Die normalen Russen waren immer klein. Doch die Größe ihrer Herrscher konnte sie darüber hinwegtrösten. Auch Wladimir Putin tröstet die Russen. Und wenn er dafür sein letztes Hemd ausziehen muss.
Von Kathrin Spoerr
Es gibt kaum einen erhabeneren Anblick auf der Weltkarte als der Anblick Russlands. Russland ist größer als Europa, größer als Australien. Frankreich, das (nach Russland) größte Land Europas, passt 30-mal rein und unser kleines Deutschland ungefähr 50-mal.
So groß ist Russland.
Es gibt kaum ein ernüchternderes Erlebnis als eine Reise durch das reale Russland. Tausende Kilometer Monotonie, Tausende Kilometer Menschenleere und da, wo Menschen leben, jahrhundertealte Verwahrlosung.
Der mit dem Fisch kämpft: Russlands Präsident Wladimir Putin präsentiert sich gerne mannhaft als erfolgreicher Jäger
Foto: AFP
Obwohl so groß, kriegt Russland wenig hin
Straßen, die von nirgendwo nach nirgendwo führen, zu lang, zu unbedeutend, um sie zu pflegen. Ein Auto fährt hier nur jemand, der im Notfall auch in der Lage ist, es zu reparieren. Russland ist seinen Landmassen nicht gewachsen. So klein ist Russland.
Auch geopolitisch eher marginal Interessierten fällt auf: Obwohl Russland so groß ist, kriegt es so wenig hin. Natürlich ist es nicht so, dass Russland gar nichts hinkriegt. Russland hatte Dostojewski, Pawlow, Tschaikowsky. Auch Juri Gagarin und Lomonossow. Und die
Transsibirische Eisenbahn. Das muss man anerkennen. Aber Russland ist groß. Und in der Fläche - da hapert es
Russland ist nicht das einzige Land in der Welt, das wenig hinkriegt. Auch Kongo kriegt kaum etwas auf die Reihe. Bolivien und Albanien haben ebenfalls Probleme. Der Unterschied zu Russland ist, dass weder Kongo noch Bolivien noch Albanien so tun oder je so getan haben, als seien sie die Allergrößten. Das macht nur Russland.
Jeder kennt Wladimir Putin
Der Unterschied zu Kongo, Bolivien und Albanien ist ferner, dass niemand die Präsidenten dieser Länder kennt, aber jeder den Präsidenten von Russland. Jeder kennt Wladimir Putin. Seine blonden Haare. Seinen nackten Oberkörper. Seine Muskeln. Seine grünen Augen. Seinen stechenden Blick. Für einen über 60-Jährigen sieht Putin verdammt gut aus. Aber er sieht auch aus wie einer, mit dem man nicht allein sein möchte in einer Verhörzelle des FSB.
Dass man Putin kennt, liegt nicht an seinem Aussehen. Man kannte auch seine weniger attraktiven Vorgänger, von Jelzin über Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin bis hin zu Lenin. Man kannte die Zaren, die Diktatoren, die Oligarchen. Denn alle diese Herrscher wollten immer mehr bestimmen als die Geschicke des eigenen Landes. Weltmacht, Supermacht sein, das will von den schlecht organisierten Ländern der Welt nur Russland.
Land der Zaren, Diktatoren, Oligarchen
Komischerweise tut nicht nur Russland, sondern auch der Rest der Welt so, als sei Russland eine Supermacht - obwohl die Zustände in diesem Land nicht geheim sind. Russland durfte schon immer mit den Großen spielen.
Putin konnte, als er 2000 Präsident wurde, dort weitermachen, wo seine Vorgänger aufgehört hatten. Er hat bei den UN ein Vetorecht geerbt und behalten. Er wird zu
G-8-Treffen eingeladen - obwohl Russland, ebenso wie Saudi-Arabien, kaum mehr zu bieten hat als Gas und Öl.
Obwohl er nur der Chef eines korrupten Entwicklungslandes ist, wird Putin behandelt wie der Chef einer Supermacht. Sogar von der Supermacht Amerika. Der Westen will Putin nicht ärgern. Putin darf überall mitreden. Aber das reicht ihm nicht. Es macht ihn schier verrückt, dass er sein Reich nicht zu der Größe geformt bekommt, die es zu Sowjetzeiten hatte.
Als 5000 atomare Sprengköpfe auf Washington gerichtet waren und der Rest des Landes, vor allem des Hinterlandes, damit beschäftigt war, Kohlköpfe auf der Datsche anzubauen und in der Kolchose Kohlen zu klauen, um den kalten Winter zu überleben. So groß und so klein ist Russland.
Demokratie ist harte Nuss für die Russen
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versucht es Russland mit Demokratie - mit mäßigem Erfolg. In mehr als 20 Jahren seit Ende des Kommunismus ist es weder Putin noch seinen Vorgängern gelungen, Russland in ein funktionierendes Gemeinwesen umzubauen. Wahrscheinlich ist das auch zu viel verlangt.
Zu viele Schritte, die die westlichen Länder auf dem Weg zur Gegenwart gegangen sind, müsste Putin nachholen lassen. Die Aufklärung, die Säkularisierung, die Gewaltenteilung. Das voltairesche Verhältnis zur Meinung des politischen Gegners. Das alles wäre unendlich mühsam.
Viel leichter fällt Putin der altbewährte Weg, etwa beim Umgang mit lästigen Figuren wie
Chodorkowski, Pussy Riot oder Anna Politkowskaja. Es ist der Weg der Macht.
Die Russen lieben ihre Unterdrücker
Und die Russen lieben mächtige Menschen. Große Gesten der Unterwerfung kennt man vom russischen Hof, von der orthodoxen Kirche und auch aus dem russischen Alltag. Jeder Schalterbeamte, jeder Verkäufer und Polizist setzt im Dienst das strenge Gesicht seiner kleinen Macht auf, welches Verbindlichkeit und Freundlichkeit nicht duldet - um es nach Dienstschluss wieder abzusetzen.
Die Russen
lieben auch ihre Unterdrücker, sie liebten die Romanows, die Uljanows und die Dschugaschwilis. Lenin und Stalin mögen Millionen auf dem Gewissen haben, das hält die Russen nicht davon ab, sie zu verehren und sich der Zeiten zu erinnern, in denen Despoten ihr Land groß gemacht hatten. So groß, dass die Welt vor Angst schlotterte.
Die normalen Russen waren immer klein. Aber ihre Herrscher waren groß. Die Größe ihrer Herrscher tröstete die kleinen Russen. Auch Putin tröstet die Russen.
Im Westen wird Putin nicht richtig verstanden. Man sieht den Oligarchen mit KGB-Vergangenheit. Und das ist er ja auch. Wie fast alle russischen Regierungsmitglieder ist Putin an der monetären Verwertung der Rohstoffe des Landes höchstpersönlich beteiligt. Sein Vermögen wird auf Milliarden geschätzt.
Was der Westen nicht sieht, ist das: Putin hilft den Russen über ihre Bedeutungslosigkeit hinweg. Wenn er in jedem Konflikt, wo auch immer in dieser Welt, mitmischt, wenn er Keile treibt, wenn er Waffen an die immer Falschen liefert, wenn er NSA-Geheimnisverrätern Asyl anbietet.
Er pfeift auf Amerika und den Westen
Wenn er dem Westen zeigt, dass es im Osten der Welt jemanden gibt, der auf Amerika, Nato und die westliche Wertegemeinschaft pfeift - immer dann spendet Putin seinen Landsleuten Trost. Trost dafür, dass das russische Reich es nicht schafft, seiner Geografie gerecht zu werden.
Und wenn der 61 Jahre alte Putin den Oberkörper frei macht, wenn er Bären und Tiger jagt,
wenn er 20 Kilo schwere Hechte aufs blutende Maul küsst, wenn er mit Gewehr und Harpune in die Wildnis zieht, sich halb nackt in der Wildnis von Tuwa auf Pferderücken schwingt, wenn er den Judoanzug mit schwarzem Gürtel überzieht und junge Männer auf die Matte streckt, dann zeigt er der Welt und seinen trostbedürftigen Landsleuten, worin die wahre Größe Russlands liegt und vor allem, was Russland vom Rest der Welt unterscheidet.
Wir sind stark, wir sind echt, wir sind zäh, wir sind nicht unterzukriegen. Wir sind anders als ihr, weil wir anders sein wollen. Ihr müsst uns nicht verstehen. Ihr müsst uns achten, respektieren. Und ein bisschen müsst ihr uns auch fürchten.
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Wladimir Putin, geboren am 7. Oktober 1952, war bereits von 2000 bis 2008 Staatspräsident. Zu seiner Familie ...