Bingo-Story: Verräterisch

Jan 13, 2015 23:25

Titel: Verräterisch
Bingo-Prompt: Glitter
Genre: Freundschaft, etwas Humor, Romanze
Zusammenfassung: Einem Kriminalkommissar entgeht nichts.
Wörter: ~2100


Mehr als nur müde hastete Thiel den langen, weiß gestrichenen Flur des rechtsmedizinischen Institutes entlang und rieb sich dabei mürrisch das nasskalte Gesicht. Wie hatte er so dumm sein und sich um diese gottlose Uhrzeit schon mit Boerne verabreden können? Ok, als der Professor am Tag zuvor vorgeschlagen hatte, die Befunde des aktuellen Mordopfers gleich um acht durchzugehen, hatte er diesem Termin ohne nachzudenken zugestimmt. Er war überzeugt gewesen, an dem Abend früh daheim zu sein und hatte sich ausserdem insgeheim der Hoffnung hingegeben, dass Boerne ihn am kommenden Morgen bequem im Auto mitnehmen würde. Dass Wetter war schliesslich schon seit Tagen eine Katastrophe und sollte auch noch eine Weile so schlecht bleiben, da würde der Professor ihn wohl kaum im Stich und mit dem Rad fahren lassen.
Nicht im Traum hatte er damit gerechnet, dass die Karnevalsfeier im Präsidium so ausufern könnte, dass er erst nachts um vier sein Bett zu Gesicht bekommen würde. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Boerne morgens um halb acht, als Thiel sich gerade aus dem Bett gequält hatte, ganz offensichtlich schon zur Arbeit aufgebrochen war. Ohne auch nur einmal bei ihm zu klingeln! Das war doch wohl nicht zu glauben.

Dementsprechend mürrisch riss er nun mit zwanzig Minuten Verspätung die graue Schiebetür zur Rechtsmedizin auf und wappnete sich körperlich und mental bereits für die Standpauke über Pünktlichkeit, die sein Nachbar ihm mit Sicherheit gleich halten würde.
Doch ganz gegen seine Erwartung begrüßte ihn absolute Stille.
Die leeren Sektionstische lagen im Halbdunkel vor ihm, nur schwach erhellt durch die Deckenlampen in Boernes Büro. Aber die brannten sozusagen umsonst, der Professor war durch die großen Glasfenster nicht zu entdecken.

„Boerne!“ Thiel lauschte erfolglos auf eine Antwort, zog die Schiebetür hinter sich zu und marschierte in Richtung der Küche. Sicher war der Professor dort und trank einen Kaffee. Genau den brauchte Thiel jetzt auch, soviel stand fest. „Boerne? BOERNE!“ Ein kurzer Blick durch die Tür klärte ihn darüber auf, dass auch dieser Raum leer war; dass die Kaffeemaschine ebenfalls noch unberührt dastand, trug auch nicht gerade zu Thiels Laune bei.
Und der Professor ließ weiterhin kein Wort von sich hören. Aber sein Wagen hatte doch vor dem Institut gestanden? War er irgendwo im Haus unterwegs oder was? Na der konnte was erleben, wenn er einfach abgehauen war, obwohl sie doch verabredet waren…

„Verdammt Boerne, wo stecken Sie denn?“ Im Vorbeigehen überprüfte Thiel sogar die verschiedenen kleinen Lagerräume und das WC, aber selbst dort war der Professor nicht. Doch ganz hinten, am Ende des Ganges, wurde er endlich fündig. Durch die angelehnte Labortür drang Licht. Na also!
Grimmige Befriedigung beschleunigte Thiels Schritte und mit einem „Mann Boerne, ich hab echt Besseres zu tun als mit Ihnen Verstecken zu spielen!“, stürmte er in den Raum, in der Hoffnung, seinen Nachbarn so zu überrumpeln, dass der darüber seine Gardinenpredigt vergessen würde. Doch er stoppte abrupt, als sein Blick auf einen vollständig in seinem Stuhl zusammengesackten Professor fiel.
Boerne hing nur gerade noch so in seinem Sitz, in gefährlicher Schieflage, die Augen geschlossen. Ein Arm lag in seinem Schoß, einer baumelte kraftlos herunter, sein Kopf war ihm weit in den Nacken gefallen und gegen die Arbeitsplatte der Schrankmodule in seinem Rücken gesunken. Und mindestens ebenso beunruhigend wie dieser Anblick war die Tatsache, dass er sich Thiels mehr als geräuschvollen Eintritts zum Trotz keinen Millimeter gerührt hatte.

"Kacke, was ist denn mit Ihnen los?!" Hektisch sprang er zum Tisch, griff dem reglosen Mann unter den Arm um ihn zu stabilisieren und legte zeitgleich eine Hand auf seine Stirn. Dieses Bild war so falsch, sein Kollege musste todkrank sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Zwar war Boerne ihm gestern Abend noch völlig fit vorgekommen, aber er kannte den Professor inzwischen gut genug um zu wissen, dass es ihn zwar selten erwischte, aber wenn, dann richtig - und vor allem innerhalb weniger Stunden.

Thiel hatte sich in den Sekundenbruchteilen von der Tür bis zum Stuhl schon auf vierzig Grad Fieber unter seinen Fingerspitzen eingestellt und war dementsprechend völlig verblüfft von der Tatsache, Boernes Stirn ganz normal temperiert, ja, eher etwas kühl als warm vorzufinden. Erst recht perplex war er, als Boerne seine Berührung mit einem langgezogenen Brummen quittierte, dann mit einem tiefen Atemzug den Kopf auf die andere Seite rollte, leise ein paar unverständliche Worte vor sich hingrummelte und sich wieder entspannte.
In dem Augenblick wurde Thiel klar, dass sein Kollege schlief. Und wie, er schlief offensichtlich tief und fest.

Erleichterung breitete sich in ihm aus, und als er Boerne nun genauer musterte, schalt er sich selbst einen Trottel. Der Professor sah in keiner Weise krank aus, nicht blass, nicht verschwitzt, nicht fiebrig... zwar hing er in seinem Stuhl wie ein Schluck Wasser in der Kurve, aber sein Gesicht spiegelte totale Entspannung, er wirkte regelrecht wohlig und zufrieden. Dass ihm das nicht gleich aufgefallen war, war schon fast peinlich! Aber gut, der Anblick war einfach zu überraschend gewesen.

Im gleichen Moment kam die Neugierde in Thiel durch. Warum um alles in der Welt schlief Boerne um diese Uhrzeit wie ein Murmeltier? Das passte überhaupt nicht zu dem energiegeladenen Professor, vor allem, wo er gestern Abend doch wirklich sehr früh von der Feier geflüchtet war. Als Thiel um elf herum ein Bier mit ihm hatte trinken wollen, war er schon nicht mehr dagewesen. Er war doch wohl nicht in die Rechtsmedizin gefahren und hatte die Nacht durchgearbeitet?? Doch genau so sah es aus, er trug unter dem Kittel eindeutig noch Anzughose und Hemd vom Vorabend und beiden Kleidungsstücken sah man an, dass sie nicht mehr taufrisch waren.
Aber warum um alles in der Welt? Der Kommissar wusste genau, dass in der Nacht keine Leiche gefunden worden war. Schließlich hatten alle Kollegen ungestört zusammen gefeiert, weder sein Team, noch die Jungs vom Drogendezernat oder von der Sitte hatten ausrücken müssen.
Nun, das würde er schon noch klären.

Er versuchte, Boernes Oberkörper wieder etwas mehr auf seinen Stuhl zurückwuchten und ächzte unter der Last: „Boerne, jetzt wachen Sie mal auf.“ Aber mehr als ein unwilliges Grunzen kam nicht dabei heraus.
Kurz überlegte er, ob er - wie wenige Monate zuvor recht erfolgreich getestet - ein Glas kalten Wassers über dem Schlafenden ausgießen sollte. Aber von der Idee nahm er dann doch lieber wieder Abstand. Die Laune seines Nachbarn war nach der Aktion wirklich unerträglich gewesen, das würde Thiels Kopf heute Morgen sicher nicht guttun. Abgsehen davon hatte er zwar ein Waschbecken in seinem Rücken, aber kein Glas.
Also versuchte er es zuerst noch mal auf die gute, altmodische Art mit einem direkt neben Boernes Ohr gebrüllten: „AUFWACHEN!!!“

Der Professor zuckte zusammen und begann dann, sich mit einem langgezogenen Seufzen zu regen. Nur um gleich darauf in seinen Stuhl zurückzusinken und weiterzuschlafen.
Thiel seufzte entnervt.
„Boerne, Sie olle Penntüte! Wir waren verabredet!“ Er begann, den Professor so kräftig an der Schulter zu schütteln, dass dessen Kopf auf der Arbeitsplatte hin und her ruckelte. Doch er unterbrach diese Aktion verblüfft, als er plötzlich in Boernes Gesicht etwas glitzern sah. Überrascht beugte er sich vor. Das konnte doch nicht stimmen, er hatte wohl noch zu viel Restalkohol im Blut. Die Party war schon ziemlich feucht-fröhlich gewesen…  doch das Bild blieb. In Boernes Bart, nahe der Lippen, glitzerte etwas. Kleine silbrige Punkte reflektierten das Licht, je nachdem, wie es darauf fiel. War das Glitter?? Ja. Eindeutig.
Er konnte ein amüsiertes Schnauben nicht unterdrücken. Wie um alles in der Welt kam Glitter in Boernes Bart?
Ohne darüber nachzudenken, was er da gerade tat, scannte Thiel das Gesicht des allmählich aufwachenden Mannes jetzt genauer. Und seine Augenbrauen wanderten immer weiter nach oben, als er noch mehr entdeckte. Auch in den Haaren an Boernes Schläfen fanden sich allerhand der reflektierenden kleinen Metallplättchen. Und im Haaransatz im Nacken auch noch… da waren sogar ziemlich viele, ein Streifen wanderte bis in den Hemdkragen hinein.

Kopfschüttelnd richtete Thiel sich wieder auf  und während er den Rechtsmediziner dabei beobachtete, wie er langsam zu sich kam und unbeholfen versuchte, sich in seinem Stuhl aufzurappeln, grübelte er darüber nach, wie das Glitzerzeug in Boernes Gesicht gekommen sein konnte.
Sein Gedankengang wurde allerdings unterbrochen, als das Geräusch der sich öffnenden Schiebetür zu ihnen drang und sich schnelle, leichte Schritte näherten.
Und in dem Moment fiel ihm die Kinnlade herunter, denn mit einem Male hatte er ein Bild vor Augen. Ein Bild von einer kleinen Frau, geradezu zauberhaft verkleidet, die am Vorabend viele Blicke auf sich gezogen hatte. Nicht zuletzt auch Boernes; wobei sie die schon seit Jahren auf sich zog, auch ohne Kostümierung und Glitter im Gesicht.
Aber gestern hatte sie es offensichtlich endlich bemerkt.

Thiels Grinsen war so breit, er hatte das Gefühl, es würde sein Gesicht in zwei Hälften teilen. Er konnte es beim besten Willen nicht verstecken, auch nicht, als eine zwar ebenfalls eindeutig übernächtigte, aber trotzdem strahlende Frau Haller mit einem beschwingten „Guten Morgen zusammen!“ in das Labor trat und dann verwundert ob des Anblicks, der sich ihr bot, stehenblieb. „Was ist denn hier los?“ Ihre Fröhlichkeit verschwand jäh, eindeutig besorgt huschte ihr Blick von Thiels Feixen zu ihrem alles andere als amüsiert wirkenden Vorgesetzten. Schnell trat sie heran und beugte sich zu ihm herab. „Chef? Alles ok?“
Boerne, der inzwischen wieder halbwegs aufrecht saß, brummte nur gequält, schob sich die Brille auf den Kopf und rieb sich die Augen.
„Ich glaub‘, seine Nacht war zu kurz“, übernahm Thiel stattdessen die Antwort. „Und ziemlich anstrengend, so wie es aussieht.“ Um nichts in der Welt hätte er sich diese kleine Stichelei verkneifen können.

Frau Haller war vollständig auf Boerne fixiert und legte für einen Moment behutsam eine Hand auf seine Stirn. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal realisiert, dass Thiel diese Bemerkung in berechnender Absicht hatte fallen lassen und reagierte dementsprechend gar nicht auf ihn. Doch die zarte Röte, die nichtsdestotrotz langsam aus ihrem Kragen aufstieg und sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, sagte mehr als tausend Worte.
Der Professor selber hingegen hatte bei Thiels Worten abrupt in seiner Bewegung innegehalten, dann die Hände sinken lassen und musterte ihn nun stirnrunzelnd.
Thiel konnte nicht anders, als weiterhin zu grinsen und er sah in den Augen seines Nachbarn Erkenntnis aufblitzen. Die Erkenntnis, dass er durchschaut worden war.

Boerne kommentierte das aber mit keinem Wort, sondern wandte sich seiner Assistentin zu. „Alles gut, Alberich“, murmelte er leise. „Ich bin nur kurz eingenickt, das ist alles.“
Thiel schnaubte über diese, wie er fand, Untertreibung des Jahres, Frau Haller dagegen lachte hell auf. „Eingenickt. Is‘ klar Chef.“ Sie blickte in die Runde. „Ich glaube, wir könnten alle einen Kaffee vertragen. Sie sehen auch so aus, als ob Sie gerade erst aus dem Bett gefallen wären, Herr Thiel.“

„Joa, da is‘ was dran.“ Passend zum Thema musste Thiel ein Gähnen unterdrücken. „Ein Kaffee wär jetzt nich' schlecht.“
Auch Boerne nickte zustimmend und wollte sich erheben, hielt aber gleich darauf in der Bewegung inne und verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Seine unbequeme Schlafposition schien sich gerade zu rächen.
Frau Haller lächelte mitfühlend und drückte ihn wieder zurück auf den Sitz. „Machen Sie mal langsam, Chef. Ich kümmere mich schon.“ Sie sah noch mal zu Thiel auf. „Sie beide wollten ja eh noch die Befunde durchgehen, oder? Wenn Sie damit durch sind, sollte der Kaffee fertig sein.“ Damit verschwand sie aus dem Raum.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, blickte der Professor, der seiner Assistentin hinterhergesehen hatte, zu ihm auf; und noch nie hatte der Kommissar Boerne so gesehen. Seine Gesichtszüge waren gerade gänzlich unbewacht und einfach nur ehrlich. Da spielgelten sich natürlich noch die Reste seiner Müdigkeit, aber vor allem pures Glück. Außerdem allerdings eine gewisse Verlegenheit, eine Bitte. „Thiel…“, krächzte er heiser und brach dann ab; öffnete den Mund und schloss ihn doch wieder. So eloquent der Mann vor ihm sonst auch war, im Augenblick fehlten ihm die Worte.
Doch Thiel wusste ganz genau, was in ihm vorging. „Boerne, ich werde kein Wort darüber verlieren, bis Sie selber es tun“, beruhigte er ihn mit leiser Stimme.
Nun war es eindeutig Dankbarkeit, die sich auf dem Gesicht seines Kollegen abzeichnete; allerdings machte sie bald schon ungläubiger Neugierde Platz. „Aber wie um alles in der Welt…?“
Thiel ließ ihn gar nicht ausreden und winkte nur ab. „Mann Boerne, seit Jahren warte ich auf diesen Tag. Glauben Sie ernsthaft, das könnte mir entgehen?“
Grinsend packte er den Rechtsmediziner unter der Achsel, um ihn vom Stuhl hochzuhelfen und offensichtlich noch verdattert über diese Bemerkung ließ der größere Mann sich tatsächlich auf die Füße ziehen. Doch dann schüttelte er den Kopf. „Thiel, bitte.“ Er klang ungewohnt leise und ernst.
Thiel lächelte ihn an, steckte die Hände in die Jackentaschen und musterte ihn von oben bis unten. Schließlich erklärte er ihm genüßlich: „Herr Professor, bei Ihnen glänzen im Moment nicht nur die Augen."

Damit drehte er sich um und ließ seinen Kollegen stehen. Boerne würde schon noch drauf kommen. Spätestens, wenn er mal mit Verstand in den Spiegel sah.

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