warum ich lange Zeit nicht die Kraft gefunden hatte mich bei einem von ihnen zu melden. Sicher hatten sie sich Sorgen gemacht und vielleicht waren sie auch wütend. Ganz sicher waren sie wütend. Ich wäre es auch gewesen und es tat mir leid. Doch ich wusste, dass ich es ihnen nicht würde erklären können.
Ich hatte es einmal versucht. Bei Yugi. Doch es gab so viele Dinge die er nicht wusste, die ich ihm einfach nicht sagen konnte oder vielleicht auch nicht sagen wollte, weil sie meine Privatsache waren. Weil sie nur mir gehörten. Wie es zu erwarten gewesen war, hatte er es nicht verstanden und ich hatte nicht noch einmal versucht es ihm, oder gar einem der anderen, zu erklären. Ich hatte gelernt zu akzeptieren, dass unsere Freundschaft einen Riss bekommen hatte. Einen, den ich einfach nicht wieder kitten konnte. Auch wenn mir das beinahe das Herz brach.
Ich stoppte abrupt, als die Straße plötzlich vor einem großen, schmiedeeisernen Tor endete. Ich ließ den Blick daran hinauf gleiten und rechnete fast damit jeden Augenblick dramatische Musik zu hören, gefolgt von einem Donner. Ich stand vor dem Eingang zum städtischen Friedhof am Stadtrand von Domino. Ein ironisches Lächeln verzog meine Lippen. Es schien wirklich als wollte mich jemand hier haben. Ich hatte nicht bewusst darauf hingearbeitet und doch hatte ich mein Ziel erreicht, obwohl ich jetzt lieber irgendwo anders wäre. Überall, nur nicht hier.
Fast kam ich mir vor wie in einem zweitklassigen Horrorfilm, als ich das Tor aufschob und es leise quietschend zur Seite schwang. Ich fühlte mein Herz gegen meinen Rippenbogen schlagen. Das Blut rauschte leise in meinen Ohren und mein Mund fühlte sich trocken an, als ich schließlich nach kurzem Zögern auf den Weg aus flach gestampfter Erde trat.
Das Erste, was mir auffiel, war die unnatürliche Stille. Es war fast so, als hätte jemand eine Decke über den Friedhof geworfen, welche jedes Geräusch von außen schluckte oder es zumindest seltsam dumpf klingen ließ. Einem plötzlichen Impuls folgend blickte ich auf und rechnete fast damit ein Gebilde aus komisch gefärbter Wolle über mir zu sehen. Doch natürlich sah ich nur den stahlgrauen Himmel über den langsam und gemächlich einige Wolken zogen. Ich kam mir lächerlich vor und fast hätte ich über mich gelacht. Doch ich tat es nicht.
Ich blickte den langen Weg vor mir entlang, der sich irgendwo hinter ein paar Bäumen verlor und der gesäumt war von Grabsteinen jeder Farbe und Form. Die meisten waren klein und in gedeckten Farben gehalten. Nur dort, wo liebende Angehörige Blumen auf die Gräber gepflanzt hatten, blitzte es weiß, blau, violett oder rosa auf. Sonst herrschte braun und grau vor und ich hatte das Gefühl, die Trauer, die hier herrschte, beinahe greifen zu können.
Einen Augenblick fragte ich mich, wie sich eine Blume, die auf ein Grab gepflanzt wurde, wohl fühlen musste. Blumen waren da um den Menschen Freude zu spenden. Um sie lächeln zu lassen, um ihnen Glück zu bringen oder um sie daran zu erinnern das jemand sie liebte. Aber hier war niemand. Niemand der sich an der Schönheit der Blumen erfreuen konnte. Niemand der mehr über ihre nickenden Köpfe oder ihre schön gemusterten Blätter lächeln konnte. Sicher war es ein trostloses Dasein und ich dachte plötzlich, dass keine Blume es verdiente so zu enden.
Leise lächelnd schüttelte ich den Kopf, denn ich konnte beinahe schon deine tadelnde Stimme hören die sagte, dass das wieder mal etwas war, worüber nur ich mir Gedanken machen konnte. Und als nächstes würdest du sicher sagen, dass ich aufhören sollte Zeit zu schinden. Und weißt du was? Du hast Recht. Ich sollte wirklich aufhören hier zu stehen und mir Gedanken über das trostlose Dasein von Friedhofsblumen zu machen.
Erneut blickte ich den Weg entlang, doch dieses Mal straffte ich beinahe unmerklich die Schultern. Ich konzentrierte mich nur auf den Weg und schließlich lösten sich meine Füße von der festgetretenen Erde. Langsam begann ich dem Pfad zu folgen. Hier und da blickte ich auf ein paar der Grabsteine, doch ich machte mir nicht wirklich die Mühe die Namen auf ihnen zu lesen. Ich würde es wissen, wenn ich den Ort gefunden hatte den ich suchte. Da war ich mir sicher.
Eine ganze Weile ging ich zwischen einfachen, flachen Grabsteinen, Madonnenstatuen und kleinen, künstlerischen Schreinen hin und her. Auch wenn es gemein war, sie interessierten mich nicht wirklich. Es gab auch einige ohne Namen, an denen mein Blick einen Augenblick kleben blieb. Hölzerne, beinahe verrottete Einfassungen die nur noch die Umrisse eines Grabes darstellten, welches das Unkraut aber so fest im Griff hatte, dass man nicht mal mehr die Erde sehen konnte. Ohne Grabstein, nur ein verwittertes Kreuz. Vielleicht hatte einmal ein Name dort gestanden den die Witterung hinfort gewaschen hatte. Ich wusste es nicht. Dort lagen Menschen die niemanden hatten. Um die sich niemand kümmerte. Um die niemand trauerte. Die niemand vermisste, obwohl sie nicht mehr da waren. Ich schluckte um den harten Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, los zu werden. Ich zwang mich den Blick abzuwenden und ging weiter. Es machte mich traurig und es erinnerte mich zu sehr daran, dass auch ich einmal geglaubt hatte ich würde so enden. Allein und verlassen. Unbeweint und nicht einmal betrauert.
Die Umgebung änderte sich ein wenig. Die Grabsteine wurden größer, teuerer und gleichzeitig viel unpersönlicher. Hier gab es keine Blumen, nur schwere steinerne Platten, die auf den Gräbern lagen. Hier und da eine Vase in der tapfer ein paar Nelken oder Rosen die Köpfe reckten, so als wollten sie dem Menschen, der unter der Platte verborgen lag, zurufen: Es gibt jemanden der an dich denkt.
Es war ein trostloser Anblick.
Plötzlich blieb ich stehen ohne genau zu wissen warum. Doch das seltsame Gefühl, welches ich schon in Yugis Straße gehabt hatte, war wieder da. Viel stärker und schmerzhafter als zuvor und ich wusste, dass ich angekommen war, auch ohne das ich den Kopf hob.
Minutenlang blieb ich einfach nur stehen und starrte auf meine Füße. Mir fehlte die Kraft aufzusehen. Die Zeit verging oder vielleicht war sie auch stehen geblieben. Im Moment machte das für mich keinen Unterschied.
Doch schließlich zwang ich mich dazu den Blick zu heben. Dazu war ich schließlich hier. Er glitt über kühlen, weißen Marmor. Ich stand vor einem Grab in einem der hinteren Teile des Friedhofs. Hier schien es noch stiller zu sein als vorne in der Nähe des Eingangs. Nicht einmal der Schrei eines Vogels drang bis hierher. Ich schauderte und doch hob ich meinen Blick weiter.
Es war ein Grab wie jedes andere in diesem Teil. Es war noch nicht sehr alt; die große, schwere Marmorplatte, die auch hier den Blick auf die Erde verwehrte, war noch neu und blank poliert. Genauso wie der Grabstein, in den die Platte nahtlos überzugehen schien. Er war strahlend weiß, poliert und völlig unberührt. Kein Name stand dort. Kein Geburts- oder Sterbedatum. Kein Spruch. Kein Nachruf. Gar nichts. Nur behauener, polierter Stein strahlte mir entgehen. Doch ich brauchte auch keinen Namen oder Daten. Ich wusste auch so, dass ich angekommen war wo ich hinwollte. Und ich wusste, dass du es so gewollt hättest. Niemand musste wissen wo du lagst, außer man wusste es bereits.
Als ich dort so stand und auf den Stein hinabblickte musste ich unwillkürlich lächeln. Er war weiß und groß und obwohl die Witterung bereits begann ihre Spuren auf ihm zu hinterlassen war er makellos. Er hob sich von den anderen ab, dominierte mit seiner bloßen Anwesenheit das gesamte Bild. Er war auf eine seltsame Art und Weise präsent, nahm die ganze Szenerie gefangen und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich, obwohl er einfach nur hier stand. Er strahlte eine gewisse autoritäre Arroganz aus, verbreitete aber gleichzeitig eine Art Trost spendendes Licht an einem finsteren Ort wie diesem. Stark, stolz und aufrecht, kühl und unnahbar, aber verlässlich und irgendwie immer da und gleichzeitig in seiner Reinheit so verletzlich wie frisch gefallener Schnee.
Er war wie du, schoss es mir ganz gegen meinen Willen durch den Kopf. Ich streckte die Hand aus. Langsam und zögerlich legte ich sie auf den Stein und erwartete fast, dass er sich genauso warm und seidig anfühlte wie deine Haut. Beinahe war ich enttäuscht, als ich nichts als rauen, kalten Stein unter meinen klammen Fingern fühlte. Etwas in mir wurde plötzlich schwer, fühlte sich kalt und traurig an.
„Er hat dich geliebt, weißt du?“
Die Stimme hinter mir war leise und sanft und doch klangen die Worte überdeutlich in meinen Ohren nach. Aus irgendeinem Grund war ich nicht überrascht ihn hier zu finden. Vermutlich hätte es mich eher erstaunt wenn er nicht hier gewesen wäre.
Ich sagte nichts, nickte nur.
„Er konnte es nur nicht zeigen. Zumindest nicht so, wie er gern gewollt hätte.“ Mit diesen Worten trat er neben mich. Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er war größer geworden, stellte ich sofort fest, war nun beinahe so groß wie ich. Er trug die Haare immer noch lang, doch längst nicht mehr so wirr. Sie waren zurück gekämmt und zu einem eleganten Zopf gebändigt. Nur über der Stirn widersetzten sich einige Haarsträhnen hartnäckig der Zähmung und hingen ihm spielerisch in die Augen. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte, darüber einen schwarzen Mantel. Alles sicher sehr teuer.
Er sah mich nicht an. Sein Blick klebte an dem weißen Stein und auch meine Augen kehren zu ihm zurück.
„Liebe war nie unser Problem.“, sagte ich leise und es war die Wahrheit. Ich wusste, dass du mich liebtest und du wusstest, dass ich dich liebte. Doch es war trotzdem nicht genug gewesen. Nicht genug um glücklich zu werden, zumindest nicht miteinander.
Dieses Mal war es an ihm zu nicken. Lange standen wir einfach nur nebeneinander und ich wunderte mich. Wunderte mich wie gefasst er war. Wie wenige Emotionen sich auf dem blassen Gesicht abzeichneten. Er stand nur da und blickte stumm und ausdruckslos auf das hinab, was noch von seiner Familie übrig geblieben war. Kalter, weißer Marmor.
Ich hatte ihn ganz anders in Erinnerung. Fröhlich und enthusiastisch. Wie eine aufgezogene Spielzeugpuppe, die einfach nicht still halten konnte. Immer mit einem Lächeln und einem Spruch auf den Lippen. Leicht zu begeistern und irgendwie immer viel zu überdreht um wirklich zu seinem unterkühlten Bruder zu passen. Er war so ganz anders gewesen als du. Doch der junge Mann, der nun neben mir stand, schien mit dem Jungen von damals nicht mehr sehr viel gemein zu haben. Er war ruhig und beherrscht, zeigte keine Emotionen. Strahlte nur Würde, Stolz und eine Art kühle Arroganz aus. Wurde man als Geschäftsmann so oder lag es schlussendlich doch irgendwie in der Familie?
„Du warst ziemlich schwer zu finden. Ich hab viele Leute mobilisieren und einige Gefallen einholen müssen um dich aufzutreiben. Nicht mal Yugi wusste so genau wo du bist.“, sagte er schließlich und ich konnte den leisen Vorwurf hören, der in seinen Worten mitschwang. Ich zuckte nur die Schultern. Was hätte ich darauf auch sagen sollen? Ich wusste schließlich schon lange, dass ich ein schlechter Freund war, doch ich hatte meine Brücken abbrechen müssen. Ich hatte versuchen müssen ein eigenes Leben, fernab von allem, aufzubauen und ich hatte es geschafft. Jetzt war für die anderen einfach kein Platz mehr in ihm. Oder war für mich kein Platz mehr in ihren Leben? Ich wusste es nicht und eigentlich spielte es auch kaum eine Rolle. Schon lange nicht mehr.
„Ich bin ein sehr privater Mensch.“, antwortete ich schließlich doch. Ich war ihm keine Erklärung schuldig und doch bot ich ihm eine an. Warum wusste ich selbst nicht so genau.
„Du warst nicht immer so.“
Ich zuckte erneut die Achseln. „Menschen ändern sich.“
Er nickte. Eine ruhige, sehr geschäftsmäßige Bewegung, wie ich fand und immer noch starrte er auf den Stein vor sich. Genau wie ich. Erneut kehrte Schweigen ein. Es war nicht wirklich unangenehm. Fast breitete es sich wie eine warme, weiche Decke um uns beide aus. Schien mich einzulullen und gefangen zu nehmen. Es war beinahe angenehm und durchbrach ich die Stille.
„Wann?“, fragte ich und war selbst überrascht wie leise und brüchig meine Stimme klang. Das hätte ich eigentlich nicht erwartet. Natürlich, die Nachricht über deinen Tod war ein Schock gewesen. Ich hatte es nicht fassen können, hatte mir tagelange einzureden versucht, dass das alles eine Finte, ein schlechter Scherz oder einfach nur ein Fehler war. Ich war entsetzt und traurig gewesen. War es immer noch und doch überraschte es mich, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, als würde ein schwerer Eisklumpen in meinen Eingeweiden landen.
„Vor sechs Wochen.“
Zum wiederholten Male nickte ich.
„Wie?“, flüsterte ich nach einer Weile. Es schien fast, als wollte das Wort nicht über meine Lippen. Es schien mir in der Kehle stecken bleiben und mich langsam ersticken zu wollen.
„Er hatte einen Hirntumor. Bösartig und inoperabel. Aber im Endeffekt war es ein Hirnschlag. Ein geplatztes Aneurysma. Es ging ganz schnell. Der Arzt sagte, vermutlich hat er es nicht mal gespürt.“
Mit einer eleganten Bewegung wischte er sich einige Strähnen, die aus seinem Zopf entkommen waren, aus dem Gesicht, dann vergrub er die Hand wieder in der Tasche. Und die ganze Zeit stand er dort und starrte auf den Grabstein, als würde er mit ihm und nicht mit mir reden. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht wütend oder beleidigt gewesen, aber nicht hier. Nicht heute. Nicht in dieser Situation.
„Ein Tumor.“, wiederholte ich leise und konnte es kaum glauben. Du wirktest immer so übermenschlich, so als könnte dir nicht einmal Gott persönlich etwas anhaben. Na ja, da hatte ich mich wohl geirrt. Es schien als wärst du schließlich doch nur ein einfacher Mensch gewesen. Obwohl… einfach warst du nie und für mich wirst du trotzdem immer irgendwie überirdisch sein, auch wenn du dich im Endeffekt doch als sterblich erwiesen hast.
Ich konnte nicht verhindern, dass ich leise schmunzeln musste. Ich war mir sicher, dass du deinen Tod genauso akribisch durchgeplant hattest wie dein Leben. Sicher wärst du wütend wenn du wüsstest, dass dir ein Hirnschlag einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. So plötzlich hattest du sicher nicht gehen wollen. Ich wusste schließlich wie wütend du werden konntest wenn sich etwas deiner Kontrolle entzog und ein derart unkontrollierter Abgang wäre sicher nicht in deinem Sinne gewesen. Tja, es gab wohl Dinge, die selbst du nicht beeinflussen oder kontrollieren konntest.
„Vielleicht war es besser so.“
Mein Kopf ruckte zu ihm herum. Ich konnte kaum glauben was ich hörte. Er lachte leise und senkte den Kopf, schüttelte ihn leicht.
„Versteh mich nicht falsch. Ich vermisse ihn. Jeden Augenblick. Ob ich wach bin oder schlafe, vermisse ich ihn und ich hätte ihn nie freiwillig hergegeben. Doch Gehirntumore können tückisch sein. Wer weiß was er ihm angetan hätte. Vielleicht hätte er verlernt zu sprechen, hätte nicht mehr gehen können. Vielleicht wäre er zum Schluss auf permanente Hilfe angewiesen gewesen und das hätte er nicht zugelassen. Du weißt wie er war.“
Ja, ich wusste wie er gewesen war. Ich hatte ihn gekannt. Zumindest hatte ich das eine Zeitlang geglaubt. Eine kurze Zeit, in der wir vielleicht sogar glücklich gewesen waren. Vielleicht. Vielleicht hatte ich mir das aber auch nur eingeredet.
„Er hat es niemandem erzählt.“, fuhr er fort. „Ich habe es erst nach seinem Tod erfahren. Genau wie alle anderen. Oh er hat es natürlich gewusst. Er wusste es schon länger, hielt es aber nicht für nötig jemandem etwas zu sagen. Er hielt es nicht für nötig uns eine Möglichkeit zu geben uns darauf vorzubereiten.“
Ein Hauch von Verbitterung schwang in seiner sonst so beherrschten Stimme mit. Ganz gegen meinen Willen huschte ein Lächeln über meine Lippen und ich zuckte die Schultern.
„Du weißt wie er war.“
Er lachte leise und nickte. „Ja, ich weiß wie er war.“
Wieder schwiegen wir und einen Moment wunderte ich mich wie makaber wir doch waren. Wir standen hier am Grab eines Menschen, den wir beide geliebt hatten und lachten. Und wir waren uns wohl beide nicht mal sicher worüber wir eigentlich lachten.
Ich hatte die Hand schon längst von dem kalten Stein genommen und sie in meine Tasche gesteckt. Erst jetzt zog ich sie wieder hervor, als der Wind mir einige wilde Ponyfransen ins Gesicht wehte. Wann genau war der Wind so stark geworden? Ich hatte es gar nicht mitbekommen.
Ich steckte die Strähne hinter mein Ohr, doch dort blieb sie nicht lange, sondern landete schon bald wieder vor meinen Augen. Mir fiel wieder ein, wie du dich immer gefragt hast, wie man nur eine solche Frisur haben konnte. Du nanntest sie chaotisch und unberechenbar. Doch sie passte, das hattest schließlich selbst du einsehen müssen. Sie passte, denn sie war wie ich. Ein Chaot, der einfach so gar nicht in dein perfekt organisiertes Leben passen wollte und der irgendwie alles nur schwierig zu machen schien.
„Hätte es was geändert?“, fragte ich unvermittelt. Er lachte erneut und schüttelte den Kopf.
„Vermutlich nicht.“, gab er schließlich zu.
Nein, es hätte nichts geändert wenn wir gewusst hätten dass du krank warst. Nichts und niemand hätte uns auf den Verlust vorbereiten können. Ihn nicht und mich auch nicht.
Ich fühlte wie ich wütend wurde. Du hättest dich nicht so einfach aus unserem Leben stehlen dürfen! Zumindest nicht aus seinem. Ich spielte nur eine untergeordnete Rolle. Es überraschte mich dass mir der Gedanke immer noch wehtat. Es war nur noch ein leises Ziehen irgendwo tief in mir drin und doch war es da. Schwach, aber für mich immer noch viel zu deutlich. Ich war es doch, der zuerst gegangen war. Ich war es, der sich aus deinem Leben gestohlen hatte. Da durfte ich jetzt nicht wütend sein wenn du dich revanchierst.
Und wieder stand ich in meiner Erinnerung an einem überfüllten Flughafen. Die Anzeigentafel im Rücken und den Blick fest auf die Tür gerichtet. Ein junger Mann beseelt von dem innigen Verlangen zu gehen und gleichzeitig mit dem brennenden Wunsch du mögest kommen und mich aufhalten. Doch du bist nicht gekommen und auch heute, nach so vielen Jahren, war ich immer noch nicht immun gegen die Welle des Schmerzes, die dieser Gedanke in mir auslöste. Jedes Mal aufs Neue.
Widerwillig schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht so empfinden. Es war nicht richtig. Ich befand mich in einer festen Beziehung mit einem Partner, der mich liebte, der auf mich einging und der für mich da war. Ich hatte einen Job, einen festen Wohnsitz, Freunde und fast so etwas wie eine Familie. Ich war glücklich! Ich sollte nicht hier stehen und etwas nachtrauern, was ich nie wirklich gehabt hatte und wenn dann nur für kurze Zeit und ich war nicht in der Lage gewesen es festzuhalten. Egal wie sehr ich es auch versucht hatte. Es war fast so, als wärst du mir immer weiter entglitten, je mehr ich versucht hatte dich zu halten.
Ich wollte etwas sagen, merkte aber plötzlich, dass ich allein vor dem weißen Stein stand. Verwirrt blickte ich mich um und sah wie er gerade den Weg entlang ging, der auf den Ausgang zuführte. Einen Augenblick war ich zu perplex um etwas zu sagen, doch natürlich hielt das nicht lange. Ich machte einen Schritt in Richtung Weg und breitete die Arme aus.
„Warum bin ich hier?“, rief ich ihm hinterher. Diese Frage beschäftigte mich schon seitdem ich in London in das Flugzeug gestiegen war, doch bis jetzt war sie nicht wichtig genug gewesen um sie auch wirklich zu stellen. Doch schließlich wollte ich es wissen. Schließlich hatte er mich hergeholt.
Einen Moment glaubte ich fast dass er mich gar nicht gehört hatte. Doch schließlich blieb er stehen. Es dauerte lange bis er sich umdrehte. Er sah mich direkt an. Zum ersten Mal. Er lächelte, doch in seinen dunklen Augen glitzerten Tränen und einen Moment fühlte ich mich mies, dass ich auch nur einen Augenblick geglaubt hatte, er würde nicht genug trauern.
„Weil er es so gewollt hätte.“, sagte er schlicht und ich wusste, dass er Recht hatte. Es hätte dir sicher gefallen, dass ich jetzt hier stand mit einem dicken Kloß im Hals und mir wünschte alles wäre anders gekommen.
Einen langen Augenblick sahen wir uns einfach nur an und ein nie da gewesenes Verständnis schien sich plötzlich zwischen uns auszubreiten. Ich fühlte was er fühlte und er wusste, was ich wusste. Wir verstanden einander.
Schließlich nickte er und wandte sich zum Gehen und ich hielt ihn kein weiteres Mal auf. Ich sah ihm hinterher, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war und auch als er schon längst weg war, starrte ich immer noch auf die Stelle, an der er zwischen den Zweigen hindurch gegangen war. Wieder verzogen sich meine Lippen zu einem traurigen Lächeln. Gratuliere. Du hast ganze Arbeit geleistet was ihn anging. Ich hatte immer gesagt, du seiest zu streng zu ihm. Dass er mehr Freiheiten brauchte. Dass du seine Erziehung ganz falsch angehen würdest. Doch wie immer hattest du Recht behalten. Nachdem was man so hörte und nachdem was ich heute gesehen hatte, war er ein großartiger junger Mann. Zumindest soweit ich das beurteilen konnte.
Erst nach einer Weile wandte ich mich wieder dem Stein zu.
Ich blickte darauf hinab und zuerst glaubte ich, dass ich mir den leichten Schimmer darauf nur einbildete. Ich blinzelte, doch das Funkeln blieb. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und hob auf was vermutlich er auf den Grabstein gelegt hatte. Ich fühlte kühles Metall zwischen den Fingern. Ich atmete einmal tief durch, während ich die Hand fester darum schloss und ich fühlte wie meine Körperwärme das Metall langsam erwärmte.
Ich zögerte noch einen Augenblick, denn eigentlich glaubte ich schon zu wissen, was ich sehen würde, wenn ich die Hand öffnete und ich war mir nicht sicher ob ich es sehen wollte.
Doch schließlich tat ich es. Es war ein kleiner Anhänger. Rund und flach lag die kleine Münze in meiner Handfläche. Ich erkannte sie sofort. Du hast sie mir geschenkt. Vor Jahren und ich hatte sie getragen. Immer und überall. Bis zu diesem Abend. Bis zu unserem großen Streit. Bis zu dem Moment, an dem ich sie mir wütend vom Hals riss und sie dir vor die Füße schleuderte. Kurz bevor ich durch die Tür stürmte, raus in die kalte Nachtluft und mich wenig später auf dem Flughafen wieder fand der mich für immer aus deinem Leben bringen sollte.
Eine Träne rollte über meine Wange. Die erste, die ich weinen konnte seitdem ich von deinem Tod erfahren hatte. Ihr folgt eine weitere und noch eine und noch eine. Schließlich schloss ich meine Hand wieder um die kleine Münze in meiner Hand und irgendwie rührte es mich plötzlich, dass du sie all die Jahre behalten hast. Der Gedanke, dass ich dir doch nicht egal gewesen war, dass ich dir genauso viel bedeutet hatte wie du mir, machte mich auf eine seltsame Weise glücklich.
Ich lächelte, weil ich jetzt zu wissen glaubte wie sehr du mich wirklich geliebt hast. Weil ich jetzt wusste, dass du mich genauso vermisst hast wie ich dich. Und ich weinte, weil ich jetzt wusste, dass diese Einsicht zu spät kam. Zu spät für uns beide.
Meine Augen schlossen sich, obwohl immer noch Tränen aus ihnen über meine kalten Wangen strömten. Das Metall lag warm und beruhigend in meiner Hand. Ja, du hättest es so gewollt und du bekommst schließlich immer was du willst, dachte ich, während ich weiter auf dem einsamen, kalten Friedhof stand und mir wünschte du wärst hier. Bei mir. Für immer.
Owari
Tja… danke dass ihr es geschafft habt, diese Geschichte zu Ende zu lesen. Ich hoffe, dass sie euch gefallen hat. Ich möchte nur noch kurz etwas zu dem Grabstein sagen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man ein Grab zwar mit Grabstein, aber ohne Namen machen kann. Ich weiß es gibt anonyme Gräber, aber wie da die Regelung ist, weiß ich nicht genau. Verbucht es einfach unter künstlerische Freiheit. ^.~ Vielen Dank.
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