120-Minuten-Prompt: „Das ist definitiv kein Mistelzweig.“
Genre: Weihnachtsfluff, Humor, First Time
Handlung: Schrader ist ein großer Fan weihnachtlicher Bräuche, egal ob alt oder neu. Das hat Folgen.
A/N: Ich bin überrascht, daß ich tatsächlich nochmal eine Mistelzweiggeschichte für Thiel und Boerne schreiben kann, aber es hat Spaß gemacht. Ich hoffe, auch das Lesen macht Spaß.
Länge: ~ 1.400 Wörter
Zeit: ~ 90 Minuten
***
Das erste Mal passiert es in der Tür zu seinem Büro. Boerne holt ihn ab - sie sind zum Mittagessen verabredet, weil es heute Gans, Rotkohl und Klöße geben soll, was immer das in der Kantine bedeutet - und er kommt ihm entgegen, weil sie schon spät dran sind. Nicht daß das Tagesessen schon aus ist und er diesen denkwürdigen Moment verpaßt. Er ist gerade dabei, mit dem zweiten Arm in die Jacke zu schlüpfen und Boerne hält die Tür weit auf, als sich sein Gesichtsausdruck plötzlich verändert.
„Sieh da, ein Mistelzweig.“
Er hört Schrader im Hintergrund kichern und bevor er noch etwas sagen kann, küßt Boerne ihn. Mitten auf den Mund. Als hätte es die Wange nicht getan, wenn man diesen albernen importierten Brauch überhaupt mitmachen muß. Ausnahmsweise ist er da mit Herbert mal ganz einer Meinung, das ist überhaupt nichts echtes, das verdanken sie nur der US-amerikanischen Medienvormacht. Oder so. Und was soll überhaupt passieren, wenn man sich nicht unter dem Mistelzweig küßt, sieben Jahre Pech in der Liebe? Als ob das bei ihm einen Unterschied machen würde. Auf dem Weg zur Kantine streiten sie. Boerne nennt ihn einen ollen Griesgram und Weihnachtsverächter, und er fragt Boerne, ob er sie noch alle beieinander hat. Und ob er jetzt ernsthaft alles und jeden küssen will, bloß weil da so ein Gewächs rumhängt.
Die Gans ist überraschend gut.
Danach eskaliert die Sache ziemlich schnell. Irgendjemand - er hat Schrader im Verdacht - ist im Präsidium Amok gelaufen und hat Mistelzweige an allen möglichen und unmöglichen Stellen verteilt. In den Fluren. Über dem Haupteingang. Vor der Herrentoilette. (Auch vor der Damentoilette, aber das kümmert ihn jetzt weniger.) Sogar im Aufzug. Sobald man mal eine Sekunde nicht aufpaßt, hängt so ein Ding über einem.
Und Boerne ist oft im Präsidium. Und seit dem ersten Streit, den sie über diese Sache hatten, scheint er sich einen Spaß daraus zu machen, ihn unter jedem dieser verdammten Mistelzweige wenigstens einmal zu erwischen. Er küßt ihn am Haupteingang, während die Pförtnerin im Hintergrund grinst. (Thiel sieht es genau, weil er die Augen vor Überraschung aufgerissen hat. Es ist erst das zweite Mal, daß Boerne ihn erwischt, und das ganze passiert ohne Vorwarnung. Er hat das Mistding noch nicht einmal gesehen.) Er küßt ihn in den Fluren, wann immer sie sich begegnen und ein Fitzelchen Grün in Sichtweite ist. Er küßt ihn vor der Herrentoilette. Ich hoffe doch, Sie haben sich die Hände gewaschen. Er küßt ihn im Fahrstuhl.
Die ganze Fahrt vom sechsten Stock ins Erdgeschoß.
Seine Kollegen verziehen schon kaum noch eine Mine, wenn es passiert. Trotzdem ist er froh, daß sie im Fahrstuhl alleine waren. Er ist sich nicht ganz sicher, ob das noch in die Kategorie Mistelzweigkuß paßt … Jedenfalls ist er ein bißchen benommen, als sich die Tür des Fahrstuhls endlich öffnet und Boerne ihn losläßt. Das Grinsen auf Boernes Gesicht macht die Sache auch nicht besser. Beinahe wären sie mit dem Fahrstuhl wieder nach oben gefahren, wenn er nicht im letzten Moment seinen Fuß zwischen die sich schließende Tür geschoben hätte.
Es ist drei Tage vor Weihnachten, und während er durch den leichten Nieselregen nach Hause radelt, geht ihm Boernes Stimme nicht mehr aus dem Ohr. Wie ich sehe, finden Sie so langsam doch Gefallen an diesem Weihnachtsbrauch. Bloß, weil er sich nicht ernsthaft zur Wehr gesetzt hat, erst aus Überraschung, dann aus Höflichkeit - jawohl, er weiß auch, daß man sich im Interesse einer guten Zusammenarbeit manchmal ein wenig zurücknehmen muß! - und dann aus … Gewohnheit? Oder wegen diesem letzten Kuß, weil sie … weil er … ja, er hat sich ein wenig mitreißen lassen. Es ist sehr lange her, seit er jemanden geküßt hat, und vielleicht hat sich das plötzlich echter angefühlt, als es sollte. Vielleicht ist er überrascht, daß Boerne tatsächlich gut küßt - wenn er je darüber nachgedacht hätte, hätte er das Gegenteil vermutet, so schnell, wie Boernes seltene Frauengeschichten immer wieder enden. Was ihn überraschen sollte, aber überraschenderweise wenig überrascht, ist, daß es ihn nicht stört, einen Mann zu küssen.
Es ist überhaupt nicht anders. Als würde es gar keinen Unterschied machen. Als würde es nur darauf ankommen, ob er die oder offenbar den anderen küssen will.
Will er das?
Bis er zuhause angekommen ist, ist seine Entscheidung gefallen. Er braucht einen Test. Einen echten. Nicht auf der Arbeit, wo ständig jemand da ist oder vorbeikommen könnte. Das war ja reines Glück, daß sie im Fahrstuhl gerade mal alleine waren. Ohne die Erkältungswelle in den letzten Tagen wäre das nie passiert.
Und außerdem, was Boerne kann, kann er schon lange.
Er geht in seine Wohnung, um sich was Trockenes anzuziehen, und dann geht er nochmal vor die Tür, um sich vorzubereiten, und da sieht er auch schon Boernes Wagen um die Ecke biegen.
Zehn Minuten später klingelt er an Boernes Wohnung.
Boerne ist überrascht, als er die Tür öffnet. Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, daß er ihn heute noch konfrontiert. Hat wohl gedacht, er kennt ihn gut genug, und daß er sich nicht trauen wird. Daß er sich erst einmal in seiner Wohnung verkriechen wird und dann womöglich auch noch so tun, als wäre nichts passiert.
„Kann ich kurz reinkommen?“ Er wird den Teufel tun, das hier im Treppenhaus zu versuchen. Das ist ja kaum besser als auf dem Präsidium, jeden Augenblick kann einer ihrer neugierigen Nachbarn vorbeikommen.
Boerne nickt, und er macht einen Schritt nach vorne. Schließt die Tür hinter sich, zieht die Hand aus der Tasche und hält das grüne Ding über sie beide.
Boernes schaut nach oben, nur eine halbe Sekunde, dann sieht er ihm wieder in die Augen. „Das ist definitiv kein Mistelzweig.“
Als wäre es je um die Misteln gegangen. Im Grunde hat er das von Anfang an gewußt, aber selbst wenn nicht, würde er es spätestens jetzt wissen. Weil Boerne ihn ansieht mit einer Mischung aus Angst und … Hoffnung? Er läßt den Arm wieder sinken, läßt das Ästchen von der Konifere aus dem Vorgarten einfach auf den Boden fallen, und macht einen Schritt auf Boerne zu. Und noch einen, bis Boerne mit dem Rücken an der Wand steht und nicht weiter zurückweichen kann.
Boerne konnte einfach ausnutzen, daß er ein paar Zentimeter größer ist. Er muß eine Hand in Boernes Nacken legen und ihn zu sich ziehen.
Er kann fühlen, wie Boernes Puls rast.
Aber als sich ihre Lippen treffen, ist es wie beim ersten Mal unter diesem verfluchten Mistelzweig vor seinem Büro.
Richtig.
Vertraut.
Nur daß niemand im Hintergrund kichert. Niemand, der zusieht. Niemand, der sie unterbrechen kann. Boernes Arme schließen sich um ihn, halten ihn fest, und das ist neu und fast noch aufregender als alles andere. Er löst sich erst wieder von Boerne, widerstrebend, als er merkt, in welche Richtung seine Gedanken laufen und daß er kurz davor ist Dinge zu tun, für die er definitiv zu alt ist, zumindest hier im Flur und im Stehen. Und auch wenn er kein großer Freund davon ist zu reden, sollten sie das vielleicht doch tun, bevor sie … mehr tun.
***
Weihnachten verbringen sie im Bett.
Ihm tut jeder Muskel im Körper weh, und Boerne schnieft zum Gotterbarmen. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, Feiertage in die erkältungsreichste Jahreszeit zu legen?
„Daran sind nur Schraders dämliche Mistelzweige schuld! Letztes Jahr haben wir noch Masken getragen, und jetzt knutschen wir mit allen Virenschleudern in der Umgebung rum!“
Boerne lacht, bis er wieder niesen muß.
Ja … auch wenn er immer noch findet, das war eine Schnapsidee von Schrader, so wirklich böse kann er ihm nicht sein. Ohne Mistelzweige wäre er vermutlich auch krank geworden, läge jetzt hier aber alleine in seinem Elend. Dennoch kann er es nicht lassen, noch ein bißchen länger auf dem Thema herumzureiten.
„Und du mit deiner ganzen Küsserei hast uns das vermutlich eingeschleppt.“
Boerne sieht ihn empört an.
„Was?“
„Das warst ja wohl eher du! Herr ich wasche mir die Hände alle Jubeljahre!“
„Küssen ist definitiv schlimmer als hin und wieder mal das mit den Händen zu vergessen!“
Boerne läßt sich entnervt zurück ins Kissen sinken. „Weißt du das denn nicht?“
„Was?“
„Nur du …“
Von der Seite kann er sehen, wie Boernes Ohr langsam rot wird. Und ja, wenn er so darüber nachdenkt, fällt ihm auch auf, daß er in den ganzen Wochen nicht einmal erlebt hat, daß Boerne jemand anderen im Präsidium geküßt hat.
… wie sie es den Kollegen sagen, müssen sie sich vermutlich nicht überlegen.
Eine Sorge weniger.
* Fin *