Titel: Der Neue (Szene 5) Sommerchallenge-Prompt: R/I - Blutsbrüderschaft Fandom: Tatort Münster Genre: mild h/c, ein ganz wenig Humor, angst with a happy ending?[Triggerwarnung und Spoiler]Suizidgedanken, selbstverletzendes Verhalten (in der Vergangenheit) - sehr zurückhaltend, aber wenn jemand das gar nicht lesen kann, diesen Teil besser auslassen. Handlung: Frank gewöhnt sich ein und lernt Karl besser kennen. (Tatort Münster Internat AU) A/N: Gehört zu diesem AU aus dem letzten Jahr (https://archiveofourown.org/works/42056835?view_full_work=true). Und das ist überraschend eskaliert, eigentlich wollte ich gar nicht in diese Richtung, als ich mit dem Prompt gestartet bin. Länge: ~ 1.400 Wörter Zeit: ~ 60 Minuten
***
So langsam hatte er sich an das Leben im Internat gewöhnt - zumindest so weit, daß er sich nicht mehr ständig verlief. Schule war Schule wie überall, die Fußballmannschaft war nicht auf dem Niveau, das er sich gewünscht hätte, aber der Trainer war nicht schlecht und vielleicht ließ sich daraus noch was machen mit der Zeit. Die meisten aus der Mannschaft waren auch ganz O.K., anscheinend sammelte sich das weniger vornehme Volk beim Fußball und das merkte man. Die Söhne der besseren Zehntausend traf man eher auf dem Tennisplatz an. Zum Glück hatte Herbert (oder die Direktorin) so viel Verstand gehabt, daß er seinen Vater nicht als Lehrer hatte. Und selbst sein Zimmergenosse störte ihn weit weniger, als er anfangs gedacht hätte. Außer wenn er nervte und das Zimmer aufräumte (oder ihm Vorhaltungen machte, daß er gefälligst mehr Ordnung halten sollte). Auf die Ermahnungen bezüglich mehr persönlicher Hygiene hätte er auch verzichten können (ehrlich, Karl war schlimmer als seine Mutter). Dagegen waren die merkwürdigen Hobbys harmlos (bis auf die Käfer, die hätte er echt nicht gebraucht) und selbst die Vorträge über alles und jedes waren meistens fast unterhaltsam. Nicht daß er es zugegeben hätte, aber er hatte tatsächlich schon das ein oder andere dazugelernt. Was Wissen anging, vor allem schulisch relevantes Wissen, war Karl unschlagbar. Seine Sozialkompetenz war allerdings ein anders Thema. Aber gut, nachdem er ihn ein paarmal ermuntert hatte, mit zum Essen oder mit in den Freizeitraum zu kommen, besserte sich das langsam. Der andere stach zwar immer noch aus der Menge heraus wie ein … wie ein merkwürdiger Typ eben, aber immerhin war er dabei und Stefan und seine Kumpels hatten ihn zuletzt auch in Ruhe gelassen. Er war fast ein bißchen stolz auf sich. Vielleicht würde er aus dem Kleinen doch noch ein passables Mitglied der Gesellschaft machen.
„Kommst du mit Essen?“
„Kein Hunger.“ Karl sah nicht mal auf von seinem aktuellen Käfer-Präparier-Projekt (er wollte gar nicht so genau wissen, was der andere da machte). Soviel zum passablen Mitglied der Gesellschaft. Und kein Wunder, daß der andere immer noch der Kleinste im Jahrgang war, wenn er nichts aß. Tatsächlich lag ihm eine entsprechende Bemerkung auf der Zunge, aber er erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, wie sehr sowas nervte, und machte sich alleine auf den Weg. Bevor er im letzten Jahr einen Wachstumsschub erlebt hatte, hatte seine Mutter auch immer … aber daran wollte er lieber nicht denken. Jetzt war er jedenfalls endlich bei fast eins siebzig, und wenn das so weiterging, würde er noch eine ordentliche Größe erreichen. Nicht, daß es ihn großartig behindert hätte, er kam auch so gut zurecht. Und in der Mannschaft war er der schnellste, schneller als all die großen Kerle. Größer war eben nicht automatisch besser. Auf die Technik kam es an.
***
„Sitzt du immer noch da dran?“
„Hm?“
Frank schüttelte amüsiert den Kopf. Er war doch fast eine Stunde weggewesen, und die Käfersammlung war immer noch auf dem Schreibtisch ausgebreitet. „Hier.“
Karl sah auf. „Was ist das?“
„Abendessen.“ Er wedelte mit dem Schnitzelbrötchen vor der Nase des anderen rum. „Und erzähl mir nicht, du hast immer noch keinen Hunger.“
Karl öffnete den Mund, vermutlich um zu protestieren, aber in dem Moment grummelte sein Magen schon lauthals.
„Wußt ich’s doch.“ Er verkniff sich das Lachen, als der andere kurz entschlossen nach dem Brötchen griff und es verschlang. Von wegen zivilisiert essen. Daran würde er ihn erinnern, wenn er sich das nächste Mal anhören mußte, daß ein zivilisierter Mensch mit Messer und Gabel aß und sich nicht alles mit der Gabel direkt vom Teller in den Mund schaufelte wie ein Schaufelbagger.
„Welcher ist denn der neue?“ Er nickte mit dem Kopf Richtung Käfersammlung und bereute es sofort, als ihm eins der Insekten unter die Nase gehalten wurde. Igitt. Er versuchte, nicht so genau hinzusehen.
„Ein Goldlaufkäfer! Ein ausgesprochen schönes Exemplar mit besonders ausgeprägter Färbung!“
„Ah … ja …“ Er versuchte standhaft, ein paar Zentimeter neben den Käfer zu schauen, und … „Was ist das denn?“
„Nur eine alte Narbe.“ Karl setzte den Käfer schnell wieder ab und zog die Manschette seines Hemdes nach unten.
„Das sah aus wie …“ Er stockte, während Karl sich eifrig daran machte, die einzelnen Exemplare seiner Sammlung in diversen Schachteln zu verstauen. „Hast du dich da geschnitten?“ Zufällig? Quer übers Handgelenk?
Karl murmelte etwas.
„Was?“
„Erstens heißt es wie bitte, und zweitens habe ich da Blutsbrüderschaft geschlossen. Mit einer Freundin.“
Äh? „Blutsbrüderschaft?“
„Mein Gott, wir waren noch in der Grundschule und haben gespielt!“
„Indianer oder was?“
„Ja und wenn?“ Karl war rot geworden, aber er sah ihn trotzig an. „Oder meinst du, ich hatte keine Freunde?“
„Natürlich nicht.“ Er versuchte wieder zurück zu rudern, da hatte er offenbar einen wunden Punkt getroffen. „Es ist nur … es sieht aus wie …“
„Wenn man sich umbringen will, muß man längs schneiden, nicht quer“, erklärte Karl in seiner üblichen besserwisserischen Art. „Und für Blutsbrüderschaft hätten wir uns eigentlich besser in die Handfläche geschnitten, aber wir waren damals ja noch klein und wußten es nicht besser.“
„Klar.“ Die Narbe sah fies aus. Und auch wirklich schon älter. Aber andererseits, was wußte er schon.
***
„Siehst du die noch?“ Sie waren schon im Bett, aber er konnte an Karls Atem hören, daß der andere noch nicht schlief.
„Wen?“
„Na deine Freundin, von früher.“
„Nein.“
„Schade.“
…
„Wie -“
„Susi! Und ja, es gibt sie wirklich! Und wir sind Blutsbrüder!“
Ohoh. Schlechtes Thema.
„Sie ist nur in Münster weiter zur Schule und ich … hierher.“
„Doof.“ Natürlich hätte man sich trotzdem noch treffen können, in den Ferien und so, aber er wußte, wie das lief. Von seinen Freunden aus der Grundschule hatte er nach kurzer Zeit auch nur noch mit denen Kontakt gehabt, die auf die gleiche weiterführende Schule gewechselt waren.
„Ja.“
In der einen Silbe lag soviel Trauer, daß er am liebsten aufgestanden wäre und den anderen in den Arm genommen hätte. Aber das ging natürlich nicht.
„Das mit der Blutsbrüderschaft …“
„Ja?“ Karl war sehr leise geworden und er wußte instinktiv, daß er ihn dazu bringen mußte weiterzureden. Wenn nicht jetzt und hier, wann dann?
„Wir haben das nicht mit Blut gemacht. Sondern mit Spucke.“
„Klar.“ Er schluckte und überlegte, ob er das fragen konnte. „Und die Narbe?“
Das andere Bett knarrte. Im Halbdunkel des Zimmers konnte er gerade so erkennen, daß Karl sich zu ihm gedreht hatte. „Ich war noch so klein, daß ich es nicht besser wußte.“
Er hatte es gewußt, die ganze Zeit schon. Seit Karl das Hemd nach unten gezogen hatte, hastig und schuldbewußt. Und wußte jetzt trotzdem nicht, was er sagen sollte.
„Es war nicht gefährlich.“ Ein, zwei Atemzüge. Kurz und schnell, als ob er gerannt wäre. „Ich hatte gar kein richtiges … eigentlich war es mehr ein Kratzer. Deshalb ist die Narbe auch so häßlich.“
„So schlimm ist die gar nicht.“
Karl antwortete nicht, aber was sollte er jetzt auch noch sagen. Eine Weile lagen sie nur da und er hörte, wie die Atemzüge aus dem anderen Bett wieder ruhiger und tiefer wurden.
„Karl?“ Er flüsterte jetzt auch und wußte gar nicht warum. Es war ja nicht so, als ob sie jemand hören konnte. Aber vielleicht war es einfacher zu fragen, je leiser er war.
„Mhm?“
„Ist es jetzt besser?“
„Ja.“
Karl klang immer noch traurig, aber vielleicht war das gut so. Solange man noch etwas fühlte … selbst in der Zeit, als er vor Trauer kaum noch gewußt hatte was er tat, hatte er sich das nicht gewünscht. Zu sterben. Was für ein schrecklicher Gedanke. Daß Karl … vielleicht hatte er es gar nicht wirklich gewollt. Aber auch das war schlimm genug. Und er hatte nicht gesagt, wann das gewesen war, aber Frank hatte so einen Verdacht. Mit neun von zu hause weggeschickt zu werden, hierher, das war hart. Und dann für so jemanden wie Karl, der sowieso schon so … anders war. Was hatten sich seine Eltern nur dabei gedacht?
„Karl …?“
Tiefe Atemzüge. Jetzt war er wirklich eingeschlafen. Franks Augen hatten sich immer besser an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte sehen, wie der andere zusammengerollt in seine Decke dalag. Eine Weile sah er zu, wie sich die Decke im Rhythmus der Atemzüge leicht hob und senkte, bis ihm endlich selbst die Augen zufielen. Morgen würde er …