Als ich gestern Abend im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ich plötzlich ganz deutlich einen Keller vor Augen. Und dann fielen mir die Worte nur so zu:
Ich glaube, jeder von uns kennt die Angst, die man als kleines Kind - oder auch noch als Erwachsener - im dunklen Keller empfindet. Jedes Geräusch, das nicht spontan zugeordnet werden kann, wirkt bedrohlich. Dort hinten knackt es ganz laut und in der anderen Ecke schabt etwas an der Wand entlang. Und: Oh, Hilfe! Wo bin ich da gerade nur mit meinem Fuß gegen gestoßen, das fühlt sich so komisch an? Die Fantasie läuft auf Hochtouren.
Genauso gibt es einen Keller in unserem ICH. Dort, wo wir all unsere Ängste, Schlüsselerlebnisse und vieles andere lagern. Was passiert, wenn wir dazu gezwungen sind, in diesen Ich-Keller hinab zu steigen? Viele von uns weigern sich einfach, das zu tun. Hey, da gibt’s nur olle Kamellen, das spar ich mir. Was soll mir das denn bringen?
Und sie vergessen, dass all das, was dort unten im Dunkeln „lauert“, unser tägliches Sein und Handeln, unser Denken und Verhalten bestimmt.
Dann gibt es diejenigen, die voll falschem Selbstbewusstsein in den Keller stürmen, die große Deckenlampe anschmeißen und dann - im Hellen - vor Schreck erstarren, weil sie verdrängt hatten, wie viele negative „Dinge“ sie dort unten horten.
Vielleicht ist es am sinnvollsten zuerst nur mit einer Kerze bewaffnet in diesen Keller hinab zu steigen. Sie verbreitet ein warmes, weiches Licht - die Dunkelheit wirkt weniger bedrohlich und wir müssen uns nicht allem auf einmal stellen. Doch das Licht der Kerze verursacht Schattenspiele, die manchmal noch bedrohlicher wirken, als das, was wirklich dort auf uns wartet.
Also holen wir uns doch lieber noch zwei, drei Kerzen mehr. Im weichen Licht zeigen sich all die Dinge, die wir im Lauf unseres Lebens dort im Keller abgestellt haben. Ganz langsam, in unserem eigenen Tempo schauen wir uns alles an. Erstmal nur die Oberfläche.
Wenn wir uns daran gewöhnt haben, in diesem Keller zu sein, in dem wer-weiss-was für Bedrohungen und Herausforderungen auf uns warten, und uns ein wenig sicherer fühlen, dann ist es an der Zeit, sich die Dinge genauer anzusehen.
Vielleicht fallen uns spontan einige Sachen ins Auge, von denen wir bereit sind, sie loszulassen, ohne sie noch einmal genauer betrachten zu müssen. Dann kommen Dinge, die uns irgendwann in unserem Leben ein negatives Erlebnis bescherten, aber uns vom aktuellen Standpunkt gesehen nicht mehr belasten. Auch das schaffen wir nun aus unserem Keller.
Immer mehr verschwindet und bringt positive Dinge ans Licht, die zuvor zwischen dem ganzen alten dunklen Gerümpel unsichtbar waren. Es gibt uns Kraft zu entdecken: Wow, stimmt ja, da war dieses tolle positive Erlebnis. Oder: Ja, in dieser Situation konnte ich spüren wie sehr ich geliebt werde. Vielleicht auch: In dem Moment konnte ich so sein wie ich bin - und es tat gut dies zu fühlen.
Dann kommt der Zeitpunkt sich mit den wirklich harten Brocken zu beschäftigen. Und es macht uns Angst. Es hängen so viele, überwiegend negative Emotionen und Ängste daran, dass es uns zu überwältigen droht.
Vielleicht holen wir uns Verstärkung von einem Freund oder einer anderen Person, zu der wir Vertrauen haben, der uns bei der Betrachtung hilft, damit wir uns nicht in alten Emotionen verlieren. Aber der Freund kann uns nur Unterstützung geben (in einem Ausmaß, wie wir selbst es zulassen können), doch er kann nicht unseren Keller für uns aufräumen. Wenn es uns möglich ist, aus solch einer eher passiven Unterstützung Kraft zu ziehen, sollten wir es tun. Doch manch einer stellt sich seinen Ängsten lieber allein.
Und im Licht der Kerze, mit oder ohne Unterstützung, stehen wir nun vor diesen riesigen Kisten. Wir wissen nicht, was sich darin befindet, nur, dass es an einem Punkt in unserem Leben Schmerz, Enttäuschung, Angst für uns bedeutet hat oder dass wir zu dem Zeitpunkt das Gefühl hatten, keine Wahl mehr zu haben.
Warum, warum, warum soll ich mir das ansehen? Warum soll ich erneut durch diesen Schmerz gehen? Warum kann das nicht einfach hier im Keller stehen und verrotten? Wenn ich es nicht sehe und nicht daran denke, dann hat es doch gar nichts mehr mit mir zu tun. Dann bin ich doch frei davon! Oder nicht?
Wenn wir genügend Kraft gesammelt haben, gelingt es uns vielleicht, einen schnellen Blick hinein zu werfen. Die Emotionen sind wie eine Welle, die uns mitzureißen droht. Wir atmen durch und wagen einen weiteren Blick. Nach und nach nehmen wir Einzelheiten wahr. Und irgendwann erkennen wir das, was dort verborgen ist; erinnern uns an die Situation, an das Erlebnis. Wenn es uns gelingt, uns nicht in den alten Emotionen zu verlieren, bemerken wir, dass diese vergessene oder ausgeblendete Situation eine große Rolle in unserem Leben spielte und immer noch spielt. Wir haben etwas erlebt, das uns soviel Schmerz zufügte, dass wir entschieden haben: Auf diese Weise lasse ich mir nicht noch einmal wehtun! Wir erkennen, dass dieses Erlebnis wie eine Schablone ist, die wir in unserem Leben wieder und wieder anwenden.
Begegnen wir einer Situation, auf die unsere Schablone zu passen scheint, sind wir unfähig, rational zu reagieren. Obwohl wir mitten im Leben sind und eigentlich neue Erfahrungen machen wollen, erinnert sich etwas in unserem Ich-Keller und schreit sofort auf. Als Folge davon reagieren wir - sozusagen automatisch und unbewusst - auf ein aktuelles, neues Erlebnis mit Emotionen und den dadurch entstehenden Verhaltensmustern aus einer viel früheren Verletzung. Je öfter die Schablone in unserem Leben Anwendung findet, desto stärker werden die negativen Empfindungen, desto extremer unsere Reaktion darauf. Wir können uns einfach nicht aus diesem Zwang befreien. Wir sind nicht mehr fähig, Situation für Situation einzeln, jede für sich selbst, zu beurteilen. Nein, wir reagieren wieder und wieder auf das „alte“ Schlüsselerlebnis!
Es kann viele Tage, Wochen, Monate - vielleicht auch Jahre dauern, bis wir zum einen diese gut versteckte Kiste entdeckt haben, und wir zum anderen bereit sind und genug Kraft haben, uns damit auseinanderzusetzen.
Wenn es uns gelingt, unsere Emotionen einfach da sein zu lassen und uns ihnen nicht auszuliefern, erkennen wir nicht nur, wie unsere Verletzungen entstanden sind - sondern können auch anerkennen, dass die anderen beteiligten Personen nur aus ihren eigenen Mustern heraus gehandelt haben. Auch sie schleppen ihren Ich-Keller mit sich herum und (re)agieren sehr oft nur aus alten Mustern heraus.
Das bewusste Betrachten gibt uns die Möglichkeit des Loslassens. Das Erlebte mit den entsprechenden Emotionen gehört weiterhin zu uns, aber wir können es aus dem dunklen Keller mit hinaus nehmen, weil es keine „Gefahr“ mehr für uns bedeutet, es im Licht zu betrachten. Die Verletzungen, die in eine ganz andere Zeit gehören, schränken nicht mehr zwangsläufig unsere Entscheidungsfreiheit im Hier und Jetzt ein. Wir haben es nicht mehr nötig, unsere Schablone anzuwenden und uns dadurch keine Wahl in unseren Reaktionen und unserem Verhalten zu lassen.
Wir sind frei, jedes Erlebnis, jede Situation, jede Begegnung unabhängig voneinander zu sehen und zu empfinden.
Es ist leerer und „luftiger“ in unserem Keller geworden. Wahrscheinlich haben wir zwischen den belastenden Sachen ganz viele positive Dinge entdeckt. Wir haben Teile unserer eigenen Stärke wiedergefunden; wir haben beim Betrachten von alten Situationen vielleicht auch wieder entdeckt, dass Selbstwertgefühl etwas ist, das nur von uns selbst kommen kann - und wer weiß, was jeder von uns noch an guten Überraschungen in diesem Keller versteckt hatte? All das hätten wir nicht gefunden, hätten wir uns nicht dem Dunkel und unserer Angst gestellt!
Vielleicht entdecken wir hinter einer der großen Kisten einen Schlüssel zu einer weiteren Tür? Wahrscheinlich wartet hinter dieser Tür ein weiterer Keller auf uns - kann das Leben nicht ein bißchen einfacher sein? - aber wir können sicher sein, dass mit jeden Keller, sogar mit jeder einzelnen Kiste, die wir aufräumen, Veränderungen in unserem Leben, im Hier und Jetzt, verbunden sind.
Das Leben wird uns immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Wir werden geliebt werden und uns gut fühlen. Wir werden verletzt und enttäuscht werden und uns schlecht fühlen!
Sich ab und zu in seinen Ich-Keller zu begeben und die Dinge zu betrachten, die sich dort ansammeln, ist eine Möglichkeit zu heilen.
Ich habe für mich entschieden, dass es eine gute Sache ist, an mir selbst zu arbeiten, um mich nicht in alten Verhaltensmustern und Emotionen zu verlieren. Und um zu gewähren, dass ich meine Entscheidungen relativ frei und dem entsprechenden Augenblick und der Situation angepasst treffen kann.
Der Weg ist lang und steinig.
Ich wünsche uns allen immer genug Licht, um unsere Schatten zu beleuchten und unsere Ängste aufzulösen!