Vollendung
Dritter Teil
Als Thiel am nächsten Morgen aufwachte, regnete es noch immer oder schon wieder. Thiel war erstaunt, dass die Tatsache ihn nicht weiter bekümmerte, im Gegenteil: die Aussicht, von Boerne im Auto mitgenommen zu werden, machte den Regen um einiges erträglicher. Erst als er in die Küche stand und seine zweite Tasse Kaffee austrank, fiel sein Blick auf den Kalender und er musste lächeln. Das Datum hatte sich in seinem Kopf festgebrannt: heute vor vier Jahren hatte er vor seinen ersten Fall in dieser Stadt gestanden. Vier Jahre, seit er in Münster wohnte. Vier Jahre, seit er und Boerne vor ihren Wohnungstüren das erste Mal aufeinander getroffen waren und Thiel ihm den fein säuberlich verpackten Lattenrost seines neuen Betts ins Gesicht geschlagen hatte. Bei der Erinnerung an diesen Tag musste er grinsen. Sein großspuriger Nachbar hatte ihm bereits in den ersten Stunden ihrer Bekanntschaft einiges an Nervenstärke abverlangt. Ab und an hatte er sich schon gewünscht, sich nicht länger mit Boerne herumschlagen zu müssen. Wie anders war nun alles gekommen! Thiel schüttelte amüsiert den Kopf. Dann trank er seinen Kaffee aus und beeilte sich, unter die Dusche zu kommen und sich anzukleiden. Boerne konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn man ihn warten ließ.
Und Boerne wartete offenbar schon länger - zu Thiels Erstaunen verhielt er sich dabei für seine Verhältnisse äußerst geduldig. Kein stürmisches Türeklingeln, stattdessen hatte er sich gegen das Treppengeländer gelehnt und war in irgendeine Finanzzeitschrift vertieft. Als er Thiel bemerkte, hob er den Kopf und lächelte ihm zur Begrüßung entgegen. Thiel murmelte ein paar verlegene Worte - Boernes Anblick erinnerte ihn sofort wieder an den gestrigen Abend und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er brauchte ein paar Anläufe, bis die Schlüssel das Schlüsselloch fanden - fast hätte er sie dabei fallen gelassen. Boerne wartete mit überraschendem Gleichmut, bis Thiel die Tür hinter sich abgeschlossen hatte und sich zu ihm umwandte.
„Können wir?“, fragte er dann ohne jede weitere Einleitung.
Thiel nickte und folgte Boerne nach draußen. Hastig überquerten sie die Straße und flüchteten vor dem heftigen Regen in Boernes neuen Mercedes, der auf der anderen Straßenseite parkte. Boerne schaltete sofort die Heizung an und bald war es drinnen mollig warm, während die Scheibenwischer kräftig arbeiten mussten, um die Unmengen an Wasser zur Seite zu schieben. Thiel war ganz froh, dass er bei diesem Wetter nicht mit dem Fahrrad unterwegs war.
Sie sprachen nicht viel auf der Fahrt zum Präsidium. Boerne schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein - tat er bloß so oder bemerkte er die kurzen Seitenblicke, die Thiel ihm dann und wann zuwarf, tatsächlich nicht? Der Kommissar wusste nicht ganz, was er davon halten sollte. Warum war da auf einmal dieses nachdenkliche Schweigen zwischen ihnen? Dachte Boerne auch an gestern? Sollte er ihn darauf ansprechen? Vielleicht hatte es ja gar nichts mit ihm zu tun, sondern Boerne hatte bei seiner Lektüre im Hausflur bloß entdeckt, dass eine seiner Stammaktien mal gerade wieder auf dem absteigenden Ast war. Thiel zwang sich zur Ruhe. Geduld, nur Geduld. Aber er ertappte sich dabei, wie er mit den Fingern nervös an der Beifahrertür herumtrommelte. Mit einem Mal erschien ihm der vor ihnen liegende Arbeitstag wie eine kleine Ewigkeit, die es zu warten galt, bis sie heute Abend wieder Zeit füreinander haben würden. Warten. Er hatte seit einer Ewigkeit nichts anderes getan, als zu warten. Den Dingen ihren Lauf zu lassen. Zu beobachten, wie ihre Beziehung sich weiterentwickelte. Sicher, langsam. Das hatte ihn nie gestört.
Jetzt plötzlich fiel ihm dieses Warten schwer. Thiel war nie ein Mann großer Worte gewesen. Wenn er könnte, dann hätte er Boerne viel lieber gezeigt, was er fühlte, anstatt es aussprechen zu müssen. Aber das ging natürlich nicht. Nicht jetzt und nicht hier und vor allem nicht, wenn Boerne ihm nicht vorher ein wenig entgegen kam.
Viel zu schnell erreichte der Wagen das Ziel. Boerne hielt in zweiter Reihe vor dem Präsidiumsgebäude und ignorierte den Fahrer hinter ihnen, der aufgeregt hupte und ihnen einen Vogel zeigte, als er sie überholte.
„Sie wissen ja“, sagte Boerne übergangslos, „wenn Sie tagsüber irgendwohin gefahren werden möchten - Zeugenbefragung, neue Leichenfunde oder einfach eine Bratwurst zwischendurch - rufen Sie mich an. Wenn ich verhindert bin, können Sie immer noch auf Ihren Vater ausweichen.“
Thiel wusste nicht, was er darauf sagen sollte, aber er musste schließlich irgendetwas antworten. „Danke, das ist nett“, meinte er schließlich.
Boerne sah kurz zu ihm herüber, dann lehnte er sich nach hinten und griff nach etwas auf der Rückbank, das er Thiel reichte: einen Regenschirm. „Da, nehmen Sie den. Wenn man dem Wetterbericht überhaupt trauen kann, soll es heute nicht mehr sehr viel besser werden.“
„Äh, ja… vielen Dank“, stammelte Thiel überrascht.
Boerne warf ihm einen kritischen Blick zu. „Zweimal Danke in den letzten zwei Sätzen - sagen Sie mal, Thiel, geht es Ihnen heute nicht gut? Zugegeben, Sie sind auch sonst nicht der große Redner, aber normalerweise sind es die Höflichkeitsfloskeln, die Sie zuerst unter den Tisch fallen lassen. Muss ich mir Sorgen machen? Sind Sie am Ende doch noch krank geworden? Sie sollten nicht bei offenem Fenster schlafen, solange die Temperaturen so tief sind, das ist nicht gerade bekömmlich.“
Thiel starrte ihn an. „Woher wissen Sie, dass ich - Boerne! Sind Sie etwa heute Nacht schon wieder in meine Wohnung eingebrochen, während ich geschlafen habe?!“
„Ich?“ Boerne hob die Hände. „Was denken Sie von mir? Natürlich nicht. Nein, ich habe gestern lediglich einen kleinen Abendspaziergang im Regen gemacht, nachdem… Sie gehen mussten. Das klärt den Geist, wunderbar entspannend. Dabei fiel mir Ihr offenes Fenster ins Auge. Ich hätte es ja für Sie geschlossen, aber weil Sie das letzte Mal diesen unnötigen Aufstand gemacht haben, als ich in Ihrer Wohnung war…“
„Unterstehen Sie sich! Sie kommen nur noch in meine Wohnung, wenn ich Ihnen vorher die Tür aufgemacht habe!“
„Wie gastfreundlich Sie wieder einmal sind, Thiel. Jetzt war ich schon so zuvorkommend und habe den Umweg genommen, um Sie trockenen Fußes zur Arbeit zu bringen, da könnte ich doch wirklich einen etwas liebenswerteren Tonfall von Ihnen erwarten.“
„Dann bedanken Sie sich beim Regen. Wenn dieses elende Wetter nicht wär, würde ich mich sicherlich nicht in Ihrer Nobelkarre herumkutschieren lassen. Fahrradfahren ist ohnehin viel gesünder.“
„Ohne diese Nobelkarre, wie Sie es ausdrücken, wären Sie gestern gar nicht zum Tatort gekommen. Aber bitte, wenn Sie Ihr rostiges Tretross bevorzugen… und falls Sie sich Sorgen um Ihre Gesundheit machen, da fallen mir eine Vielzahl an anderen, sehr angenehmen Aktivitäten ein, die mindestens genauso schweißtreibend sind, bei denen man aber auch bei solchem Wetter trocken bleibt.“
Thiel zog die Augenbrauen hoch. „Ah ja. Was denn? Schach?“
„…Tanzen, zum Beispiel. Oder Eislaufen.“
„Pff! Boerne!“
„Denken Sie mal über die Alternativen nach.“
„Und so was von einem Golfspieler!“
„Haben Sie Angst um Ihr männliches Selbstwertgefühl?“
„Ich glaub, ich steig jetzt besser aus.“
„Vergessen Sie den Schirm nicht.“
„Ja, äh, danke.“ Thiel hatte die Hand schon auf dem Türgriff liegen, hielt dann aber inne. Das Gefühl von Zuversicht und Sicherheit war zurückgekehrt - da waren sie wieder, diese kleinen Kabbeleien, die kannte er, die waren vertraut. Und dennoch wollte er nicht einfach aussteigen, ohne vorher noch etwas anzuhängen. Etwas Unmissverständliches, etwas Eindeutiges. Etwas, das Boerne auf keinen Fall mehr übersehen konnte. Nur was?
„Ich… wir sehen uns dann später“, begann er schließlich. „Ich meine, ich komme dann vorbei, um…“ Er ließ den angefangenen Satz in der Luft hängen und versuchte nicht einmal, nach einer Ausrede für seinen Besuch in der Pathologie zu suchen. Er hatte keine.
Boerne sah ihn aufmerksam an. „Wegen den Ergebnissen zum DNA-Test“, half er ihm aus.
„Richtig“, sagte Thiel ein wenig unsicher. „Wegen dieser DNA-Geschichte. Ich hoff mal, dass Sie mir dann Genaueres zu dem Fall sagen können.“
„Ah“, antwortete Boerne mit einem charmanten Lächeln, „das bezweifle ich nicht. Ich glaube, die Ergebnisse sind eindeutig, Thiel - sehr eindeutig.“
Thiels Nachmittag war so ereignisreich, dass er kaum Zeit dafür fand, sein Versprechen zu erfüllen. Dauernd kam irgendein vermeintlicher Zeuge durch die Tür gestürmt, der glaubte, alles gesehen zu haben und alles genau zu wissen und überhaupt mal seine Meinung zu dem Fall abgeben zu müssen. Meistens handelte es sich um junge Schüler aus der gleichen Schule, in der die beiden Opfer gelebt und gelernt hatten. Gegen zwei Uhr war Thiel mit seiner Geduld am Ende. Eben war bereits der fünfte unnütze Zeuge gegangen, die Klemm hatte schon zweimal vorbeigeschaut und ihn mit strengen Worten zu Diskretion und Fingerspitzengefühl ermahnt. Thiel entschloss sich für eine kurze Pause. Er sehnte sich nach ein bisschen frischer Luft und nach Boernes Gesellschaft.
„Ich fahr dann mal kurz rüber in die Pathologie“, sagte er an Nadeshda gewandt. „Sie kommen hier ja allein zurecht. Es geht um den DNA-Test von diesem Duffner.“
Nadeshda, die beneidenswerterweise nicht halb so entnervt schien wie er, warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ja, aber meinen Sie, der ist jetzt schon fertig?“
„Den Herrn Professor besuche ich lieber zu früh als zu spät“, murmelte Thiel.
„Soll ich lieber für Sie hingehen, Chef?“, fragte Nadeshda vorsichtig.
„Äh, nicht nötig“, antwortete Thiel schnell und griff nach seiner Regenjacke. Mit einem leichten Lächeln fügte er hinzu: „Damit werde ich schon noch selber fertig.“
Er hörte Nadeshda hinter sich mitfühlend seufzen, als er sich aus dem Raum stahl. Thiel konnte nicht verhindern, dass sich ein verstecktes Grinsen auf sein Gesicht stahl. Armes Mädchen. Sie konnte es ja nicht ahnen.
Im Keller der Gerichtsmedizin war niemand zu sehen, aber Boerne konnte nicht weit sein, denn die dramatischen Töne einer lateinischen Totenmesse - Dvóřak, wenn Thiel sich nicht irrte - hallten durch den ganzen Raum. Thiel überlegte, ob er rufen sollte, aber bei diesem Lärm würde er vermutlich seine eigene Stimme kaum hören können. Also schritt er den Raum kurzerhand ab und hielt nach Boerne Ausschau.
Er fand ihn in seinem Büro. Dort wütete das Chaos: der Laptop, sämtliche Schreibutensilien, Briefbeschwerer, Telefon, Akten und Unterlagen, alles war auf dem Boden in einem großen Halbkreis rund um einen neuen Schreibtisch angeordnet, der die Mitte des Raums ausfüllte. Der alte Schreibtisch war dezent in die Ecke gerückt worden und drängte sich dort gegen die Wand, auf ihm stapelten sich Verpackungskartons und -folien. Thiel blinzelte verdutzt und trat ein paar Schritte vor. Jetzt konnte er auch den Professor entdecken, der in seinem weißen Kittel unter dem Schreibtisch kniete und ihn noch nicht bemerkt hatte, ganz vertieft in seine Arbeit und die Musik. Thiel wartete einen Moment lang unschlüssig. „Boerne?“, fragte er schließlich.
Keine Antwort, aber die hatte er bei dem Krach auch nicht erwartet. Genervt seufzte der Hauptkommissar und sah sich nach der Fernbedienung für die Musikanlage um, aber es schien unmöglich, in diesem Durcheinander irgendetwas wiederzufinden. Also passte er eine Stelle ab, an der sanfte und leise Geigen den Chor ablösten, und hob dann selbst seine Stimme: „Boerne!“
Boerne fuhr erschrocken zusammen und ein lauter Schrei drang von unter dem Schreibtisch hervor. Thiel konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als der Professor unter der Tischplatte hervorgekrochen kam. Er streifte Thiel mit einem verärgerten Blick und rieb sich den schmerzenden Kopf.
„Sagen Sie mal, können Sie mich nicht vorher warnen?“, fuhr er ihn an. „Müssen Sie sich so anschleichen wie ein Meuchelmörder? Sie haben mich ja zu Tode erschreckt, als Sie plötzlich hinter mir standen!“
Thiel hob die Schultern. „Drehen Sie die Musik nicht immer so auf. Dass Sie noch keinen Gehörschaden haben…“
Boerne murmelte irgendwas vor sich hin, stand umständlich auf und klopfte nicht vorhandene Staubflusen von seinem Kittel.
„Was soll denn das hier eigentlich werden?“, fragte Thiel und sah sich um. „Ihr alter Schreibtisch war doch völlig in Ordnung.“
Die Antwort konnte er nicht verstehen, denn in eben diesem Augenblick setzte der Chor des Requiems wieder ein und mit ihm ein ganzes Bataillon an Streichern und Paukern. Boerne hob bloß die Hände. Jetzt wurde es Thiel zu bunt und er trat auf die Musikanlage zu, packte das Kabel und zog es aus der Wand. Sofort war Ruhe.
„Ich hoffe, Sie sind nicht bei allem, was Sie tun, so unsanft“, sagte Boerne unbeeindruckt.
„Solange Sie nicht bei allem, was Sie tun, so… so laut sind“, entgegnete Thiel. „Wenn ich Frau Haller wäre, hätte ich schon dreimal gekündigt.“
„Wenn Sie Alberich wären, wäre das allerdings auch besser so“, bemerkte Boerne und tastete vorsichtig mit dem Finger seine Schädeldecke ab. Dann verzog er das Gesicht. „Danke, Thiel, das wird eine schöne Beule geben.“
„Wieso haben Sie sich das Ding nicht einfach von den Lieferern aufbauen lassen?“ Thiel ließ seinen Blick über den Schreibtisch schweifen. Die Bauanleitung lag auf dem Boden ausgebreitet und war anscheinend akribisch abgearbeitet worden, jeder Einzelschritt war mit blauem Kuli abgehakt. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass Sie sich dazu herablassen, auf dem Boden herumzukriechen.“
„Selbst ist der Mann, mein lieber Thiel.“ Boerne wandte sich um und warf dem Schreibtisch verliebte Blicke zu. „Sieht doch viel besser aus als das alte Kinderpult. Manchmal muss einfach was Neues her, modern und elegant. Da macht die Arbeit auch gleich doppelt so viel Spaß.“
Thiel verdrehte die Augen, aber wie so oft in letzter Zeit schien es ihm eher eine Geste der Gewohnheit zu sein. Früher war ihm Boernes Gefasel gerne auf die Nerven gegangen, heute war es für ihn einfach Teil der liebenswerten Art des Professors. „Apropos Arbeit“, sagte er. „Haben Sie denn nun ein paar Ergebnisse für mich?“
Boerne drehte sich wieder zu ihm um und musterte ihn kurz. „Was möchten Sie denn von mir hören?“
„Na, ob der Test positiv war.“
„Das kommt wohl darauf an, von welchem Standpunkt Sie die ganze Sache betrachten“, antwortete Boerne mit einem bedeutsamen Lächeln. „Mit welchen Erwartungen sind Sie denn hierher gekommen? Denn ob positiv oder nicht, das hängt immer davon ab, was Sie erwartet haben.“
Thiel gefiel das überhaupt nicht. Dann und wann hatte er schon das Gefühl, er und Boerne redeten völlig aneinander vorbei. Er fühlte sich verunsichert und wusste nicht genau, wie er darauf reagieren sollte. „Bitte? Was soll das denn jetzt?“, fragte er schließlich ungeduldig. „Ich will doch bloß ein klares Ja oder Nein hören, Boerne!“
„Ein Ja oder Nein auf welche Frage, Thiel?“, entgegnete Boerne unbeirrt.
Thiel zögerte. „Na, auf die Frage, ob Kai Duffner der Mörder war oder nicht“, sagte er dann.
Boerne antwortete zunächst nicht und Thiel war nahe daran, die Geduld zu verlieren. Wenn Boerne ihm etwas sagen wollte - denn diesen Eindruck hatte er - dann konnte er sich ruhig ein wenig klarer ausdrücken, statt mit kryptischen Andeutungen um sich zu werfen. Aber schließlich nickte der Professor und trat nach vorne, um den Blick suchend über das Chaos auf dem Boden irren zu lassen. Thiel wartete, während Boerne hier und dort eine Akte aus den Papierstapeln zog. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, und hielt Thiel die Mappe mit den Ergebnissen vor die Nase.
„Keine Übereinstimmung, wie’s aussieht“, sagte er.
„Keine?“, wiederholte Thiel. Dabei war er sich recht sicher gewesen und hatte sich gefreut, den Fall bereits in so kurzer Zeit vom Tisch zu haben.
„Wir haben die DNA des Verdächtigen mit den Hautresten unter den Fingernägeln des Opfers verglichen“, sagte Boerne. „Klassische Methode, leider negative Ergebnisse.“
„Was trotzdem nicht ausschließt, dass er der Mörder war“, stellte Thiel klar.
Boerne hob die Schultern. „Es heißt bloß, dass die blauen Flecken und Verletzungen nicht von ihm stammen können. Er hat sie nicht misshandelt, aber vielleicht hat er sie trotzdem getötet. Das herauszufinden, ist dann ja wohl Ihre Aufgabe, nicht meine.“ Er warf den Bericht auf seinem neuen Schreibtisch ab.
„Na prima“, murmelte Thiel und verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Damit wäre sein Besuch in der Pathologie abgeschlossen - er hatte, was er brauchte, und konnte im Grunde wieder gehen. Und gerade jetzt fiel ihm kein geeignetes Thema für ein bisschen Smalltalk ein.
„Ach, wie war übrigens Ihr Tag?“, fragte der Professor jetzt. „Hat sich das Wetter denn gehalten? Hier unten bekomme ich nicht allzu viel davon mit, was da draußen im Rest der Welt passiert, wenn Sie verstehen.“
„Na ja, es hat den ganzen Tag geregnet“, sagte Thiel. Redeten sie jetzt schon übers Wetter? Das wurde ja immer besser.
Boerne warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. „Ich mach dann heute höchstwahrscheinlich um halb neun Schluss, wenn nichts dazwischen kommt. Wenn Sie bis dahin noch im Präsidium sind, rufen Sie mich an, dann fahre ich vorbei und nehme Sie mit.“
„Sie müssen wirklich nicht -“, begann Thiel unbehaglich, wurde aber sofort unterbrochen.
„Sie denken, dass ich Sie im Regen stehen lasse?“, fragte Boerne überrascht. „Wenn wir schon mal das wunderbare Glück haben, Tür an Tür zu wohnen, sollte man das auch in der Tagesplanung ausnutzen, nicht?“
Thiel glaubte, sich verhört zu haben. „Glück? Sagen Sie mal, Boerne, was ist denn heute los mit Ihnen?“
„Nichts, danke der Nachfrage.“ Boerne lehnte sich rücklings gegen die Kante seines neuen Schreibtischs. „Nur weil Sie ständig mit der Sieben-Tage-Regenwetter-Miene herumlaufen, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht guter Laune sein darf.“
„Und… Sie meinen das ernst?“
„Das mit dem Regenwetter? Das war bloß eine Metapher - wir haben seit sieben Tagen Regenwetter, falls Sie mitgezählt haben.“
„Nee, ich meinte das… mit dem Glück…“
Jetzt lächelte Boerne. „Thiel, nun stellen Sie sich doch nicht dümmer an, als Sie sind. Ich hätte sicherlich kein Problem damit, einen neuen Mieter zu finden. Aber ich müsste ja nicht mehr ganz recht bei Verstand sein, um Ihnen zu kündigen. Nein, lassen Sie uns über was anderes sprechen, das ist doch kein Thema. Haben Sie sich nach dem Autokennzeichen erkundigt?“
„Autokennzeichen?“, wiederholte Thiel, verwirrt über den schnellen Themenwechsel.
„Ja, den Parkplatzdieb. Sie haben mir doch versprochen -“
„Boerne, ich hab Ihnen gar nichts versprochen.“
„Och, Thiel…“
„Warum nehmen Sie nicht einfach einen anderen Parkplatz - was ist daran denn so schwer?“
Boerne warf ihm einen durchdringenden Blick zu. „Ich habe nun einmal ziemlich genaue Vorstellungen von dem, was mir gehört. Wenn ich etwas sehe, das mir gefällt, dann möchte ich es auch uneingeschränkt besitzen können. In diesem Punkt habe ich meine Entscheidung schon lange getroffen.“
„Jaja, und Sie teilen nicht gerne, ich weiß“, murmelte Thiel. Es sollte spöttisch klingen, aber seine Stimme hatte ganz von alleine einen eigenartigen Tonfall angenommen. Wieder einmal hatte er das Gefühl, der Pathologe sagte mehr, als seine Worte vorgaben.
„Hm, wie man es nimmt.“ Boerne legte nachdenklich den Kopf schief. „Manche Dinge werden besser, indem man sie teilt, sagt man nicht so?“ Er stieß sich vom Schreibtisch ab und Thiel registrierte nervös, dass er ihm dabei scheinbar gedankenverloren näher kam.
„Mhm“, machte er. Er hätte gerne eine sinnvollere Antwort gegeben, aber sein Mund fühlte sich ganz trocken an. Ohnehin rauschten seine Gedanken schon wieder in einem solchen Wirrwarr durch seinen Kopf, dass er das Gespräch unmöglich auf diese lockere Art weiterführen konnte.
„Oder“, sagte Boerne, der jetzt so nahe stand, dass Thiel seine Körperwärme spüren konnte - oder war das bloß die kribbelnde Hitze unter seiner eigenen Haut? - „oder vielleicht ist es auch davon abhängig, wer es ist, mit dem man etwas teilen möchte.“
Thiel sah zu ihm auf und hielt den Atem an. Boernes Blick war ernst und offen, das leise Lächeln, das um seine Mundwinkel lag, kaum wahrnehmbar. Sein Gesichtsausdruck war in diesem Moment so uncharakteristisch einladend, dass er Thiel fast fremd vorkam - und dann wieder nicht, denn das war schließlich immer noch Boerne, den er in den letzten Jahren in- und auswendig gelernt hatte. Auf eine seltsame Art und Weise war das hier vertrauter und wirklicher als alles, was sie bisher gewesen waren. Vielleicht, weil es genau das war, was sie eigentlich sein wollten. Der verschlungene Weg, auf dem sie sich in den letzten Wochen langsam einander genähert hatten, war plötzlich zu einer geraden, überschaubaren Strecke geworden. Und wie kurz diese Strecke plötzlich war! Nicht länger als vier, fünf Zentimeter: der einzige Abstand, der sie noch trennte.
Der nächste, der jetzt ungebeten hereinplatzte, würde von ihm persönlich erschossen werden, dafür würde er sorgen, dachte Thiel, bevor er alle weiteren Gedanken über Bord warf und die Distanz zwischen ihnen schloss. Der Kragen von Boernes weißem Kittel bot einen wunderbaren Halt und so konnte er den Pathologen packen und zu sich herabziehen. Der Kuss begann vorsichtig und sanft wie ein erstes Kennenlernen, wurde dann aber schnell stürmischer, als Thiel seine Arme um Boerne legte und ihn an sich heranzog. Boerne gab einen undefinierbaren Laut der Zustimmung von sich, der allerdings völlig in ihrem Kuss unterging, und schlang mit einiger Verspätung seine Arme ebenfalls um Thiel. Seine Hände wanderten dabei Thiels Rücken hinauf bis in seinen Nacken, wo er mit den Fingern durch die Spitzen des kurz geschnittenen Haars strich. Diese leichte Berührung brachte Thiel nun völlig um alles, was von seinem Verstand bis zu diesem Punkt noch übrig geblieben war. Er vergaß, dass sie mitten in Boernes Büro in der Pathologie standen, wo sich im Nebenzimmer die Leichen stapelten, er vergaß den klinischen Geruch dieser Räume, er vergaß die ganze Welt um sie herum mit all ihren Konsequenzen - nur sie beide existierten noch und die Wärme und die Nähe und die Vollendung zwischen ihnen. Boerne löste sich kurz von ihm, um nach Luft zu schnappen, aber Thiel war nicht gewillt, ihn so schnell wieder entkommen zu lassen, und keine Sekunde später hingen sie mit den Lippen schon wieder aneinander. Dass Boerne mit ebensolchem Enthusiasmus über ihn herfiel, trug nicht gerade dazu bei, Thiels Leidenschaft zu zügeln. Er drängte sie noch dichter zusammen - Boerne stieß hinterrücks gegen den neuen Schreibtisch und löste eine Hand kurz von Thiel, um sich an der Tischplatte festzuhalten - Thiel zerrte währenddessen an Boernes Kittel herum, der ihn jetzt zu stören begann - viel zu dicht und viel zu viel, was da noch zwischen ihnen war. In seiner Hast kam er allerdings nicht weit und nahm das protestierende Knacken, das der Schreibtisch von sich gab, auch überhaupt nicht wahr. Dann gab es auf einmal einen lauten Schlag und Boerne stolperte zurück, verlor den Halt, wurde Thiel geradezu aus den Händen gerissen und landete auf dem Boden: genau neben der Schreibtischplatte, die sich vom Rest des Tischs gelöst hatte und nach vorne weggekippt war. Thiel, der sich gegen ihn gelehnt hatte, wäre fast hinterhergestürzt und konnte gerade noch im letzten Moment das Gleichgewicht halten.
Es verging ein kurzer Augenblick, bis Thiel nachvollziehen konnte, was gerade passiert war. Boerne saß bloß auf dem Boden und blinzelte verwirrt vor sich hin. Thiel starrte ihn einen Moment lang an, immer noch heftig atmend. Dann presste er die Lippen fest aufeinander. Aber es nutzte nichts. Er konnte sich nicht zurückhalten und schließlich brach er in ein lautes, ungeniertes Prusten aus. Der Anblick war auch einfach zu köstlich: Boerne, vor seinem in sich zusammengestürzten Schreibtisch, den Kittel ganz unordentlich, die Brille reichlich schief auf der Nase, das Gesicht gerötet und sein Ausdruck eine Mischung zwischen Verwirrung und Hilflosigkeit. Wenn Thiel nicht so hätte lachen müssen, dann hätte er sich sofort auf ihn gestürzt: sicherlich war der Pathologe ihm niemals so unwiderstehlich und liebenswert erschienen wie in diesem Moment. Aber da war dieses seltsame, unruhige und doch irgendwie angenehme Kribbeln in seinem Inneren, das sich einfach mit befreiendem Gelächter Platz machen musste. Er hielt Boerne, die Hand hin, um ihm wieder aufzuhelfen, hin- und hergerissen zwischen himmlischer, glückseliger Heiterkeit und verlegener Beschämung.
Boerne schien die ganze Situation überhaupt nicht komisch zu finden. Er ignorierte Thiels Hand pikiert und zog sich ohne fremde Hilfe an den Überresten seines neuen Schreibtischs wieder nach oben. „Anscheinend amüsiere ich Sie prächtig“, sagte er kühl.
Thiels gute Stimmung war wie weggespült, stattdessen breitete sich ein sinkendes Gefühl in seinem Magen aus. „Ich lach doch nicht über dich… äh Sie… ich meine…“ Hilflos hielt er inne. Boerne nach diesem Kuss eben noch zu siezen, kam ihm geradezu lächerlich vor, aber anscheinend war es nicht der beste Augenblick, das auszusprechen.
„So?“ Boerne funkelte ihn missmutig an. „Ich hoffe, Sie sagen jetzt nicht, dass Sie mit mir lachen - wie Sie vielleicht erkennen können, lache ich nämlich nicht.“
„Aber… aber ich…“, stammelte Thiel und brach dann ab. Boerne brachte seine Kleidung mit einer abrupten, bestimmten Bewegung wieder in Ordnung, dann würdigte er Thiel keines Blickes mehr und stürmte einfach an ihm vorbei aus dem Büro. Thiel konnte ihm nur mit offenem Mund nachstarren. Er wollte Boerne hinterher und ihn aufhalten, aber er fühlte sich wie gelähmt. Was war denn nur los, was hatte er falsch gemacht?
Boerne hatte mittlerweile schon die Tür erreicht, die sich wie von Zauberhand vor ihm öffnete. Silke Haller kam herein, gut gelaunt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Fast stieß sie mit Boerne zusammen, der sich unwirsch an ihr vorbeidrängen wollte.
„Ah, guten Tag, Chef“, rief sie erfreut. „Ich hab Ihnen was mitgebracht: da ist gerade ganz frisch ein neuer Leichnam aufgetaucht. Ein junger Student, bei einem Tauchunfall umgekommen -“
„Ich hab im Augenblick keine Zeit, sehen Sie das nicht?“, entgegnete Boerne aufgebracht. „Kümmern Sie sich da mal selbst drum, Alberich! Ich bin hier ja auch nicht der Mann für alles, ja?“
Bevor seine Assistentin zu einer Antwort ansetzen konnte, war Boerne auch schon aus dem Raum und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Silke Haller zog bloß erstaunt die Augenbrauen hoch, kommentierte das Verhalten ihres Chefs aber nicht weiter. Stattdessen wandte sie sich mit einem Schulterzucken ab und wollte ins Büro gehen. Erst jetzt bemerkte sie Thiel, der noch immer ein wenig verloren in der Bürotür stand und nicht so recht wusste, wohin mit sich.
„Ah, Herr Thiel!“, sagte sie überrascht. „Guten Tag. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“
Thiel hob die Schultern, schüttelte dann den Kopf. „Nee, schon okay… ich hab mich bloß mit Boerne unterhalten.“
„So?“ Sie sah ihn etwas belustigt an. „Dann wissen Sie vielleicht, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist?“
Thiel wich ihrem Blick aus. Er hatte das Gefühl, die Wahrheit stünde in dicken, großen Buchstaben auf seine Stirn gepinselt. „Ja, wir hatten ein kleines… äh, Missverständnis sozusagen.“ Jetzt spürte er auch noch, wie er rot wurde. „Ich fürchte, er hat mich falsch verstanden und ist jetzt nicht so gut auf mich zu sprechen.“
Sie lächelte. „Ach, machen Sie sich mal keine Sorgen, Herr Thiel. Das gibt sich schnell wieder. In ein paar Stunden hat er’s sicherlich schon wieder vergessen.“
Das bezweifelte Thiel im höchsten Maße - wie sollten er oder Boerne jemals vergessen können, was eben zwischen ihnen passiert war? Schließlich nickte er matt. „Ja, danke, Frau Haller. Ich… ich muss dann auch mal wieder. Bis später.“ Er wandte sich ab und ging auf die Tür zu, müde und unfixiert. Die ganze Umgebung schien um ihn herum zu schwanken. Hinter sich hörte er noch Frau Hallers entsetzten Aufschrei, als sie das Büro betrat und das Chaos auf dem Fußboden erblickte - „was ist denn hier passiert?“ - dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Thiel war wieder alleine.
(Fortsetzung im Vierten Teil)