Denis Scheck kommentiert die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste Belletristik.
Platz 10: Ijoma Mangold: "Das deutsche Krokodil"
Das deutsche Krokodil: Das ist einerseits die begehrteste Spielzeuglokomotive in der Kindheit des bei seiner Mutter in Dossenheim bei Heidelberg aufgewachsenen Ijoma Mangold. Andererseits ist das Krokodil ein Ebenholz-Artefakt aus Afrika, das Mangold unliebsam an seinen Vater und seine nigerianische Abstammung erinnert. Wenn Sie herausfinden wollen, wie es ist, als Schwarzer in Deutschland zu leben, dann können Sie sich entweder schwarz anmalen oder diese herausragende autobiographische Erzählung lesen.
Platz 9: Boris Palmer: "Wir können nicht allen helfen"
Dieses Buch ist eine Wohltat an Differenzierung in der von Rassismus, Hetze und Denkverboten vergifteten Diskussion um die Flüchtlingskrise. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister argumentiert aus der Praxis und nicht aus einem Wolkenkuckucksheim wohlfeiler moralischer Erhabenheit. Palmer fordert ein Einwanderungsgesetz, das diejenigen belohnt, die von sich aus Integrationswillen an den Tag legen und etwa Deutsch lernen, auch wenn sie aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland stammen. Schade, dass man diesem vernünftigen Mann in seiner eigenen Partei die Eselsmütze aufsetzt.
Platz 8: Arun Gandhi: "Wut ist ein Geschenk"
Der Enkel von Mahatma Ghandi erinnert sich an die Ratschläge seines Opas, als er zwischen 12 und 14 in Indien in dessen kargem ländlichen Ruhesitz in Obhut war. Ein intimer Blick auf einen der wirklich Großen des 20.Jahrhunderts: kein schlechtes Buch, aber auch kein weltbewegendes, dazu sind die Anekdoten von Opi zu locker mit sozialtherapeuthischen Weisheiten unserer Zeit versetzt.
Platz 7: Gabriele Henkel: "Die Zeit ist ein Augenblick"
Geld verdirbt den Charakter? Wir alle glauben ja, dass das auf uns selbst bitte schön nie und nimmer zuträfe. Diese Memoiren von einer der reichsten Frauen der Bundesrepublik liefern den Anlass, darüber etwas genauer nachzudenken. Die junge Journalistin Gabriele Henkel hat ihre Ehe mit einem Industriellen dazu genutzt, der jungen Bundesrepublik den Mief auszutreiben - oder will sie ihren persönlichen pleasure trip nur so darstellen? Davon erzählen ihre Memoiren. Klatsch aus einer gerade zu Ende gehenden Epoche - und in meinen Augen definitiv Schullektüre.
Platz 6: Eckart von Hirschhausen: "Wunder wirken Wunder"
Es gibt ja nicht wenige Menschen, die würden sich, wenn sie mit einem schweren Hinterwandinfarkt auf der Intensivstation liegen, freuen, wenn Roberto Blanco in ihrem Zimmer vorbeischaute und "Ein bißchen Spaß muß sein" sänge. Es müssen solche Menschen sein, die diesem dauerwitzelnden Kompendium medizinischem Flachsinns seinen Platz in der Bestsellerliste sichern. Mir persönlich ist der auf Rote-Pappnasen-Daueranimation getunte Sound dieses Buchs so zuwider, dass mich auch seine schmale medizinische Basis von Erkenntnis nicht davon abhält, es jetzt, da ich noch nicht in der Geriatrie liege und mich noch wehren kann, in hohem Bogen zu verdammen.
Platz 5: Yuval Noah Harari: "Homo Deus"
Die alte Weltordnung, diagnostiziert der israelische Historiker Yuval Noah Harari, ist am Ende, der Mensch steht unmittelbar bevor, sich in seinem Streben nach Glück und Unsterblichkeit den Göttern gleichzusetzen. Die Religionen haben abgewirtschaftet, der Liberalismus hat gewonnen. "Wenn Gentechnik und künstliche Intelligenz ihr volles Potential entfalten", schreibt Harari, "können Liberalimus, Demokratie und freie Märkte genauso obsolet werden wie Feuersteinklingen, Musikkasetten, der Islam und der Kommunismus." Ein anregendes Buch.
Platz 4: Peter Wohlleben: "Das geheime Leben der Bäume"
Je mehr Zeit wir im Virtuellen verbringen, um so stärker wächst unsere Sehnsucht nach Natur. Der Förster Peter Wohlleben bedient diese Sehnsucht mit seinen Geschichten vom Wald auf horizonterweiternde Weise.
Platz 3: Axel Hacke: "Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen"
In diesem Essay fragt sich Axel Hacke in weit ausgreifenden Denkbewegungen, was heute unter Anstand zu verstehen ist. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein Zitat von niemand anderem als dem Reichsführer SS Heinrich Himmler: "Man muss im Leben immer anständig sein und tapfer und gütig." Himmler schreibt diesen Satz 1941 seiner Tochter ins Poesiealbum. Aufregend wird Axel Hackes Essay, weil er mit David Foster Wallace fordert, unsere Freiheit zum Denken zu nutzen und "die Welt zu verändern, indem man sie anders sieht." Mit diesem Buch ist Staat zu machen.
Platz 2: Thorsten Schulte: "Kontrollverlust"
Die Donald-Trumpesierung der Bundesrepublik schreitet scheinbar unaufhaltsam voran. Selten hatte ich den Eindruck, so direkt an den Stromkreis des populistischen Wahnsinns angekoppelt zu sein wie in diesem Pamphlet eines Investmentbankers, der vor der drohenden Abschaffung unseres Bargelds warnt - und in seinem Appell zur Stärkung individueller Freiheitsrechte auch gleich noch Schusswaffen für alle fordert: "Ist es nicht ein Naturrecht, sich selbst verteidigen zu dürfen?" schreibt Schulte. "Sind nicht die reflexartigen Forderungen aus dem linken Lager nach einer völligen Entwaffnung freier Bürger der völlig falsche Weg, weil er uns gegenüber Terroristen oder im Rudel auftretenden Kriminellen sowie organisierten Banden völlig schutzlos macht?" Sagen wir so: Mein persönliches Sicherheitsgefühl würde nicht unbedingt steigen, wenn solche durchgeknallten Verschwörungstheoretiker wie Thorsten Schulte und seine Leser in Deutschland nun auch noch mit Kurz- und Langwaffen durch die Gegend liefen.
Platz 1: Andreas Michalsen "Heilen mit der Kraft der Natur"
"Sollen wir alle Vegetarier werden?", fragt der Arzt Andreas Michalsen in diesem Buch, in dem er Schulmedizin und Naturheilkunde zu versöhnen trachtet. Der Professor für Naturheilkunde an der Berliner Charité kommt zu dem Schluß, man könne "diese Frage nur mit Ja beantworten". Mir ist das zu dogmatisch, selten hatte jedenfalls ich größere Lust auf einen Schweinsbraten mit Spätzle als nach Lektüre dieses kargen Wurzelsepp-Evangeliums eines sehr deutschen Gesundheitsapostels.